Kitab Al-Irschad (Das Buch der Rechtleitung)
Einleitung
von I. K. A. Howard,
Übersetzer der englischen Ausgabe von Kitab al-Irschad
Leben Scheich al-Mufids und Umstände seiner Zeit
Scheich Mufids tatsächlicher Name war Muhammad ibn
Muhammad ibn Nu´man al-Bagdadi al-Karchi. Sein
Beiname war Abu Abdallah.
Während seiner Lebenszeit hatte er den
Spitznamen [laqab] "Ibn al-Mu´allim" (Sohn
[ibn] des
Lehrers). Aristoteles war für die
Araber der "Lehrer" schlechthin, und der Titel mag sich auf
Scheich Mufids große Gelehrsamkeit bezogen haben, als ob er
vom Intellekt her der
Sohn von Aristoteles hätte sein können
(in den Augen seiner Zeitgenossen). Der eigentliche Titel,
unter dem er später bekannt wurde,
"al-Scheich al-Mufid", bezog sich ebenfalls auf seine
große Gelehrsamkeit. "Scheich"
bedeutete zu jenen Zeiten "Gelehrter", und "mufid" bedeutet:
"Der, der Nutzen bringt."
Er wurde im Jahre 336
n.d.H. (948 n.Chr.) oder (nach anderen
Informationen) 338
n.d.H. (950 n.Chr.) in
Ukbara im
Irak
geboren. Er wurde im sehr frühen Alter nach
Bagdad gebracht.
In
Bagdad fanden auch die meisten seiner Studien und Lehrtätigkeiten statt, deshalb wurde er al-Bagdadi (der
Bagdader) genannt. Der Bezirk von
Karch in Bagdad wurde
mehrheitlich von
Schiiten bewohnt, und dort ließ sich
Scheich Mufid wahrscheinlich nieder und hielt viele seiner
Lehrveranstaltungen ab. Daher wird er al-Karchi genannt.
Scheich Mufid war ein vom
Führungsauftrag [wilaya] der
Zwölf Imame (a.) überzeugter
Schiit. Die Zeitspanne, die er in
Bagdad
verbrachte, war eine Periode, in der
schiitische
Gelehrte
relative
Freiheit genossen, und so sehen wir ein Aufblühen der
schiitischen Gelehrsamkeit in
Bagdad, besonders derjenigen
der
Zwölfer-Schia. Der Grund dafür bestand darin, dass die in
Bagdad herrschende Dynastie, die
Buwayhiden, der
Schia sehr
zugeneigt waren. Ursprünglich stammten sie aus
Daylan im
Iran,
sie hatten
Bagdad 334
n.d.H. (945 n.Chr.) erobert.
Wahrscheinlich waren sie von der
zaiditischer Überzeugung,
aber die Lehren der
Zwölfer-Schia passten in ihr politisches
Konzept. So wurde den
Imami-Schiiten (Zwölfer-Schiiten)
die Gelegenheit eingeräumt, ihre Lehre auf eine Weise zu
verkünden, wie es ihnen selten möglich gewesen war.
Die Tatsachen, dass
Scheich Mufid der herausragende Gelehrte der
Imami-Schia während seines Lebens wurde, dass sein Werk
Buch der Rechtleitung [kitab-ul-irschad] von der Geschichte der
Zwölf Imame (a.) handelt sowie von ihrem Verhältnis mit den anderen
schiitischen Glaubensrichtungen, die Berücksichtigung des
guten Verhältnisses, welches die
Imami-Schiiten mit den
zaiditischen
Buwayhiden hatten, erfordern wohl eine gewisse
Beschreibung der Stufe, welche die
Schia in dieser Periode
erreicht hatte.
In jener Zeit gab es drei Hauptgruppierungen der
Schiiten:
Imamis,
Ismaeliten und
Zaiditen. Der grundlegende Unterschied
zwischen den drei Gruppen lag in ihrer Auffassung über das
Imamat. Auch in ihren Gesetzeslehren gab es Unterschiede. Jedoch waren diese Unterschiede nur wie diejenigen zwischen
den verschiedenen Rechtsschulen außerhalb der
Schia.
