Brief Pierre Lotis an Plumkett
An Bord des »Tonnerre«.
Brest, 20. Juni 1878.
Mein lieber Plumkett!
Seitdem ich aus dem tristen Lorient heraus bin, geht es
besser; der Lenz ist gekommen, die Dinge rings um mich sind
weniger dunkel und ich finde vielfach ins Leben zurück.
Ich hatte zwei Geliebte. Die erste war die Gattin vom
Kapitän eines Küstenschiffes; sie verließ mich, da sie in ihre
Heimat fuhr. Sie war einundzwanzig Jahre alt, war verliebt,
war leidenschaftlich. Der Typus der schönen bretonischen Rasse
aus dem Norden. Sie weinte als sie von mir Abschied nahm, und
doch, seltsamerweise, hatte sie nie aufgehört, einen zu
lieben, und liebte ihn über alles in der Welt: es war ihr
Gatte, der Kapitän des Küstenschiffes.
Die zweite war die kleine Yvonne, die Sie kennen. Sie
teilte einige Zeit hindurch ihre Gunstbezeigungen zwischen
Allain, einem Quartiermeister von den Kanonieren, und mir,
Ihrem ergebenen Diener Loti; und dann hat sie sich vorgestern
entschieden und hat mich verlassen, da Allain sie heiratet.
Auch sie war ein echtes Kind der Bretagne, blond, rosig, mit
ernstem Blick. Sie überragte die Allgemeinheit, – die
Grisetten, ihresgleichen – und wenn sie durch die Straßen
ging, das Haupt gesenkt unter den Flügeln ihrer weißen Haube,
so waren alle Blicke auf sie gerichtet.
»Yves der Seeräuber« ist recht vernünftig geworden, wie ich
Ihnen bereits sagte und betrinkt sich fast niemals. Ich
bewohne mit ihm zusammen ein sauberes nettes Logis in der
Vorstadt Recouvrance bei einer guten alten Bretonin. Sie sagen
an Bord, ich hätte mein Eyoub in Brest nochmals gefunden (aber
ach, wie anders ist es, als mein Eyoub in Stambul war!).
Wir füllen unsere freie Zeit aus, indem wir Ecarté spielen.
Dabei sitzen wir ganz ernst in irgendeinem sehr anständigen
Winkel. Aber trotzdem sehen wir dabei ein wenig wie zwei
Seeräuber im Ruhestand aus. Manchmal besuchen wir auch
Ablaßfeste und die Jahrmärkte von Finistère.
An langen Juniabenden, wenn die Nebel, grauen Schleiern
gleich, den bretonischen Himmel bedecken, gehen wir durch das
grüne Gras, die hochbestandenen Wiesen voll rosenroter Blumen,
die nur in diesem Lande wachsen, den ländlichen Festen
entgegen. Die Luft ist lau und dufterfüllt.
An den Rennen und an Seiltänzerproduktionen freuen wir uns,
als wären wir Kinder des Volkes. Schlägt es aber elf Uhr, sind
wir wieder in unserem bescheidenen Heim in Recouvrance. Dort
erwartet uns der Schlaf, der gütige Vermittler, – der ruhige
Schlaf des Gesunden, der traumlos ist und in einem Zug vom
Heute zum Morgen leitet.
Im Laufe von zehn Jahren habe ich mich wohl verändert.
Welch Unterschied zwischen dem »Ich« von heute und dem zarten
achtzehnjährigen Knaben, der, ein sentimentaler Träumer, alle
Freuden mied, sich vom Frohsinn der Jugend fernhielt und seine
»poetische Traurigkeit« über dieselben Pflastersteine von
Brest schleppte, über welche ich nun meine Lebensfreude
spazierenführe.
Der Frühling ist eine köstliche Zeit, besonders hier in der
Bretagne. Lenze des Nordens, spät im Erscheinen, ein wenig
umschleiert und ungewiß zuerst. Und dann mit einemmal, nach
drei Sonnentagen, ein Blütenüberfluß, belaubte Bäume, warme
Abende und Vogelsang.
