Al-Mizan - Auslegung des
Qur’an
Führe uns den
geraden Weg (6), den Weg derer, denen Du Gnade erwiesen hast,
nicht den (Weg) derer, die (Deinen) Zorn erregt haben und
nicht den (Weg) der Irregehenden. (7)
Die Bedeutung von “al-Hidāyah“
(Führung, Rechtleitung) kann leicht verstanden werden,
wenn wir zunächst einmal die Wichtigkeit des “Weges“ in
Betracht ziehen. “Aṣ-Ṣirāt“
(Weg, Pfad) kann synonym mit „aṭ-Ṭarīq“
und „as-Sabīl“ verwendet werden.
Allah bezeichnet in den oben
angeführten Versen, den Weg (aṣ-Ṣirat)
zunächst als geraden/richtigen Weg (al-Mustaqīm) und erklärt
dann, dass es der Weg derjenigen ist, denen Allah seine
speziellen Gnaden gewährt. Dieser Weg, dessen
Beschaffenheit also gerade (al-Mustaqīm) ist und der
eine Rechtleitung für die Diener darstellt, ist gleichzeitig
auch das Ziel der Dienerschaft und Anbetung (arab.: Ibadat).
Das bedeutet, dass der Diener von seinem Herrn erbittet, dass
er seine Dienerschaft und Anbetung nur innerhalb der Grenzen
dieses Weges – frei von jeglichem Mangel und jeglicher
Unreinheit – ausführen darf.
Allah hat in Seinem Buch angeführt, dass
Er einen Pfad für die ganze Menschheit, mehr noch – für die
gesamte Schöpfung – festgelegt hat, einen Pfad, auf dem sie
alle sich fortbewegen. Er sagt: „Du Mensch! Du strebst mit
aller Mühe Deinem Herrn zu; und du sollst Ihm begegnen“
(84:6); „...und zu Ihm ist die Heimkehr“ (64:3); „...Wahrlich,
zu Allah kehren alle Dinge zurück“ (42:53).
Im Heiligen Qur´an finden sich viele
solcher Verse, welche darauf hinweisen, dass sich Alle auf
einem vorgeschriebenen Pfad fortbewegen und dass ihr Ziel
Allah ist. Diesen Weg betreffend, sagte Allah, dass es sich
dabei eigentlich um zwei verschiedene Wege handle, nicht nur
um einen: „Habe ich euch, ihr Kinder Adams, nicht geboten,
nicht Satan zu dienen – denn er ist euer offenkundiger Feind,
sondern Mir alleine zu dienen? Das ist der gerade Weg“
(36:60-61).
Demnach gibt es also einen „geraden
Weg“ und es gibt auch einen anderen Weg. An anderer Stelle
sagte Er: „... so bin Ich nahe; Ich höre den Ruf des
Rufenden, wenn er Mich ruft. Deshalb sollen sie auf Mich hören
und an Mich glauben. Vielleicht werden sie den rechten Weg
einschlagen“ (2:186); „...Bittet Mich; Ich will eure Bitte
erhören. Die aber, die zu überheblich sind, um Mir zu dienen,
werden unterwürfig in das Höllenfeuer eintreten“ (40:60).
Es ist offensichtlich, dass Allah Seinen Dienern nahe ist und,
dass der Weg, der zu Seiner Nähe führt, jener, der
Dienerschaft und des Gebets ist. Vergleichen wir es mit einer
Beschreibung derjenigen, die nicht an Ihn glauben:
„...diese werden von einem weit entfernten Ort angerufen“
(41:44). Daraus ergibt sich deutlich, dass die Stellung
der Ungläubigen
ein weit entfernter Ort ist. Demnach gibt es also zwei Wege zu
Allah, einen Weg der Nähe – den Weg der Gläubigen (an Gott) –
und einen Weg der Distanz –den Weg der Anderen. Das ist der
erste Unterschied zwischen den beiden Wegen.
Der zweite Unterschied: „Wahrlich,
denjenigen, die Unsere Zeichen für Lüge erklären und sich mit
Hochmut von ihnen abwenden, werden die Pforten des Himmels
nicht geöffnet werden...“ (7:40). Was ist die Funktion
einer Pforte oder Türe? – Autorisierten Personen den Durchgang
zu ermöglichen, während unautorisierten Personen der Zutritt
verweigert wird. Dieser Vers weist uns darauf hin, dass es
einen Durchgang gibt, eine Art Passage, von den tieferen
Ebenen zu den oberen Höhen. Auf der anderen Seite sagt Allah:
„ ...denn der, auf den Mein Zorn niederfährt, geht unter“
(20:81). Das Wort, das hier mit “untergehen“ übersetzt
wurde, bedeutet wortwörtlich “hinunterfallen“. Daraus können
wir schließen, dass es noch eine weitere Passage gibt, und
zwar von den oberen Höhen hinunter zu den tieferen Ebenen. Und
Er sagt des Weiteren: „...Und wer den Unglauben gegen den
Glauben eintauscht, der ist gewiss vom rechten Weg abgeirrt“
(2:108). Allah verwendet hier den Begriff “Polytheismus“
für “abirren“.