Das
ismaelitische und das
zaiditische Gesetz waren dem
Recht, das im
Irak praktiziert wurde, viel näher. Die
Imamiten hatten eine klarere Art von Gesetz, aber einige
Zaiditen vertraten ähnliche gesetzliche Ansichten wie die
Imamiten. Die
Imamiten und die
Ismaeliten hatten einen
ähnlichen Glauben über die Natur des
Imamats. Sie glaubten,
dass die
Menschen nicht gut ohne Führung arbeiten konnten, und
dass es für den
Menschen notwendig war, so eine Führung zu
haben, damit er seine
religiösen Pflichten erfüllen und
ALLAH
dienen kann. Zuerst hatte
ALLAH diese Führung in Gestalt der
Propheten herabgesandt, die Seine
offenbarte Rechtleitung der
Welt präsentierten. Diese
Propheten waren vor Irrtum
beschützt, damit ihre Botschaft erhärtet werden konnte. Egal
ob ein
Prophet nun wirklich ein Herrscher war oder nicht, in
Wahrheit hätte er der Herrscher sein sollen. Der
Prophet war
in einem gewissen Sinne ein
Imam.
Der Letzte der
Propheten war
Muhammad (s.), und nach
Muhammad (s.) sandte
ALLAH eine Reihe
von
Imamen, die vor (jeglicher)
Sünde geschützt waren, damit
sie als Hüter des Glaubens für die Welt agieren konnten. Die
Imame waren die Zeugen
ALLAHs für die
Welt, welche das
Fortbestehen der
Existenz der
Welt garantierten. Ohne die
Imame würde die
Welt aufhören zu bestehen. Die
Imame waren
durch
ALLAH ernannt worden, und diese Ernennung war durch
ihren (jeweiligen) Vorgänger öffentlich gemacht worden. So war
der erste
Imam,
Ali ibn Abi Talib (a.), der Schwiegersohn und
Vetter des
Propheten Muhammad (s.), durch
Muhammad (s.) und den
Qur'an ernannt worden. Die nächsten beiden
Imam,
Hasan
und
Husain (a.), die Söhne
Alis (a.), waren jeder der
Reihe nach ernannt worden. Nach
Husain (a.) bestanden sie
darauf, dass das
Imamat in der Linie
Husains (a.) blieb.
Ali ibn Husain (a.) ernannte seinen
Sohn,
Muhammad Baqir (a.), und Letzterer ernannte seinen
Sohn
Dschafar Sadiq (a.)
Es war nach dem
Imamat
Dschafar Sadiqs (a.), dem
sechsten
Imam, dass die Hauptmeinungsverschiedenheit zwischen
den
Imamiten und den
Ismaeliten eintrat. Eine Gruppe von
Dschafars (a.) Anhängern stellten die Behauptung auf, dass
er seinen
Sohn
Ismail zu seinem Nachfolger ernannt habe. Es
wurde angenommen, dass dieser Mann gestorben war, aber diese
Anhänger des
Imamats von
Ismail teilten sich in zwei Gruppen:
Die eine behauptete, dass
Ismail nicht gestorben, der letzte
Imam in der
Verborgenheit sei und er am Ende der
Zeit
wiederkehren würde. Eine zweite Gruppe behauptete, dass das
Imamat auf
Muhammad, den
Sohn
Ismails, übergegangen sei.
Diese letztgenannte Gruppe wurde der Kern, um die sich die
Ismaeliten formierten. Sie verfolgten die Nachfolge durch
Ismail. Diese Gruppe hatte nun in
Ägypten politische Macht
errungen und bildete für die zentrale
islamische Welt, die
durch die
Buwayhiden dominiert wurde, eine ernsthafte Gefahr.