Es ist Überraschung und Verzauberung. Und es beut um so
innigeren Genuß, als der Winter länger und finsterer war. Und
man ist durchdrungen von Wohlgefühl, von Frühlingszauber,
frischer Wiesenluft und dem Duft der wilden Rose. –
Seit meiner Kinderzeit drang mir kein Junimond so
berauschend ins Blut als dieser; nie hat der Frühling sich mir
so als physisches Erlebnis offenbart, als Erneuerung alles
Lebens im Steigen des Saftes und in der mächtigen Wiederkehr
aller ewigen Kräfte in der Natur.
Glauben Sie mir, mein lieber Freund, gegen alle seelischen
Schmerzen gibt es kein besseres Mittel als körperliche
Übungen. Gegen alle ungesunden Träumereien gibt es kein
wirksameres Narkotikum als Gesundheit und Kraft. Es gibt keine
gesünderen Freuden als die des Volkes. Und es gibt keine
verläßlichere Zuneigung als die des rohen, ungebildeten
Mannes, der rückhaltlos und unberechnet liebt.
»Intellektuelle Freundschaft« gibt es nicht, dieser Begriff
ist das Gespinst kranker Hirne. Freundschaft ist einfach
Freundschaft, – etwas, das der Liebe gleich, die Herzen füllt
und nicht zu definieren ist.
Sie und ich, wir werden nie vollkommene Freunde sein, denn
wir sind wandelbar, ohne jede Konsistenz und ohne Überzeugung.
Bauen wir nicht zu fest einer auf den andern; denn nur zu sehr
sind wir Kinder unseres Jahrhunderts, zu raffiniert, zu
skeptisch. – außerdem aber kennen wir uns zu genau, wir sehen
zu hell, unser Blick reicht zu weit. Und finden wir Freude
daran, tiefinnere Gedanken zu tauschen, so ist das aber auch
alles. Auch gleichen wir ein wenig jenen Auguren, die, ohne
lachen zu müssen, einander nicht ins Gesicht sehen konnten.
Was könnten wir uns gegenseitig zu erzählen haben, mein
Lieber, ohne es wohlbekannt, verbraucht und abgeschmackt zu
finden?
Aber noch ist das Leben schön, und Gesundheit und Jugend
sind die höchsten Güter dieser Erde.
Brest (Recouvrance), Juni 1878.
An einem schönen Frühlingstage saß ich, zwei Uhr mochte es
gerade sein, in trägem Halbschlummer in einem Lehnstuhl meines
lichten Zimmers und wartete auf Yves, der von Bord kommen
sollte.
Plötzlich ließ eine Stimme, die von der Straße heraufdrang,
mich jäh aufschrecken. Ein Bettler war es, der mit leisem Laut
einige trübe Töne sang, so trüb, daß sie in die Seele drangen.
Was aber daran so seltsam war: Dies Lied rief mir ein anderes
wach, ein anderes, das ich vergessen hatte ...
Fern dort, im Orient, in Pera, wo ich wohnte, wanderte in
den heißesten Stunden des Tages oft ein Bettler an meinen
Fenstern vorüber, der so wie dieser sang. In gleicher
Klangfarbe, mit fast denselben traurigen Tönen. Nur war er,
der dort sang, ein Jüngling asiatischen Blutes, ein Blinder,
mit mageren, regelmäßigen und melancholischen Zügen, aus
welchen zwei weitaufgetane, weiße Augen blicklos ins Leere
schauten ...
An jedem Punkte des Bosporus, in Beiros, in Skutari, in
Therapis, hörte ich später dann dies gleiche klagende Lied.
Und sah denselben Jüngling, wie er, in seinen weißen Burnus
gehüllt, durch Nacht und Tag vor sich hin wanderte, mit
regelmäßigem, unbeirrbarem Schritt. Sein Stock suchte den
Boden ab, und seine Stimme sang die schwermütige Weise.