Demnach sind die Menschen in drei
Kategorien eingeteilt: Erstens diejenigen, die sich in
Richtung der oberen Höhen fortbewegen – diejenigen, die an die
Zeichen Allahs glauben und die nicht zu überheblich sind, Ihm
zu dienen und Ihn anzubeten. Zweitens diejenigen, die
hinunterfallen, auf die tieferen Ebenen – diejenigen, auf die
Allahs Zorn niedergefahren ist. Drittens diejenigen, die vom
rechten Weg abgeirrt sind; sie sind die Verlorenen und
Verwirrten, die einmal in diese und einmal in jene Richtung
umherwandern. Der letzte Vers der Sure “die Eröffnende“, der
hier zur Diskussion steht, deutet auf jene drei Kategorien
hin: „Den Weg derer, denen Du Gnade erwiesen hast, nicht
den (Weg) derer, die (Deinen) Zorn erregt haben und nicht den
(Weg) der Irregehenden.“
Daraus können wir schließen, dass der
gerade Weg sich deutlich unterscheiden muss, von den beiden
letzteren Wegen. Denn ersterer ist der Weg der Gläubigen, der
Weg derjenigen, die nicht arrogant sind. Gleichzeitig, weist
uns der folgende Vers darauf hin, dass sich auch der gerade
Weg wiederum in unterschiedliche Zweige, man könnte sagen
unterschiedliche Fahrspuren, aufteilt: „...Allah wird die
unter euch, die gläubig sind, und die, denen Wissen gegeben
wurde, um Rangstufen erhöhen...“ (58:11). Dieser Vers
bedarf nun einiger weiterer Erläuterungen:
Jegliches Abirren vom Weg gleicht
Polytheismus (arab.: schirk) und umgekehrt, wie wir von
den Worten Allahs ableiten können: „...Und wer den
Unglauben gegen den Glauben eintauscht, der ist gewiss vom
rechten Weg abgeirrt“ (2:108). Das gleiche Thema behandelt
auch dieser Vers: „Habe ich euch, ihr Kinder Adams, nicht
geboten, nicht Satan zu dienen – denn er ist euer
offenkundiger Feind, sondern Mir alleine zu dienen? Das ist
der gerade Weg. Und doch hat er eine große Menge von euch
irregeführt“ (36:60-62).
Ebenso wird Polytheismus aus Sicht des
Qur´an als Ungerechtigkeit/Grausamkeit (arab.:ẓulm)
betrachtet und umgekehrt, so wie wir es auch von den Worten
Satans ablesen können, die er einst sprechen wird, nachdem das
Urteil über ihn und seine Anhänger verhängt werden wird:
„Ich habe es schon von mir gewiesen, dass ihr mich (Allah) zur
Seite stelltet. Den Ungerechten wird wahrlich eine
schmerzliche Strafe zu Teil sein“ (14:22). An anderer
Stelle wird Ungerechtigkeit mit Abirren gleichgesetzt: „Die
da glauben und ihren Glauben nicht mit Ungerechtigkeiten
vermengen – sie sind es die Sicherheit haben und die
rechtgeleitet werden“ (6:82). Es sollte hier nochmals
darauf hingewiesen werden, dass nur jene rechtgeleitet werden
können und vor dem Abirren – und der daraus
resultierenden Strafe – bewahrt werden können, die
ihren Glauben nicht mit Ungerechtigkeit vermengen.
Wenn wir diese Verse nun in ihrem
Zusammenspiel betrachten, dann wird es deutlich, dass Abirren,
Polytheismus und Ungerechtigkeit alle den gleichen Effekt
haben. Sie sind alle drei miteinander verbunden. Deswegen wird
auch behauptet, dass jede dieser Eigenschaften durch die
anderen beiden identifiziert werden kann. So bezeichnen diese
drei Begriffe praktisch gesehen ein und dasselbe, auch wenn
sie sich in ihrer wörtlichen Bedeutung unterscheiden.
Daraus folgt nun, dass der “gerade Weg“
ein anderer ist, als der Weg derjenigen, die in die Irre
gegangen sind. Es ist ein Weg, der weit weg führt von
Polytheismus und Ungerechtigkeit/Grausamkeit. Wer sich auf
diesem Weg befindet, der wird nicht in die Irre gehen – weder
was die verborgenen Aspekte seiner Gedankens- und Glaubenswelt
angeht (wie versteckter Unglaube oder all jene heimlichen
Gedanken, die die Ungunst von Allah erwirken), noch was die
offenkundigen Aspekte seiner Handlungen betrifft (wie etwa mit
Hilfe Sünden zu begehen oder ein Mangel an Gehorsam). Dieser
Weg ist der Weg des wahren Monotheismus, der sowohl im
Glauben, als auch im Handeln seinen Ausdruck findet. „Was
sollte also nach der Wahrheit übrig bleiben, als der Irrtum?“
(10:32).
Der oben bereits angeführte Vers: „Die
da glauben und ihren Glauben nicht mit Ungerechtigkeiten
vermengen – sie sind es die Sicherheit haben und die
rechtgeleitet werden“ (6:82), passt nun genau zu diesem
Thema. Dieser Vers garantiert Sicherheit auf dem Weg und
verspricht die vollkommene Rechtleitung. Dieses Versprechen
lässt sich von der Tatsache ableiten, dass das Wort, dass hier
mit “rechtleiten“ übersetzt wurde, eigentlich ein Nomen
Agentis
ist (arab.: “muhtadūn“ bzw. diejenigen, die
rechtgeleitet werden) und die Linguisten sagen, dass solch
eine Konstruktion für gewöhnlich auf die Zukunft hinweist. Das
ist nun eine der Eigenschaften des geraden Weges.
Allah hat in folgendem Vers jene, denen
Er Seine göttliche Gnade und Gunst erwiesen hat wie folgt
identifiziert: „Und wer Allah und dem Gesandten gehorcht,
soll mit denen sein, denen Allah Seine Huld gewährt, von den
Propheten, den Wahrhaftigen, den Bezeugenden (Märtyrern) und
den Rechtschaffenen; welch gute Gefährten!“ (4:69). Die
Bedeutung von Glauben und Gehorsam wird in den Versen kurz
davor erklärt, wo es heißt: „Doch nein, bei deinem Herren!
Sie sind nicht eher Gläubige, bis sie dich zum Richter über
alles machen, was zwischen ihnen strittig ist und dann in
ihren Herzen keine Bedenken gegen deine Entscheidung finden
und sich voller Ergebung fügen. Und hätten Wir ihnen
vorgeschrieben: `Tötet euch selbst oder verlasst eure Häuser!´
so würden sie es nicht tun, außer einige wenige von ihnen;
hätten sie aber das getan, wozu sie aufgefordert worden waren,
so wäre es wahrlich besser für sie gewesen und stärkend (für
ihren Glauben)“ (4:65-66).