Die
Imamiten vertraten die Ansicht, dass
Dschafar (a.)
seinen
Sohn
Musa (a.) zum siebten
Imam ernannt hatte. Mit dem
Tode
Musas (a.) entstand eine weitere ernsthafte Spaltung. Es
waren mehrere
Überlieferungen im Umlauf, dass es nur sieben
Imame geben würde, und dass der siebente
Imam der
Imam sein
würde, der (aus der
Verborgenheit) wiederkehren würde. Dann
behauptete eine Gruppe, dass
Musa (a.) gar nicht
gestorben sei
und am Ende aller
Zeiten wiederkehren würde. Diese Gruppe war als "al-Waqifa
(Anhaltende) Waqifa", "die Anhaltende", bekannt, und sie hatte noch
zu der Zeit von
al-Mufid eine Menge Anhänger. Jedoch war die
Hauptgruppe der
Imamiten der Meinung, dass es in Wahrheit nur
Zwölf Imame gab, wobei der
Sohn dem
Vater folgte. Nach
Musa (a.) folgten:
Ali Ridha (a.),
Muhammad al-Dschawad (a.),
Ali al-Hadi (a.),
Hasan al-Askari (a.) und dessen
Sohn, der
zwölfte Imam. Die
Überlieferungen, dass der
zwölfte Imam in die
Verborgenheit entrücken und am Ende der
Zeit wiederkehren
würde, sind zahlreich. Die
Imamiten waren der Ansicht, dass
Hasan al-Askari die Geburt seines
Sohnes geheim hielt, und dass der
zwölfte Imam nach
Hasans
Ableben 260
n.d.H. (873 n.Chr.) in der
Verborgenheit blieb, wobei er mit seinen Anhängern in Kontakt
blieb durch vier spezielle
Abgesandte. Bei dem
Ableben des
vierten dieser
Abgesandten 329
n.d.H. (940 n.Chr.) schickte der
Imam die
Ankündigung, dass er in die andauernde
Verborgenheit
entschwinden und erst am Ende aller
Zeiten zurückkehren würde. Diese beiden Perioden werden
die "Kleine Verborgenheit (ghaiba
al-sughra)" und die "Große Verborgenheit (ghaiba al-kubra)"
genannt. Der
Imam war immer noch in der
Welt, obwohl er von
seiner Gemeinschaft abwesend war, und das sicherte, dass seine
Gemeinschaft ihren wahren Glauben bewahren würde.
Die
Zaiditen waren ein viel ungeordnetere Gruppierung als
die anderen beiden Gruppen. Ursprünglich scheinen ihre beiden
Hauptlehren so zu sein, dass erstens der wahre
Imam nur dann
Imam ist, wenn er sich selbst dazu erklärt und offen gegen
die Machthaber revoltiert, und zweitens, dass sein
Imamat zu
dem hussainidischen Zweig der
Aliden-Familie gehört. Sie
haben anscheinend diese Lehren aufgrund der
Überlieferung von
Zaid ibn Ali behauptet, dem Bruder
Imam Muhammad Baqirs (a.),
welcher so einen Aufstand nach dem
Ableben seines Bruders
angeführt hatte.
Viele der
Zaiditen haben scheinbar
Abu Bakr und
Umar, die
ersten beiden
Kalifen, als echte
Imame akzeptiert, und einige
akzeptierten auch den früheren Teil von
Uthmans
Kalifat.
Diese Einstellung wurde in der theologischen Lehre "das
Imamat
des mafdhul" - des weniger Ausgezeichneten -[mafdhul] genannt. Es
herrschte Übereinstimmung darüber, dass
Imam Ali ibn Abi Talib der Ausgezeichneteste [al-afdhal] und somit der Geeigneteste
für das
Imamat war, jedoch wurde eingeräumt, dass das
Imamat
des weniger Ausgezeichneten [mafdhul] eintreten könnte,
wenn der Ausgezeichneteste [al-afdhal] nicht öffentlich sein
Recht auf das Imamat durch einen bewaffneten Aufstand geltend
machte. Diese Lehrmeinung schloss eine erneute Festsetzung von
Alis Nominierung durch den
Propheten ein. Wenn
Alis Ernennung für alle klar und öffentlich gewesen wäre, dann
wäre über die Legitimation des Imamats von
Abu Bakr,
Umar und
Uthman schwerlich eine Übereinkunft erzielt worden. Daher
behaupteten einige Gruppen der
Zaiditen, dass
Alis Ernennung
durch den
Propheten eine geheime Ernennung gewesen sei [an-nass
al-chafi], die nicht allen
Gläubigen öffentlich gemacht worden war, im Gegensatz zu
der Lehrmeinung der öffentlichen Ernennung [an-nass al-dschali].