Noch später, als der Winter kam und als Aziyadé bei mir
weilte, hörten wir den blinden Bettler an unseren Fenstern in
Eyoub vorübergehen. Am Abend war's, beim Sinken der Nacht, und
wir schauerten beim Klang seiner Stimme.
»Loti,« hatte Aziyadé gesagt, »versprich mir, daß Du ihn
stets beschenkst, wo immer Du ihn findest. Es brächte uns
Unglück, ließen wir ihn vorüberziehen, ohne ihm eine Gabe zu
reichen!«
Und sie selbst brachte mir oft ihre Spenden für ihn; kleine
weiße Münzen, die sie ihm zugedacht hatte. Dann ging ich
hinab, um sie in seine Hand zu legen. (Im Orient wirft man ein
Almosen nicht hin, sondern gibt es.)
Eines Morgens hatte sie große Angst. Es war im Februar,
noch ein wenig vor Tag, die Stunde, wo das Lied der Muezzin
erschallt, da ging sie allein fort, in ihren grauen Féredjé
eingehüllt. Hoch lag leichter, lichter Schnee auf dem Grund,
es schien, als sei ein blendend weißes Tuch über Eyoub
gebreitet.
Am schmalen Ausgang der Moschee, wo sonst nie jemand zu
sehen war zu dieser schweigsamen Stunde, ragte einsam ein
menschlicher Schatten.
Und in der fahlen Dämmerung, wie sie dem Wintermorgen
vorausgeht, erkannte sie den Bettler, der ohne Regung stand,
das Haupt zum Himmel erhoben, wie wenn ein Mensch still im
Gebet verweilt.
Um zu ihrer Betbank zu gelangen, war sie gezwungen, den
Burnus des Blinden zu streifen und an dem leeren Blick seiner
weißen Augen vorbeizugehen ...
Jener jedoch, der unter meinen Fenstern in Recouvrance
gesungen hat, war ein alter Bretone in der Tracht der Bauern
von Plouegastel ... Und ein Zufall hat es gefügt, daß diesen
beiden Männern, dem Bretagner wie dem Tataren, an beiden Enden
Europas, von tiefer Not das gleiche Singen eingegeben ward ...
Brest, 10. Juni 1878.
Heute morgen hielt ich auf der großen Brücke von Brest
Gildas Kermadec, Yves' Bruder, eine lange Standpauke, denn er
hatte mir gestern seinen Bruder totbetrunken heimgeschickt.
Ich war sehr erbost gegen den langen Seeräuber und habe ihn
sogar ein wenig gezaust.
Aber er hat es fertig gebracht, daß ich plötzlich alle
Haltung verlor und ihm lachend die Hand entgegenstreckte, die
er herzlich drückte.
Auch hierin hatte die alte Bretonin recht gehabt: er hatte
einen harten Kopf, ihr Sohn Gildas, aber er war gut und war
treu wie Gold.
Am Abend dieses selben Tages, des 16. Juni, wanderten wir
zu dreien, alle mit Kerzen in der Hand, einen Waldweg nahe
Brest entlang. Drei Freunde: de R., Yves und ich.
De R., ein Schiffsfähnrich, war uns acht Monate hindurch
ein guter Freund gewesen, und er verdient es wohl, daß ich ihn
in diesen Blättern erwähne: Ein nobler Bretone, vielleicht ein
wenig zu sehr auf hohem Piedestal, ein wenig zu stolz gegen
seinesgleichen, – uns ausgenommen – im übrigen der Vertraute
aller unserer Unternehmungen und der beste Junge der Welt.
Knapp ehe er nach Japan abgehen sollte, hatte er uns ein
Abschiedsessen gegeben.