Diejenigen, die wahrhaftig glauben, sind
aufrecht und stark in ihrer Dienerschaft und Hingabe, und
drücken dies sowohl durch ihre Worte als auch durch ihre Taten
und Handlungen aus, sowohl durch ihre äußere Erscheinung, als
auch durch das, was in ihnen verborgen ist. Dennoch werden
jene vollkommenen Gläubigen im Rang unter denjenigen stehen,
denen Allah seine Huld und Gnade erwiesen hat; deswegen sagte
Allah auch: „sie sind mit denjenigen...“ und
nicht „sie sind unter/von denjenigen...“. Sie
werden mit ihnen sein (im Jenseits) aber nicht von ihnen. Dies
wird durch den letzten Satz auch nochmals betont: „welch
gute Gefährten!“ Denn Gefährten bezeichnen offensichtlich
nicht sie selbst, sondern jemand anderen.
Es gibt noch einen anderen Vers, der
diesem in seiner Bedeutung sehr ähnlich ist. So heißt es im
Kapitel 57: „Und diejenigen, die an Allah und Seinen
Gesandten glauben, sind die Wahrhaftigen und die Bezeugenden
vor ihrem Herren; sie werden ihren Lohn und ihr Licht
empfangen...“ (57:19). Demnach werden die Gläubigen im
Jenseits in den Rang der Bezeugenden (Märtyrer) und der
Wahrhaftigen aufgenommen werden. Die Tatsache, dass sich dies
auf die nächste Welt bezieht, leitet sich aus den Worten
„vor/bei ihrem Herren“ ab und aus der Aussage: „die
werden ihren Lohn empfangen...“. Diejenigen, denen Allah
Seine Huld und Gnade erwiesen hat, sind die Leute des “geraden
Weges“ – und durch die Verbindung mit ihnen, wird der “gerade
Weg“ überhaupt erst sichtbar. Diese Menschen verfügen über ein
größeres Ansehen und einen höheren Rang, als diejenigen
Gläubigen, die ihren Glauben und ihre Handlungen von jeglichem
Abirren, von Polytheismus und Ungerechtigkeit gereinigt haben.
Wenn wir nun über all diese Verse in
ihrem Zusammenspiel betrachtet nachsinnen, so gelangen wir zu
dem Schluss, dass diese spezielle Gruppe von Gläubigen noch
immer existieren muss. Ihre Zeit ist noch nicht abgelaufen.
Denn wenn die Zeit dieser Gruppe von Dienern bereits
abgelaufen wäre, dann würden sie wohl unter diejenigen
– und nicht (Seite an Seite) mit denjenigen – gezählt
werden, denen Allah Seine Huld und Gnade erwiesen hat. Diese
speziellen Gläubigen wären dann bereits hinauf gestiegen, und
anstatt mit denjenigen zu sein, denen Allah seine Huld
erwiesen hat, wären sie bereits ein Teil von ihnen geworden.
Wahrscheinlich sind sie auch denjenigen
zuzurechnen, denen Allah wahres Wissen gewährt hat, so wie Er
sagt: „Allah wird die unter euch, die gläubig sind und die,
denen Wissen gegeben wurde, um Rangstufen erhöhen...“ (58:11).
Den Leuten des “geraden Weges“ werden herausragende Gnaden
gewährt, die noch wertvoller sind, als vollkommener Glaube und
Überzeugung. Das ist nun die zweite Eigenschaft des “geraden
Weges“.
Allah erwähnt im Qur´an immer wieder die
Begriffe: “aṣ-ṣirāṭ“
(der Pfad, der Weg) und “as-sabīl“ (der Weg). Er
schreibt Sich Selbst jedoch niemals etwas anderes zu, als den
einen einzigen “geraden Weg“ (arab.: aṣ-ṣirāt-ul-mustaqīm).
Wenn Er andererseits auch mehrere Wege beschreibt, die auf ihn
zurückzuführen sind: „Und diejenigen, die in Unserer Sache
wetteifern – Wir werden sie gewiss auf unseren Wegen
leiten...“ (29:69).
Ebenso hat Er “den geraden Weg“ (aṣ-ṣirāt-ul-mustaqīm)
keinem Seiner Diener zugeschrieben. Die einzige Ausnahme ist
derjenige Vers, der hier zur Diskussion steht (1:7) und der
den geraden Weg als den Weg derer beschreibt, denen Gott Seine
Huld und Gnade erwiesen hat.
Dementgegen hat Er “den Weg“ (unter
Verwendung des arabischen Wortes: “Sabīl“) häufig mit
dem einen oder anderen Seiner auserwählten Diener assoziiert:
„Sprich: `Das ist mein Weg: Ich rufe zu Allah – ich und
diejenigen, die mir folgen, sind uns darüber im klaren´“
(12:108); „...und folge dem Weg, dessen, der sich Mir
zuwendet“ (31:15); „...den Weg der Gläubigen...“ (4:115).
All diese Beispiele sind ein Indiz dafür,
dass sich “der Weg“ (as-sabīl) von “dem geraden Weg“
(aṣ-ṣiraṭu´l-mustaqīm)
unterscheidet. So mag es vielfache unterschiedliche Wege
geben, die von verschiedenen auserwählten Dienern beschritten
wurden, die sich alle auf dem Pfad der Anbetung und Hingabe
fortbewegten; aber “der gerade Weg“ ist nur ein
einziger, worauf uns Allah mit folgenden Worten hingewiesen
hat: „wahrlich zu euch sind ein Licht von Allah und ein
klares Buch gekommen. Damit leitet Allah jene, die Seinen
Wohlgefallen suchen auf die Wege des Friedens, und Er führt
sie mit Seiner Erlaubnis aus den Finsternissen zum Licht und
führt sie auf einen geraden Weg“ (5:15-16).