Die revolutionären Tendenzen der frühen
zaiditischen
Bewegung gab es in einer Gruppe, die vorher die Anhänger
Muhammad al-Baqirs (a.) gewesen waren. Nach seinem
Ableben wurden sie
die Anhänger von
Zaid ibn Ali. Diese Gruppe, unter der Führung von
Abu al-Dscharud, war unter dem Namen "Dscharuditen"
bekannt. Sie stehen der
Imami-Schia näher als die anderen.
Ihre Einstellung zu dem
Imamat war der
Imami-Schia näher, wie
es ihrer legalen Lehre entsprach. Was sie anscheinend an der
zaiditischen Bewegung angezogen hat, war deren Schwerpunkt auf
den bewaffneten Aufstand für einen (scheinbar)
Anspruchsberechtigten der
Aliden auf das
Imamat. Dennoch ist
ihr enges Verhältnis zur
Imami-Schia daran zu erkennen, dass
einige von ihnen glaubten, dass es einen
Imam geben würde, der
in die
Verborgenheit gehen und am Ende aller
Zeiten
wiederkehren würde. Es wird auch gesagt, dass einige
Mitglieder der
Dscharuditen bereit waren, die
Zwölf Imame der
Imami-Schia zu akzeptieren, doch dass sie auch einen Platz
für
Zaid innerhalb des
Imamats wünschten.***
Jedoch führten solche Lehren wie die des Imamats des "weniger Ausgezeichneten"
[mafdhul] bald zu einer passiven
Tendenz unter einigen Elementen in der
zaiditischen Bewegung.
Sie fanden, dass diese Doktrin ihnen eine enge Zusammenarbeit
mit dem
Kalifat der
Abbasiden erlaubte.
Die Buwayhiden waren wahrscheinlich der Zaidiyya zugeneigt,
wie schon erwähnt, wenigstens zu der Zeit ihrer Eroberung
Bagdads. Zu einer früheren Zeit dachten sie sogar daran, den
abbasidischen Kalifen abzusetzen und einen Imam der Aliden an
die Macht zu bringen. Das hätte jedoch zu einer extrem
schwierigen Situation geführt hinsichtlich der Mehrheit ihrer
Untertanen, die Nicht-Schiiten waren und das Kalifat der
Abbasiden akzeptierten. Die Doktrin des Imamats des mafdhul
(dem weniger Ausgezeichneten) erlaubte ihnen, mit den weniger
ausgezeichneten Abbasiden zusammenzuarbeiten. Durch die
Förderung der Imami-Schi´a, deren Imam in der Verborgenheit
war und nicht bis ans Ende aller Zeiten zurückkehren würde,
konnten sie schi´itische Bestrebungen ermutigen, ohne ihre
eigene politische Macht zu gefährden. Durch die Ernennung
eines Aliden-Imams hätten sie sich selbst auf eine viel
niedrigere politische Stellung herabgestuft als die, die sie
innehatten, indem sie einen Abbasiden-Kalifen unterstützen,
den sie bestenfalls als mafdhul betrachteten, als weniger
ausgezeichnet.
Die Buwayhiden schafften eine Atmosphäre im Irak und Iran,
die einigen Gruppen Freiräume verschafften, die vorher unter
dem Druck der Machthaber gestanden hatten. Dies galt vor allem
für die verschiedenen Zweige der Schi´a, mit Ausnahme der
Isma´iliten und ihrer gefährlichen Bedrohung für Irak von
ihrer Machtbasis in Ägypten aus. Eine andere Gruppierung, der
es in dieser Periode anscheinend gut ging, war die Mu´tazila,
eine theologische Schule, die dem Gebrauch des Verstandes
großes Gewicht beimaß. Sie hatten sich fortlaufend der Ansicht
angenähert, dass ‘Ali (a.) der Ausgezeichneteste (al-afdhal)
der Gefährten des Propheten war, und daher hatten sie eine
sehr positive Einstellung zur Schi´a.