Das hatten wir eben in einem Waldrestaurant absolviert, das
reizend am Wasser gelegen war, von grünen Laubkronen
überwölbt, in welchen Finken und Nachtigallen schlugen. Und
nun gingen wir drei über lenzgrüne Pfade zurück. Der Schein
unserer Kerzen überstrahlte die Heckenrosensträucher, die sich
schier bogen unter ihrer hellen duftenden Blütenlast, kleine
Vöglein und braune Maikäfer schwirrten allenthalben umher.
Lind, schwarz und lichtlos war die Nacht. Von keinem Hauch
ward die Luft bewegt. Selten nur hatte das Bild des Lebens
sich mir in so sanften Farben gewiesen, als an diesem schönen
Juniabend.
Unmöglich können Worte den Zauber wiedergeben, der die
Natur gefangen hielt. Wir schritten singend dahin, und so oft
ein Wirtshaus am Wege stand, kehrten wir ein, um auszuruhen.
Wie schön war das Leben! Wie gut war's doch, so jung zu
sein und doch als alte Freunde durch die blühende Bretagne zu
schreiten, oder, gute Zigaretten zur Hand, vor einem Glase
süßem Most zu sitzen.
Zum Teufel mit allen trüben Träumereien, allen
Schwermutsgedanken trauriger Poeten. Noch gibt es schöne Tage
im Leben, frohe Stunden voll von Jugendglück und
Leidvergessen, noch schlagen gute Herzen unter der Sonne und
treue Freunde gibt es auf der Erde.
Brest, Juni 1878.
Es gibt Melodien, die in meinem Gedächtnis von Situationen
und Epochen meines Lebens nicht zu trennen sind. Und ihnen ist
es seltsam eigen, vergangene Eindrücke neu aufleben zu lassen
– und wären es die, die am längsten zurückliegen, die am
tiefsten vergessen sind!
So ersteht mir die qualvolle Zeit, die ich im Frühling 1870
in der Reede von Salonique verlebte, vollkommen wieder, wenn
Opheliens Lied erklingt:
Blond ruht und bleich
Im Wasserreich
Die Willis mit dem Blick voll Glut.
Hab' jeder acht,
Der unbedacht
Zu lang weilt an der Wasserflut.
Den Winter in Eyroub zaubert mir das Lied des Muezzin
zurück: »Allah illah Allah! ve Mohamed recoul Allah.«
Das bretonische Lied von den »Drei Matrosen von Groix«
charakterisiert für mich den tristen Aufenthalt in Lorient.
Den heurigen Frühling in Brest malt mir dieses Lied, das
hier im hohen grünen Gras gesungen wird:
Unterm span'schen Himmelszelt
Ohne Trunk und Speisen Reisen,
Sonst nichts haben auf der Welt
Außer Durst und Hungerspein,
Ist nicht fein!
Usw. ...
Recouvrance, 19. Juni 1878.
Sturmnacht. Es bläst, als wollte es die Häuser umreißen.
Ich bin ein wenig besorgt, wie es wohl an Bord zugehen mag
und ob meine Abwesenheit nicht auffällt.
Die ganze Nacht hindurch schüttelt der Wind unser altes
Haus in Recouvrance. Die Katze meiner Hausfrau miaut vor
unserer Tür, bis der Morgen kommt, – klägliche Musik,
klägliche Situation.
Yves verläßt mich um vier Uhr morgens. Ich bin recht
besorgt, wie seine Rückkehr an Bord sich gestaltet. Es regnet
in Strömen, und immer stärker heult der Wind.
Um sieben Uhr stehe ich bei der großen Brücke. Rings wütet
fessellos der Sturm. Aber Yves ist da. Er ist gekommen, mich
mit der Schaluppe abzuholen. Viel Leute füllen die Brücke und
die Kais, – Matrosen und Weiber, und alle sehen voll Angst auf
die Reede hinaus, der ganz weiß ist vor Schaum und Gischt.
Yves, der sehr aufgeregt ist, läuft mir entgegen:
»Man räumt den Tonnerre,« sagt er. »Eben kam die Depesche
aus Paris, und morgen müssen wir im Hafen sein!« –
20. Juni Der »Tonnerre« liegt im Hafen von Brest. Wieder
ein beendeter Feldzug. Den ganzen Morgen habe ich Bordwache.