Dieser Vers verweist uns nun einerseits
auf “die Wege“ (“sabīl“ im Plural) und andererseits auf
“den geraden Weg“ (“ṣirāṭ“
im Singular). Dafür mag es nun zwei Erklärungen geben.
Entweder ist der “gerade Weg“ eins mit
“den Wegen“, oder “die Wege“ führen so weit, bis sie
irgendwann aufeinander treffen und sich vereinigen in den
einen “geraden Weg“. Aber es gibt auch noch einen anderen
Unterschied zwischen dem geraden Weg (ṣirāṭ)
und dem Weg (sabīl). Allah sagt: „Und die meisten
von ihnen glauben nicht an Allah, ohne (Ihm) Götter zur Seite
zu stellen“ (12:106). Bemerkenswert ist an dieser Stelle,
wie gesagt wird, dass auch viele der Gläubigen, Allah andere
Götter beigesellen. Das zeigt uns, dass eine bestimmte Art von
Polytheismus (was mit Abirren gleichgesetzt werden kann) mit
dem Glauben (und dieser ist einer der “Wege“) ko-existieren
kann. Anders ausgedrückt, dieser Weg kann potentiell mit
Polytheismus ko-existieren, während das in Bezug auf den
“geraden Weg“ unmöglich ist, denn dieser wird unter anderem
dadurch definiert, dass es nicht der Weg derjenigen ist, die
Abirren.
Jeder dieser Wege hat den einen oder
anderen Vorzug oder auch Makel aufzuweisen, aber mit dem
geraden Weg verhält es sich anders. Jeder dieser Wege ist Teil
des geraden Weges, aber unterscheidet sich von den anderen
Wegen. Das kann sowohl von den oben angeführten Versen
abgeleitet werden, als auch von etlichen anderen, wie
beispielsweise folgende: „Mir alleine zu dienen; Das ist
der gerade Weg“ (36:61). „Sprich: `Wahrlich, mich hat mein
Herr auf einen geraden Weg rechtgeleitet – zu dem rechten
Glauben, dem Glauben Abrahams, des Aufrechten´...“ (6:161).
Die Anbetung und die Religion sind allen
Wegen gleich, und sie sind auch “der gerade Weg“. Die
Beziehung zwischen dem geraden Weg und den Wegen Allahs ist
die Beziehung zwischen Seele und Körper. Während des Lebens
ist der Körper vielerlei Veränderungen ausgesetzt, er
verändert sich von Tag zu Tag – vom Säuglingsalter hin zur
Kindheit; vom Wachstumsalter zur Jugend, von den mittleren
Jahren hin bis zur Zeit des Alters und schließlich der
Senilität. Aber die Seele bleibt immer die gleiche, und ist
immer eins mit dem Körper in jeder Phase des Lebens. Manchmal
wird der Körper von unerwünschten Erscheinungen heimgesucht,
die die Seele niemals akzeptieren würde, wenn sie unabhängig
vom Körper wäre. Aber die Seele – jene Schöpfung von Allah,
aus der Er den Menschen hervorbrachte – verfällt niemals. Und
doch bleibt der Körper während all dieser unterschiedlichen
Stadien eins mit der Seele und immer mit ihr verbunden.
Ebenso sind die Wege Allahs eins mit dem
geraden Weg; Aber manchmal leidet einer dieser Wege – der Weg
der Gläubigen, der Anhänger des Propheten, derjenigen, die
sich Allah zuwenden oder auch andere Wege – unter irgendeiner
Art von Verfall oder Verderb, obwohl der gerade Weg absolut
immun ist, gegen jede Art von Mangel, Defekt oder
Unvollkommenheit. Wir haben gesehen, wie einer dieser Wege,
der Weg des Glaubens, sich manchmal mit Polytheismus oder
einer anderen Art des Abirrens vermengen kann, aber das kann
niemals mit dem geraden Weg passieren. Zusammengefasst kann
also gesagt werden, dass die Wege von unterschiedlichen Graden
der Nähe und der Distanz, der Sicherheit und der Unsicherheit,
der Reinheit und der Unreinheit sind, aber alle sind sie
integriert in dem einen geraden Weg, sind Teile dieses Weges
oder eins mit ihm.
Allah hat diese Gegebenheit in einer
Parabel über Wahrheit und Falschheit angeführt: „Er sendet
Wasser vom Himmel herab, so dass die Täler nach ihrem Maß
durchströmt werden, und die Flut trägt Schaum auf der
Oberfläche. Und ein ähnlicher Schaum ist in dem, was sie im
Feuer aus Verlangen nach Schmuck und Gerät erhitzen. So
verdeutlicht Allah Wahrheit und Falschheit. Der Schaum aber,
der vergeht wie die Blasen; das aber, was den Menschen nützt,
bleibt auf der Erde zurück. Und so prägt Allah die
Gleichnisse“ (13:17).
Dieser Vers weist darauf hin, dass sich
die Herzen und die Gemüter in ihren Fähigkeiten und in ihren
Kapazitäten, göttliches Wissen zu empfangen und spirituelle
Vervollkommnung zu erreichen, unterscheiden, auch wenn alle
gleichermaßen an der göttlichen Substanz teilhaben (eine
nähere Erläuterung dazu findet sich im Kapitel 13 des
Gesamtwerks). Das war nun die dritte Eigenschaft des geraden
Weges.
Aus der vorangegangenen Analyse lässt
sich nun schließen, dass der gerade Weg eine Art Aufseher oder
Kontrollorgan für all die verschiedenen Wege ist, die zu Allah
führen. Wir können sagen, dass ein Weg zu Allah, einen
Menschen auch wirklich zu Ihm führt, solange dieser Weg eins
bleibt mit dem geraden Weg und nicht von diesem abweicht, der
gerade Weg aber, führt immer zu Allah, bedingungslos, direkt
und ohne wenn und aber. Deswegen hat Allah den geraden Weg
auch „aṣ-ṣirāṭu´l-mustaqīm“
genannt.
