Der Islam im Dialog

Der Islam im Dialog - Aufsätze

Prof. Abdoldjavad Falaturi

Inhaltsverzeichnis

Damit komme ich zum zweiten Abschnitt meiner Darstellung, nämlich:

Religion und Kultur und ihr Verhältnis zueinander und ganz besonders das Verhältnis der islamischen Lehre als Religion zur islamischen Kultur

Unter Religion verstehe ich hier, im Gegensatz zur Kultur, diejenige Lehre, die für sich beansprucht, von einer höheren, die menschlichen Fähigkeiten übersteigenden Entscheidungskraft herzurühren. Unter der Kultur verstehe ich hier alle anderen sonstigen Strömungen des menschlichen Geistes, die das Leben des Menschen in seinen unendlichen Aspekten und Ausformungen ermöglichen.

Dazu gehören auf der theoretischen Ebene sämtliche Wissenschaften und Kunstarten

(z.B. darstellende Kunst, Musik und alles andere, was mit der ästhetischen Kraft des Menschen zu tun hat), Sprache in ihrer Vielschichtigkeit, Märchen, Erzählungen, Utopien, Ideale, Vorbilder, Feind - und Freundbilder, Lebensziele, die Wahrnehmungsweise von dem umgebenden Raum und der Zeit, unterschiedliche Reaktionen auf die Eindrücke von der Außenwelt, die Art, wie man Feste feiert, wie man traurige Ereignisse bearbeitet und überwindet, kurzum alles, was den Alltag des Menschen im einzelnen oder in Gemeinschaft positiv oder negativ bestimmt.

Fragt man nun nach dem Verhältnis von Religion und Kultur, so kann man das wie folgt auf einen Nenner bringen: Die Religion prägt zwar die Kultur, sie wird aber von der Kultur getragen, anders formuliert, die Kultur lässt sich von der Religion prägen, bleibt aber als wichtiger Träger der Religion bestehen.

Das Ergebnis ist: Die Religion prägt die Kultur, die Kultur trägt die Religion. Von der Harmonie bzw. Disharmonie zwischen diesen beiden Phänomenen hängen die an jedem Ort und jeder Zeit herrschenden Werte und Wertungssysteme ab.

Mir geht es hier darum, uns allen vor Augen zu führen, dass der Islam in seiner langen Geschichte auf verschiedene Teile der Erde nicht nur durch die Pflege und Weitergabe und anderen daraus entnommenen Quellen in das Leben und die Herzen des Menschen Eingang gefunden und diese Menschen als überzeugte Muslime geprägt hat.

Vielmehr hat sich der Islam in einem größeren Maße durch praktische Auswirkung in denjenigen Kulturen etabliert und das Alltagsleben bestimmt, die wir islamische Kultur nennen. Angefangen von hochgeistigen Errungenschaften, wie Philosophie, Mystik, und anderen Wissenszweigen, bis hin zu Lebenspraxis, wie Kleidung, Speisegewohnheiten, Volkssitten, Freude, Trauer, Feste, Sprachen, Gedichte, Erzählkunst, Märchen, Anekdoten, bestimmte Heldenfiguren, Sprichwörter, bis hin zu bestimmten Verhaltensweisen zur Meisterung von Problemen menschlicher Kommunikationsweise, wie das Verhältnis des einzelnen zur Gemeinschaft und umgekehrt, das Verhältnis Mann und Frau, das Familienleben, das Verhältnis der Bürger zur Politik und den Politikern, die Beteiligung der einzelnen an gesellschaftlicher Verantwortung; kurzum alle unübersehbaren Details, die eine Gesellschaft als Ganzes konstruieren und schließlich in einer unüberschaubaren Wechselwirkung aller dieser einzelnen Elemente, die, die Struktur der Gesellschaft ausmachen, enden.

Auf die Frage, was eigentlich den Menschen am meisten prägt, die Religion oder die Kultur, können die Fakten Antwort geben: Wir erleben z. B., dass ein Christ innerhalb eines islamisch geprägten Kulturraumes mehr von der islamischen Kultur in sich trägt, mehr durch die islamische Kultur geprägt ist, als ein überzeugter, sogar praktizierender Muslim, der nicht in einem islamischen Kulturraum, sondern in einem, z. B. vom Christentum geprägten Kulturraum sein Leben verbringt. Es kommt sogar so weit, dass nicht selten die christlichen Gelehrten in einem islamisch geprägten Kulturraum mehr zur Pflege und zum Erhalt des Islam beitragen, als viele andere überzeugte Muslime.

Ich denke gerade an die Bücher von Giorgi Zaidan, den arabischen Christen, der z. B. durch sein Buch über arabische Literatur, Gedichte und Prosa, mehr zum arabisch - islamischen Selbstbewusstsein beigetragen hat, als viele überzeugte Muslime. Das was er bringt, ist zwar kein Koran und keine Sunna, das sind aber Gedichte und Prosatexte, die zu 80 % islamisch orientierte Inhalte haben.

Die Macht und die Gewalt der Kultur ist noch höher. Wie die islamische Geschichte zeigt, sind es die gesellschaftlichen und kulturellen Konstellationen, die jeweils die verantwortlichen Persönlichkeiten des Islam herausgefordert und eine neue Epoche eingeleitet haben. Dies waren gerade die Begegnungen der großen Kulturen mit dem Islam, die, die Verantwortlichen jener Zeit dazu brachten, im Sinne des Islam eine neue Ordnung, eine islamische Ordnung zu schaffen.