Der Regen strömt weiter.
Am Nachmittag erwarte ich Yves in der Wohnung von
Recouvrance, die wir bald für immer werden räumen müssen. Doch
kommt er erst um ein halb sechs Uhr: »Verspätung wegen
Ausladen des Schiffsraums« erklärt er.
Da ich ein Bild von ihm haben möchte, führe ich ihn zu
Bernier, dem Photographen. Yves macht beim Aufnehmen sehr viel
Umstände. Sein Gesicht ist ihm zu schwarz und seine Haltung
scheint ihm schlecht.
Am Abend kommen wir bei strömendem Regen an Bord zurück:
Yves in Zivil, was streng verboten ist. –
21. Juni. Bewegter Tag. Schöner und glücklicher Tag für
Yves. Ich gehe schon um acht Uhr morgens ans Land und suche
den Divisionskommandanten auf.
Um zwei Uhr versammelt sich der hohe Rat, der über
Avancements zu entscheiden hat, an Bord des »Tonnerre«.
Stürmische Debatte. Für Yves stimmen natürlich alle Offiziere,
voran ich, – gegen ihn der zweite Kommandant, der von der
Mannschaft der »Medée« unter der Hand bearbeitet worden ist.
Der Chefkommandant sagt kein Wort in die Diskussion hinein,
die voller Leidenschaft und heftig fortgeführt wird. Dann aber
wendet er sich lächelnd zu mir: »Kermadec wird trotzdem fünf
Stimmen haben, denn er bekommt auch meine.«
Die Schlacht ist gewonnen. Yves ist in die erste Klasse
seines Ranges vorgerückt.
Eine Stunde später erhalte ich noch unerwartet die
Erlaubnis für meinen Freund, den »Tonnerre« sofort verlassen
zu dürfen. Nun bleibt ihm nichts zu wünschen übrig. Schon
morgen kann er nach Toulven abreisen, wo sein kleiner Sohn auf
ihn wartet.
Um fünf Uhr verlassen wir das Schiff. Yves, der glücklich
ist wie ein König, führt seinen Reisesack mit sich.
Rendezvous nach Tisch auf dem Jahrmarkt von Brest. Zum
letztenmal Ringelspiel, Holzpferde usw. Yves, der sonst so
ernste, ist heute heiter wie ein Kind. Er hat eine Menge
urkomischer Einfälle und hält jeden zum besten.
22. Juni. Abschied an Bord des »Tonnerre«. Alle Welt
zerstreut sich, und das Schiff ist gewesen.
Große Inspektion, bei welcher die gestrigen Vorschläge und
Avancements verkündet werden.
»Yves Kermadec in die erste Klasse seines Ranges
vorgerückt.«
Nichts für die Herren von der »Medée«.
Dann hat ein alter Dienstmann meine zweihundert Kilo Gepäck
geholt und hat sie schlecht und recht nach Recouvrance
expediert. Das Wetter war strahlend schön. Nach den bangen
Tagen voll Regen und Kummer, die eben vorüber waren, war ein
jeder neu belebt, und Yves ward nicht müde, das immer wieder
zu versichern.
Um zwei Uhr ist mein lieber Yves abgereist, glücklich, weil
er nun bald Weib und Kind umarmen sollte, weil er im Rang
vorgerückt war, und weil er all dies mir verdankte. Beim
Abschied von mir war er aber recht traurig, und auch ich hatte
ein schweres Herz, auch ich, ich will es gestehen. Wir armen
Matrosen wissen nicht, ob das blinde Geschick uns je wieder
zusammenführt!
Ich habe ihn, Yves Kermadec, sehr liebgehabt. Gar schnell
ist unsere Zuneigung gewachsen. Mag sein, daß dies kam, weil
ich ihn vor mancher Gefahr bewahrt habe.