Aṣ-ṣirāṭ
selbst bedeutet wörtlich “ein deutlicher, klarer Weg“ und
lässt sich ableiten von “saraṭṭu
sarṭan“ (Ich habe es
zur Gänze aufgenommen, hinuntergeschluckt). Mit anderen
Worten, dieser klare Weg nimmt diejenigen, die ihn beschreiten
zur Gänze in sich auf ohne sie wieder loszulassen.
Al-mustaqīm (gerade bzw.
zielgerichtet) bedeutet wörtlich „jemand, der auf seinen
eigenen Beinen steht und über vollkommene Kontrolle über sich
selbst und jene Dinge, die an ihm hängen, verfügt.“ So
handelt es sich dabei um etwas, das keinerlei Veränderung,
Schwankung oder Wechsel ausgesetzt ist. Daraus ergibt sich
nun, dass „aṣ-ṣirāṭu´l-mustaqīm“
wie folgt definiert werden kann:
Der gerade Weg ist jener Weg, der niemals
darin versagt denjenigen, der ihn beschreitet, zu seinem Ziel
zu führen und rechtzuleiten.
Allah sagt:“ Was aber diejenigen
angeht, die an Allah glauben und an Ihm festhalten – diese
wird Er in Seine Barmherzigkeit und Huld aufnehmen und sie auf
dem geraden Weg zu Sich führen“ (4:175). Offensichtlich
handelt es sich hierbei um eine Führung und Rechtleitung, die
niemals versagt und die immer erfolgreich verläuft und ihr
Ziel erreicht.
An anderer Stelle sagte Er: „Wen Allah
aber recht leiten will, dem weitet Er die Brust für den Islam;
und wen Er in die Irre gehen lassen will, dem macht Er die
Brust eng und bedrückt, wie wenn er in den Himmel emporsteigen
würde. So verhängt Allah die Strafe über jene, die nicht
glauben. Und dies ist der Weg deines Herren, ein gerader Weg“
(6:125-126). Das ist also der Weg Allahs, der sich niemals
ändert und der niemals darin versagt, denjenigen, der ihm
folgt, ans Ziel zu bringen.
Und des Weiteren sagt Er: „ Er sprach:
`Dies ist ein gerader Weg, den Ich gewähre. Wahrlich, du
sollst keine Macht über Meine Diener haben, bis auf jene, der
Verführten, die dir folgen´“ (15:41-42). Dieser Vers
verdeutlicht ebenfalls dass es sich beim geraden Weg um einen
fixen Kurs handelt, der niemals Schwankungen oder Abweichungen
unterliegt. In diesem Zusammenhang vermittelt dieser Vers die
gleiche Idee, die auch in folgendem Vers enthalten ist: „
Aber in Allahs Vorgehen wirst du nie eine Änderung finden; und
in Allahs Verfahren wirst du nie einen Wechsel finden“
(35:43).
Diese Diskussion hat nun folgende Punkte
verdeutlicht:
Erstens: Es gibt viele
verschiedene Wege zu Allah, die sich voneinander in ihrer
Vollkommenheit und Perfektion, ihrer Leichtigkeit und ihrer
Geradlinigkeit unterscheiden. Alles hängt ab von der
respektiven Nähe oder Distanz eines bestimmten Weges – wie der
Weg der Hingabe, des Glaubens, der Anbetung, der Reinheit der
Absicht oder der Bescheidenheit und Demut vor Allah – von der
ursächlichen Realität – dem geraden Weg. Manche der Wege
führen auch in die entgegen gesetzte Richtung, wie Unglaube,
Polytheismus, Untreue, das Überschreiten der Grenzen und des
rechten Maßes, Sünden zu begehen usw... Allah sagte: „Und
für alle gibt es Rangstufen gemäß dem, was sie getan haben,
auf dass Er ihnen ihre Taten voll zurück zahle; und kein
Unrecht soll ihnen widerfahren“ (46:19).
Gleiches gilt nun auch für das
spirituelle Wissen, das der menschliche Geist von Allah
empfängt. Es variiert in Graden, entsprechend der geistigen
und spirituellen Kapazität des Empfängers und erscheint getönt
durch die Farben der Visionen des Betrachters. Auf diese
Tatsache wird auch in der qur´anischen Parabel hingewiesen,
die zuvor bereits zitiert wurde: „Er sendet Wasser vom
Himmel herab, so dass die Täler nach ihrem Maß durchströmt
werden...“ (13:17).
Zweitens: Der gerade Weg
kontrolliert, lenkt und beaufsichtigt alle anderen Wege.
Ebenso besitzen „die Leute des geraden Weges“ (die von Allah
fest darin begründet wurden) eine vollkommene Autorität
darüber, die anderen Diener Allahs rechtzuleiten und zu
führen.
Allah sagt: „Welch gute Gefährten!“
(4:96); „Euer Beschützer ist wahrlich nur Allah und Sein
Gesandter und jene Gläubigen, die das Gebet verrichten
(aufrecht halten) und die Zakāt entrichten, während sie sich
vor Allah verneigen“ (5:55). Der letzte dieser Verse wurde
in Bezug auf Imam `Alī, dem Befehlshaber der Gläubigen (a.)
offenbart, wie aus etlichen Überlieferungen bekannt ist, die
als mutawātir
eingestuft werden.
Und Imam `Ali (a.) war auch der erste,
der dieses Tor des Islam geöffnet hat. Im Detail werden wir
dieses Thema noch im fünften Kapitel (des Gesamtwerks)
behandeln.