In dieser Atmosphäre wurde al-Mufid geboren, erzogen und
lebte sein Leben. Er wurde in Bagdad von führenden
imami-schi´itischen Gelehrten sowie führenden Angehörigen der
Mu´tazila ausgebildet. Die früheren Gelehrten hatten so eine
öffentliche Stimme nicht hervorbringen können. Während es
mehrere imami-schi´itische Gelehrten vor al-Mufid gegeben
hatte, die das Prinzip der Anwendung des Verstandes in der
theologischen Spekulation gebraucht hatten, wurde al-Mufid der
Führer eines theologischen Trends innerhalb der Zwölfer-Schi´a,
welcher (das Prinzip der) Vernunft in der imami-schi´itischen
theologischen Spekulation fest etablierte.
In der Tat hatte die breite Masse der imami-schi´itischen
Gelehrsamkeit sich für die Sammlung der Überlieferungen der
Imame interessiert. Die ersten Sammlungen von Überlieferungen,
die entweder direkt von den Imamen oder aus zweiter Hand
gesammelt worden waren, waren als „usul“(„Wurzeln“ =
Grundlagen) oder Quellen bekannt. Es hieß, dass es vierhundert
solcher usul gegeben habe. Die nächste Stufe bestand darin,
diese Sammlungen nach Themen (geordnet) in eine
systematischere Form zu bringen. Die wichtigste dieser
systematischen Sammlungen von Überlieferungen der Imame war
al-Kafi. Diese umfangreiche Sammlung von Überlieferungen
wurde von Muhammad ibn Ya´qub al-Kulaini zusammengestellt, der
im Jahre 329 n.H. / 940 n.Chr. starb. Al-Mufid studierte
dieses Werk unter (der Anleitung) eines anderen großen
Sammlers von Überlieferungen, Ibn Qulawaih (gestorben 368 n.H.
/ 978-79 n.Chr.). Al-Mufid studierte auch Überlieferungen
unter dem zweiten großen Sammler von Überlieferungen, Ibn
Babawayh, auch unter dem Namen „al-Scheich al-Saduq“ bekannt,
welcher 381 n.H. / 991-92 n.Chr. starb.
Mit der Verborgenheit des zwölften Imams ruhte die Führung
der imami-schi´itischen Gemeinschaft sehr stark in den Händen
der Überlieferungs-Sammler, welche die Lehre über die Imame
propagierten. Ihr vielleicht größtes Aushängeschild während
dieser Periode war Ibn Babawayh. Al-Mufid war durch sein
großes Wissen über die Überlieferungen und seiner Praxis in
theoretischer Spekulation in der Lage, die Kluft zwischen den
beiden Elementen zu überbrücken, den spekulativen Theologen
und den Sammlern von Überlieferungen, und so die Imami-Schi´a
mit einer Synthese auszustatten, welche die spekulative
Theologie mit einer intelligenten Anwendung von
Überlieferungen kombinierte.
Die Bandbreite seiner Gelehrsamkeit war dermaßen, dass er
als der führende Gelehrte der Imami-Schi´iten anerkannt
wurde.
Obwohl diese Periode eine viel günstigere Zeit für die
imami-schi´itischen Gelehrten war, war sie nicht ohne
Reibereien zwischen den Schi´iten und ihren Gegnern. Zwei
schi´itische Gedenktage wurden eingeführt. Der Gedenktag an
Ghadir Chumm am 18. Dhul-Hidscha , und ‘Aschura am 10.