Jetzt bin ich bald mit dem Kofferpacken in unserer Wohnung
in Recouvrance zu Ende. Acht Uhr ist's, ein schöner Juniabend;
aber es ist noch schmerzlicher für mich, an einem schönen
Abend im Juni allein zu sein: solch lange Abendstunden locken
Träume herbei und wecken all meine lieben Erinnerungen aus
vergangener Zeit. –
Fröhlich kommen Menschen vom Spaziergang heim und Matrosen
gehen singend an meinen offenen Fenstern vorüber. Durch den
Äther schießen flinke Schwalben, und der Sommer duftet
überall.
Auf den Möbeln dieses Zimmers, das er nicht mehr betreten
wird, liegen noch Yves' Reisesack, seine silberne
Quartiermeisterpfeife und seine Mütze mit dem Zeichen 2091 P.
Ein Abschnitt unseres Daseins hat unwiederbringlich
geendet.
Paris, Juni 1878.
Montag, am 23. Juni, Abfahrt von Brest. Immer noch ist das
Wetter herrlich. Grün und in Blüte steht die Bretagne.
In Lorient zehn Minuten Aufenthalt. Meine Freunde, die ich
verständigt hatte, warten auf dem Kai. Ein flüchtiger Gruß nur
gilt der grauen Stadt, wo ich so tödlich bange Tage
verbrachte.
In Redon Zusammentreffen mit einem amerikanischen
Ingenieur, der mir bis Paris Gesellschaft leistet. Der gute
Mann spricht englisch, ich antworte türkisch. Daraus ergibt
sich eine originelle und recht bewegte Konversation.
Als ich beim nächsten Tagesgrauen erwachte, hatte sich das
Antlitz der Landschaft verändert, und die alte Bretagne war
weit. Keine mächtigen Wälder, keine grauen Felsen, keine alten
Granitkirchlein, weder Moos noch Moosflechte, kein hohes Gras
voll rosa Blüten, nichts als die albern ebene Umgebung von
Paris, und die Befestigungen.
Mit tiefem Widerwillen streifte mein Auge nun wieder diese
menschlichen Bienenkörbe aus Ziegel und Backstein, die
Fabrikschlote, empfand ich die dumpfe, ungesunde Luft, dies
Element der Vorstädte.
Die kleine Hütte, die Yves in Toulven besaß, stand recht
einfach, recht arm und wie verloren am Waldpfad fern in der
Bretagne. Aber um sie her waren Frische und rechtschaffenes
Leben ...
Zwar hat der Jardin du Luxembourg lauschige Winkel,
mächtige Bäume, gut gepflegte, leuchtend grüne Rasenflächen
und Bänke, auf welchen man zur Sommerszeit am frühen Morgen
stundenlang träumen kann, ohne von Spaziergängern gestört zu
werden. In diesem Garten weben frühe Erinnerungen meines
Lebens: mit siebzehn Jahren habe ich sehr oft hier gesessen
...
Hier war es also, nahe dem Medicibrunnen, daß ich heute
morgen, am 24. Juni, als ich den Zug verlassen hatte, der mich
aus der Bretagne hierher gebracht, mir zwei Stunden
tiefinnerer Einkehr gewährte, ehe ich es schicklich fand, bei
Freunden vorzusprechen.
Seltsam schimmernd zog mein ganzes Leben an mir vorbei, mit
allen Menschen, die es durchkreuzt, mit allen Situationen, die
ich durchlebt und mit den Bühnenbildern von sämtlichen Ländern
der Erde, – eine lange Folge, trüben Schauens voll, das mit
den Jahren immer trüber wird, und bald durch nichts mehr froh
gestimmt werden kann. Ungeheure Sehnsucht nach Frieden,
Seelenruhe und Einsamkeit überkam mich da: und selbst des
Klosters Stille hätte ich in diesem Augenblick dem lauten
Lärmen von Paris vorgezogen.