Drittens: Die Bedeutung der
Führung/Rechtleitung auf den Weg ist abhängig von der
Bedeutung des Weges selbst. Al-Hidāyah bedeutet “die
Führung, die Leitung“. Dieses Wort kann zwei Objekte annehmen,
entweder ohne Präposition (wie in der Sprachvariation des
Ḥidschāz) oder mit
der Präposition ilā (zu, nach) vor dem zweiten Objekt
(wie in der Sprachvariation anderer Stämme). Dieses Detail
stammt aus dem aṣ-Ṣiḥāḥ
von al-Dschawharī und ist als korrekt zu bewerten.
Bevor diese Überlegungen jedoch weiter
ausgeführt werden, sollte zunächst noch eine falsche
Vorstellung beseitigt werden. Denn manche Leute glauben, dass
die Bedeutung von “Führung/Rechtleitung“ sich verändert,
abhängig davon, ob die Präposition ilā dem zweiten
Objekt vorausgeht oder nicht. Falls keine solche Präposition
existiert, dann ist die Bedeutung von “Führung/Leitung“ ihrer
Meinung nach “ans Ziel zu bringen“; wenn allerdings dem Objekt
ein ilā vorangestellt ist, dann bedeutet es “den Weg
zeigen“. Um diese Auffassung zu untermauern, führen sie
folgende Verse an: „Wahrlich, du kannst dem den Weg nicht
weisen, den du liebst; Allah aber weist dem den Weg, dem Er
will“ (28:56). Dieser Vers, in dem die Verben „du
kannst nicht den Weg weisen“ und „Er weist den Weg“
ohne Präposition verwendet wurden, würde demnach besagen, dass
der Prophet nicht führen konnte, wenn er wollte. Aber es ist
bekannt, dass er während seines gesamten Lebens die Menschen
geleitet und ihnen den Weg zu Allah gezeigt hatte. Deswegen
muss wohl das, was hier verneint wurde, die andere Bedeutung
sein. Was dieser Vers zum Ausdruck bringt wäre dann folgendes:
„Du kannst nicht wen du willst ans spirituelle Ziel bringen,
sondern alleine Allah ist es, Der zu diesem Ziel bringt, wen
Er will.“
Dieser Unterschied in der Bedeutung des
Wortes wird noch deutlicher ersichtlich, wenn wir folgenden
Vers betrachten: „...und Wir würden sie sicher auf den
geraden Weg leiten“ (4:68). In diesem Fall wurde das Verb
ohne jegliche Präposition verwendet und es bezieht sich auf
die göttliche Rechtleitung – im Sinne der Beförderung ans
Ziel. Mit folgenden Worten adressiert Allah den Propheten:
„Wahrlich, du leitest sie auf den geraden Weg“ (42:52).
Hierbei folgt auf das Verb die Präposition ilā. Dieser
Satz schreibt dem Propheten die Aufgabe der
Rechtleitung/Führung zu – im Sinne von “den Weg
zeigen/weisen“.
Der Argumentation der Vertreter dieser
Auffassung zu Folge, verdeutlichen diese drei Verse gemeinsam
betrachtet, dass, wenn “Führung/Leitung“ die Bedeutung von “an
ein Ziel bringen“ trägt, das zweite Objekt keinerlei
Präposition annimmt; Wenn es hingegen in der Bedeutung “den
Weg zu zeigen“ verwendet wird, dann ist dem Objekt ein ilā
vorangestellt.
Diese Auffassung wird vom Qur´an selbst
allerdings nicht unterstützt. Allah zitiert einen Gläubigen
aus dem Volke Pharaos: „O mein Volk, folgt mir! Ich will
euch zum Weg der Rechtschaffenheit leiten“ (40:38). An
dieser Stelle wird im arabischen Text keine Präposition
verwendet, dennoch ist die Bedeutung in diesem Fall nicht “ans
Ziel zu bringen“, sondern “den Weg zu zeigen“. Worauf der
zuvor erwähnte Vers 28:56 („Wahrlich, du kannst dem den Weg
nicht weisen, den du liebst; Allah aber weist dem den Weg, dem
Er will.“) hinweist, ist die Wirklichkeit und
Vollkommenheit der Rechtleitung. Dieser Vers zeigt, dass der
Prophet seinem Volk nicht die vollkommenste Stufe, die
absolute Wirklichkeit der Rechtleitung geben kann, denn dies
ist eine Aufgabe, die Allah alleine Sich Selbst vorbehalten
hat.
Zusammengefasst können wir nun sagen,
dass die Bedeutung von “Führung/Rechtleitung“ nicht von der
Präposition ilā abhängig ist, die dem Objekt
vorangestellt werden kann oder auch nicht. In beiden Fällen
ist die Bedeutung ein und dieselbe.
Al-Hidāyah bedeutet demnach “das
Führen“, “das Leiten“, “das Ziel zu zeigen, indem man den Weg
weist“ oder “ans Ziel zu bringen“. Diese Art der Führung und
Rechtleitung ist in ihrer vollen Wahrheit, alleine Allah
vorbehalten. Er leitet Seine Diener indem Er Gründe erwirkt,
die sie auf ihre Bestimmung hinweisen und sie zu ihrem
spirituellen Ziel führen.
Und so sagt Er: „Wen Allah aber recht
leiten will, dem weitet Er die Brust für den Islam...“ (6:125)
„...dann erweicht sich ihre Haut und ihr Herz zum Gedenken
Allahs. Das ist die Führung Allahs; Er leitet damit recht, wen
Er will...“ (39:23). Dem Verb, das hier mit “erweichen“
(biegsam, geschmeidig werden) übersetzt wurde, folgt die
Präposition ilā (zu) („zum Gedenken Allahs“),
was dem Verb eine Bedeutungsnuance im Sinne von
Neigung/Absicht verleiht. Führung/Rechtleitung ist demnach
dann so zu verstehen, dass Allah in den Herzen eine besondere
Neigung oder Fähigkeit entstehen lässt, die es dahingehend
bewegt – und es erweicht und biegt wie Metall in der Schmiede
– Allah zu gedenken und in diesem Gedenken Ruhe und
Gelassenheit zu finden.