Muharram . Diese Gedenktage wurden von dem Buwayhiden Mu´izz
al-Dawla im Jahre 351 n.H. / 962 n.Chr. eingeführt. Der
Gedenktag an Ghadir Chumm erinnert an die Begebenheit, bei
welcher der Prophet, als er von der Abschieds-Pilgerfahrt
zurückkehrte, ‘Ali (a.) zum Führer (mawla) der Leute erklärte
und ihn ihnen anempfahl. Dies wurde von den Schi´iten als eine
explizite Ernennung ‘Alis (a.) für das Imamat aufgefasst.
‘Aschura erinnert an das Märtyrertum von al-Hussain im Irak.
Im Gegenzug zu diesen beiden Gedenktagen setzten die Sunniten
im Jahre 389 n.H. / 999 n.Chr. zwei konkurrierende Feiertage
an, den 26. Dhul-Hidscha und den 18. Muharram, an welchen sie
in dieser Reihenfolge Abu Bakrs Verbleiben in der Höhle mit
dem Propheten während seiner Auswanderung von Mekka nach
Medina bzw. den Tod des Mus´ab ibn al-Zubairs, der den
aufständischen Muchtar niederschlug, der aufgestanden war, um
den Tod al-Hussains (a.) zu rächen. Diese Feiertage wurden zu
einer regelmäßigen Quelle der Gewalt zwischen sunnitischen und
schi´itischen Parteigängern. Es gab mehrere Gelegenheiten, an
denen ernsthafte Gewalttätigkeiten zwischen den
rivalisierenden Parteien auftraten. An einem dieser Anlässe
wurde al-Mufid aus dem Stadtzentrum von Bagdad verbannt
aufgrund von Unruhen, aber es sieht nicht so aus, als ob
al-Mufid in irgendeiner Weise für die Anstiftung zu diesen
Unruhen verantwortlich war. Vielmehr scheint es, als ob die
Buwayhiden es für nötig befanden, unter den Schi´iten einen
Sündenbock zu finden, um die Ordnung zu wahren und ihre
Justiz als unparteiisch darzustellen. Al-Mufid war wichtig
genug für sie, um die Gefühle der Sunniten zu befrieden.
Jedoch waren diese Verbannungen nur von kurzer Dauer.
Al-Mufid war ein großer imami-schi´itischer Gelehrter in
einem Zeitalter von großen imami-schi´itischen Gelehrten.
Seine älteren Zeitgenossen und
Lehrer, Ibn Qulawaih und Ibn
Babawayh sind schon erwähnt worden. Er war jedoch selbst der
Lehrer von zwei sehr großen imami-schi´itischen Gelehrten, den
Brüdern al-Scharif al-Radhi (gestorben 406 n.H. / 1015 n.Chr.)
und al-Scharif al-Murtadha (gestorben 436 n.H. / 1044n. Chr.).
Al-Radhi, der tatsächlich vor al-Mufid starb, war ein großer
Schriftsteller, Dichter und der Zusammensteller von
Nahdsch-ul-Balagha, eine Sammlung der Ansprachen ‘Ali ibn Abi
Talibs. Al-Murtadha folgte und entwickelte al-Mufids Werk in
spekulativer Theologie und muss als einer der größten
imami-schi´itischen Theologen angesehen werden. Ein anderer
Schüler al-Mufids, der zu den Rängen der großen
imami-schi´itischen Gelehrten gehört, war der
Überlieferungssammler, Jurist und Theologe und der spätere
Führer der imami-schi´itischen Gelehrten, al-Scheich al-Tusi.
Die Anzahl von al-Mufids eigenen literarischen Werken war
enorm. Ihm werden über zweihundert Werke zugerechnet; viele
davon waren kurze Abhandlungen polemischer Natur, aber er
schrieb auch viel längere Werke über die gesamte Bandbreite
religiöser Themen.
Al-Mufid starb im Jahre 413 n.H. / 1022 n.Chr. Eine riesige
Menschenmenge war bei seinem Begräbnis anwesend, und das
Toten-Gebet für ihn wurde von seinem früheren Schüler
al-Scharif al-Murtadha geleitet. Er wurde zuerst in seinem
Haus aufgebahrt, dann aber nach Kazimain gebracht, wo er neben
seinem früheren Lehrer Ibn Qulawaih begraben wurde.