Die gleiche kulturelle sogar intensivere Bewegung war erst die, die, die Rechtsgelehrten im siebten, achten und neunten Jahrhundert zur Gründung neuer Rechtssysteme bewegt haben. Genau wie die Kultur in ihrer Dynamik die Religion herausfordert, genauso kann die Kultur, die in sich keine neuen Impulse entwickelt und auch nicht von außen beeinflusst wird, dazu führen, dass die neuen Anregungen, die seitens der Vertreter einer Religion dargeboten werden, nicht vom Volke registriert werden. Hier liegt die Antwort auf die obige Frage, warum Denker wie Averroes, Ibn Valdun und Imam As-Satibi nicht in den islamischen Gemeinschaften von damals anerkannt worden sind und gewirkt haben.

Dies ist aber heute nicht unser Hauptthema. Das eigentliche Problem, mit dem wir uns auseinanderzusetzen haben, ist: Die Religion und Kultur und ihr Verhältnis zueinander und ganz besonders das Verhältnis der islamischen Lehre als Religion zur islamischen Kultur. Es handelt sich dabei um eine neue Herausforderung, die seit mehr als 200 Jahren von der westlichen Kultur ausgeht. Eine kulturelle, geistige Herausforderung, die sich von der in der Zeit des zweiten Kalifen und der Entstehung verschiedener Rechtsschulen völlig unterscheidet. Eine Herausforderung von außen.

Das Problem dabei war und ist stets mit politischen und wirtschaftlichen Interessen verbunden, die Emotionen dagegen heraufbeschworen hatten. Diese ablehnende Haltung bekam Nahrung durch die missionarische Begleiterscheinungen, die dazu führten, das Westliche schlechthin als antiislamisch zu bewerten.‘

Notgedrungen haben die Muslime jedoch von der Technik bis hin zu den Geisteswissenschaften alle westlichen Wissenschaftszweige akzeptieren und pflegen müssen. Es blieb und bleibt weitgehend auf dieser theoretischen Ebene kein Widerstand mehr gegen die neuen westlichen Errungenschaften. Im Gegenteil, die Tendenz bei allen geht dahin, sich diese anzueignen, um auf der kulturellen Ebene mit dem Westen Schritt halten zu können. Diese Begegnung, die praktische Seite der westlichen Kultur, die man gerne mit der Zivilisation gleichsetzt, hat jedoch Probleme verursacht.

Dies deswegen, weil unter der westlichen Zivilisation meistens die auffallenden Äußerlichkeiten, die mehr ein Kinoleben repräsentieren, propagiert werden. Diese Werte des kulturellen Westens standen der islamischen Welt entgegen. Gleichgültig, ob diese Werte wirklich islamischen Ursprungs waren oder Volksbräuche. Danach ist ein gesellschaftlicher Wandel unumgänglich gewesen. Für diesen Wandel haben nicht nur die Vertreter der westlichen Kultur, also Europäer und Amerikaner gesorgt, sondern auch Muslime, die in diesen Ländern studiert haben und in ihre Heimatländer zurückkamen. Auf die Gesamtkultur bezogen, hat man es mit einem völlig heterogenen Komplex zu tun. Auf verschiedenen Ebenen laufen geistige und praktische Werte westlicher und islamischer Herkunft nebeneinander und durcheinander.

Während die Produkte der Wissenschaften wie Psychologie, Soziologie, Politologie, Pädagogik, Philosophie. die in der Tat als tragende Säulen einer Kultur gelten, in der

islamischen Welt Anerkennung fanden, traf und trifft man auf einen Widerstand gegen Verhaltensweisen, die direkt oder indirekt die herkömmliche Identität berührten.

Die Entwicklung hat zu keiner einheitlich konstruierten Kultur geführt, die in der Lage gewesen wäre, mit dem Islam zu harmonisieren. Aber auch die Religion Islam war und ist noch nicht der Lage, ein so entstandenes Mischgebilde zu prägen. Weder könnte eine solche Mischkultur in diesen Ländern, als Ganzes betrachtet, in der Lage sein, den Islam in seiner herkömmlichen Form zu tragen, noch ist der Islam in seiner herkömmlichen Gestalt imstande, dieser Kultur eine islamische Prägung zu geben.

Man könnte auch auf keines von beiden verzichten. Auf die Religion kann man nicht verzichten, weil die islamischen Länder auf die Dauer einen absoluten Säkularismus nicht hinnehmen (Beispiel Türkei). Auf die Kultur kann man nicht verzichten, weil ihr Untergang dem Westen gegenüber dann besiegelt wäre.

Das Hauptproblem, um es auf einen Nenner zu bringen, ist eine gewaltige Disharmonie zwischen Religion und Kultur. Diese Disharmonie hat sogar zu großen Generationsproblemen geführt. Die junge Generation, die durch Schule, Studium und höhere Ausbildung in den westlichen Wissenschaften sich eine ganz andere kulturelle Voraussetzung geschaffen hat, weiß wenig von den eigenen kulturellen Werten und lässt sich nicht mehr von derjenigen religiösen Argumentation überzeugen, die ihre Eltern aufgrund ihrer herkömmlichen Kultur überzeugen konnte. Eine offene oder latente geistige Krise war die Konsequenz daraus, was das Thema des III. Abschnitts ist.

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