Zuvor wurde bereits erwähnt, dass es
viele Wege gibt, die zu Allah führen. Infolgedessen würde sich
die Art der Führung für einen der Wege von der eines anderen
Weges unterscheiden. Denn jeder Weg verfügt über eine
spezielle, ihm zugehörige Anleitung. Auf diese Vielfalt wird
auch in einem Qur´an-Vers hingewiesen: „Und diejenigen, die
in Unserer Sache wetteifern – Wir werden sie gewiss auf
unseren Wegen leiten. Wahrlich, Allah ist mit denen, die Gutes
tun“ (29:69).
Der eine wetteifert und strebt auf dem
Wege Allahs, während der Andere für Allah selbst wetteifert
und strebt. Zwischen diesen beiden besteht ein großer
Unterschied. Der erstere versucht den Weg möglichst sicher und
frei von jeglichen Gefahren und möglichen Blockaden zu halten.
Die Aufmerksamkeit des Letzteren hingegen ist alleine auf
Allah selbst gerichtet. Es ist jener Letztere, der in diesem
Vers gelobt wird – er strebt nach Allah, strengt sich an und
wetteifert für ihn alleine; deswegen kommt Allah ihm entgegen,
hilft ihm und leitet ihn auf einem Weg, der seinen Fähigkeiten
und Kräften am Besten entspricht. Und so führt Er ihn von
einem Weg zum nächsten, bis Er ihn nur mehr an Sich allein
bindet.
Viertens: Der gerade Weg wird
bewahrt in den Wegen und durch die Wege von Allah – jene Wege,
die von unterschiedlichen Graden sind und von
unterschiedlichem Niveau. Allah führt die Menschen auf diese
Wege und so werden sie rechtgeleitet. Wie zuvor bereits
erwähnt, mag es sein, dass Allah den Menschen von einem Weg
zum nächsten führt, der auf einer höheren Stufe, einem höheren
Level liegt, und dann weiter wieder zu einem höheren Weg. Das
Gebet in jenem Vers „Führe uns auf den geraden Weg“
(das für diejenigen offenbart wurde, die Allah bereits dazu
geführt hat, Ihn anzubeten) weist deutlich darauf hin. Wenn
wir uns diesen Punkt vor Augen halten, dann würde kein Platz
für Einwände, wie den folgenden bleiben: Derjenige, der diese
Worte ausspricht wird bereits rechtgeleitet – wieso soll er
dann nochmals von neuem für diese Rechtleitung beten? Das
würde dem Versuch gleichen, etwas wiederzuerlangen, was
bereits in der eigenen Hand liegt, und das ist ein Ding der
Unmöglichkeit. Außerdem befindet sich der Betende ja bereits
auf dem geraden Weg – wie kann er also darum beten nochmals
auf denselben Weg geführt zu werden, auf dem er sich ja
bereits befindet? Ist das nicht unmöglich? Aber die Erklärung,
die oben bereits angeführt wurde, sollte den Nebelschleier
solcher Einwände zur Genüge lichten.
Ein weiterer Einwand: Unser Gesetz
ist das vollkommenste und das umfassendste aller Gesetze und
Richtlinien, die Allah seit Beginn der Menschheit herabgesandt
hat. Wieso sollen wir Allah also darum bitten, dass Er uns auf
den Weg derjenigen führt, die vor uns gelebt haben und denen
Er Seine Gnade erwiesen hat?
Antwort: Zugegebenermaßen ist das
Gesetz, dass von Muhammad
(s.) gebracht wurde vollkommener als jedes andere. Aber das
bedeutet noch lange nicht, dass alle jene, die diesem Gesetz
folgen, vollkommener sind, als diejenigen, die den älteren
Gesetzen folgen oder gefolgt sind. Ein durchschnittlicher
Anhänger der Gebote von Muhammad
(s.) kann niemals Propheten wie Nūḥ
(a.) oder Ibrāhīm (a.) übertreffen, auch wenn deren Gesetze
lange vor den islamischen Geboten herabgesandt worden sind. Es
ist eine Sache ein Gebot zu akzeptieren und demgemäß
Gefolgschaft zu leisten; doch es ist etwas ganz anderes,
spirituelle Vervollkommnung und absolute Ehrerbietigkeit und
Hingabe zu erreichen – indem man sich selbst vollkommen in die
Struktur der Gesetze und Gebote hineinwebt und mit ihrer Form
verschmilzt. Ein Gläubiger der vorangegangenen Nationen und
Völker, der einen hohen spirituellen Rang erreicht hat und der
zu einem Spiegelbild der göttlichen Eigenschaften wurde, ist
ganz gewiss besser und höher zu bewerten, als ein einfacher
Anhänger des Gesetzes von Muhammad (s.), der diese Stufe nicht
erreicht hat, obwohl der Letztere dem vollständigsten und
vollkommensten der Gesetze Gefolgschaft leistet.
Deswegen ist nichts dagegen einzuwenden,
dass ein Gläubiger von niederer Rangstufe (selbst wenn er dem
vollkommensten aller Gesetze folgt) zu Allah betet, ihm zu
helfen jenen Rang eines Gläubigen, der sich auf einer höheren
Stufe befindet, zu erreichen (selbst wenn dieser weniger
vollständigen Gesetzen und Geboten gefolgt war.)
Ein anderer Exeget hat auf diesen Einwand
in einer Art und Weise geantwortet, die als nicht frei von
Fehler zu beurteilen ist. Er sagte Folgendes: Die Religion von
Allah ist nur eine einzige, und das ist der Islam. Die
grundsätzlichen Wahrheiten – der Glaube an Einen Gott, das
Prophetentum und den Tag des jüngsten Gerichts und all das,
was diesem Glauben entspringt (und all das was die Konsequenz
aus diesem Glauben ist) – sind die gleichen in allen Gesetzen
und Offenbarungen, die von Allah herabgesandt wurden. Das
Gesetz des Islam verfügt jedoch über einen weiteren
vornehmlichen Unterschied, denn es umfasst alle Aspekte des
menschlichen Lebens und ist demnach das vollständigste und
umfassendste der Gesetze. Dieses Gesetz kümmert sich mehr um
das allgemeine Wohlergehen der Gesellschaft und es gründet
seine Fundamente auf Basis der Vernunft – in all ihren
Erscheinungsformen: Logik, Ermahnung, Argumentation und
Beweisführung. Alle göttlichen Religionen sind demnach gleich
und die grundsätzlichen Wahrheiten liegen allen gleichermaßen
zu Grunde. Die vorangegangenen Völker haben lediglich vor uns
diesen Weg beschritten. Deswegen, hat Allah uns geboten uns
dem Studium ihrer Angelegenheiten zu widmen, von ihnen
Lektionen zu lernen und ihnen in Bezug auf ihre spirituelle
Vervollkommnung zu folgen.
Der Autor sagt: Das Prinzip, auf der
diese Antwort fußt, läuft entgegen der Prinzipien, die uns im
Rahmen dieser Exegese des Qur´an leiten. Denn die Antwort
setzt voraus, dass sich die Wirklichkeit der grundsätzlichen
Wahrheiten in allen Religionen auf ein und derselben Ebene
befinden, dass es keinen Unterschied in ihren Abstufungen
gibt, dass die spirituelle Vervollkommnung und die religiösen
Tugenden überall von der gleichen Qualität wären. Dieser
Sichtweise entsprechend, wäre der höchststehende Prophet in
Bezug auf seine Existenz und seine natürliche Vollkommenheit
gleichzusetzen mit dem sich auf der niedrigsten Stufe
befindenden Gläubigen –zumindest soweit es seine Schöpfung
betrifft. Der Unterschied, falls es denn einen gäbe, würde
rein auf einer subjektiven Perspektive der Scharī`ah
basieren, aber nicht hinsichtlich der Schöpfung selbst.
Dieser Meinung nach, ist der Fall vergleichbar mit dem eines
Königs vis-à-vis seiner Untertanen – in ihrer menschlichen
Existenz unterscheiden sie sich nicht voneinander. Der einzige
Unterschied zwischen ihnen besteht nur in ihren subjektiven
vermeintlichen Positionen, die von den Menschen selbst
festgelegt wurden, aber keine unabhängige Existenz besitzen.
Diese Sichtweise basiert auf der Theorie
des Materialismus, die uns lehrt, dass nichts existiert, außer
der Materie. Metaphysische “Objekte“ hingegen verfügen über
keinerlei reale Existenz (oder zumindest sind wir nicht in der
Lage zu wissen, dass diese existieren). Die einzige Ausnahme
ist Gott selbst und wir glauben an Seine Existenz weil es die
logische Beweisführung erfordert. Diejenigen, die diese
Sichtweise akzeptiert haben, haben dies getan, weil sie unter
dem Einfluss der Naturwissenschaften standen und ihr ganzes
Vertrauen allein in ihre fünf Sinne investierten; oder weil
sie dachten, dass der gesunde Menschenverstand ausreichen
würde, um die göttlichen Worte erklären und interpretieren zu
können. Deswegen meinten sie wohl, dass sie darauf
verzichteten könnten tief über den Qur´an zu meditieren und
über dessen Worte und Inhalte nachzusinnen.
Wenn Gott es uns erlaubt, wollen wir an
anderer Stelle noch mehr Licht auf dieses Thema werfen.
Fünftens: Die Leute des geraden
Weges stehen in ihrem Rang höher, als Andere und ihr Weg ist
erhaben über die Wege der Anderen. Das ist so aufgrund ihres
Wissens, und nicht nur aufgrund ihrer tugendhaften und
rechtschaffenen Handlungen. Denn sie besitzen ein Wissen über
die göttlichen Eigenschaften, das für die Anderen verborgen
ist. (Zuvor wurde bereits erwähnt, dass die Perfektion von
tugendhaften und rechtschaffenen Handlungen auch auf anderen,
weniger vollkommenen Wegen als dem geraden Weg, zu finden ist.
Deswegen können in dieser Angelegenheit die Taten und
Handlungen nicht als Kriterium herangezogen werden, durch die
die Auszeichnung und Überlegenheit der Leute des geraden Weges
gegenüber dem Rest der Menschen festgelegt und bestimmt werden
kann). Die Frage, die sich hier nun stellt, betrifft die Art
und die Wesenheit dieses Wissens und wie es erworben werden
kann. Doch werden wir uns diesen Fragen noch genauer widmen,
wenn der Vers 13:17 („Er sendet Wasser vom Himmel herab, so
dass die Täler nach ihrem Maß durchströmt werden)
erläutert wird.
Auch die folgenden Verse verweisen auf
die eben erwähnte Gegebenheit hin: „...Allah wird die unter
euch, die, die gläubig sind, und die, denen Wissen gegeben
wurde, um Rangstufen erhöhen...“ (58:11); „...Zu Ihm steigt
das gute Wort empor, und rechtschaffenes Werk wird es
hochtreiben lassen....“ (35:10). Was zu Allah emporsteigt
sind demnach die guten Worte, womit aufrechter Glaube und
Wissen gemeint sind. Gute Handlungen und rechtschaffenes Werk
lassen jene guten Worte hochtreiben und helfen ihnen bei ihrem
Aufstieg, ohne dass diese von selbst hinaufsteigen könnten.
Doch dieser Vers wird noch ausführlich besprochen werden, wenn
wir die entsprechende Stelle erreichen.