Damit komme ich zum zweiten Abschnitt meiner Darstellung,
nämlich:
Religion und Kultur und ihr Verhältnis zueinander und ganz
besonders das Verhältnis der islamischen Lehre als Religion
zur islamischen Kultur
Unter Religion verstehe ich hier, im Gegensatz zur Kultur,
diejenige Lehre, die für sich beansprucht, von einer höheren,
die menschlichen Fähigkeiten übersteigenden Entscheidungskraft
herzurühren. Unter der Kultur verstehe ich hier alle anderen
sonstigen Strömungen des menschlichen Geistes, die das Leben
des Menschen in seinen unendlichen Aspekten und Ausformungen
ermöglichen.
Dazu gehören auf der theoretischen Ebene sämtliche
Wissenschaften und Kunstarten
(z.B. darstellende Kunst, Musik und alles andere, was mit
der ästhetischen Kraft des Menschen zu tun hat), Sprache in
ihrer Vielschichtigkeit, Märchen, Erzählungen, Utopien,
Ideale, Vorbilder, Feind - und Freundbilder, Lebensziele, die
Wahrnehmungsweise von dem umgebenden Raum und der Zeit,
unterschiedliche Reaktionen auf die Eindrücke von der
Außenwelt, die Art, wie man Feste feiert, wie man traurige
Ereignisse bearbeitet und überwindet, kurzum alles, was den
Alltag des Menschen im einzelnen oder in Gemeinschaft positiv
oder negativ bestimmt.
Fragt man nun nach dem Verhältnis von Religion und Kultur,
so kann man das wie folgt auf einen Nenner bringen: Die
Religion prägt zwar die Kultur, sie wird aber von der Kultur
getragen, anders formuliert, die Kultur lässt sich von der
Religion prägen, bleibt aber als wichtiger Träger der Religion
bestehen.
Das Ergebnis ist: Die Religion prägt die Kultur, die Kultur
trägt die Religion. Von der Harmonie bzw. Disharmonie zwischen
diesen beiden Phänomenen hängen die an jedem Ort und jeder
Zeit herrschenden Werte und Wertungssysteme ab.
Mir geht es hier darum, uns allen vor Augen zu führen, dass
der Islam in seiner langen Geschichte auf verschiedene Teile
der Erde nicht nur durch die Pflege und Weitergabe und anderen
daraus entnommenen Quellen in das Leben und die Herzen des
Menschen Eingang gefunden und diese Menschen als überzeugte
Muslime geprägt hat.
Vielmehr hat sich der Islam in einem größeren Maße durch
praktische Auswirkung in denjenigen Kulturen etabliert und das
Alltagsleben bestimmt, die wir islamische Kultur nennen.
Angefangen von hochgeistigen Errungenschaften, wie
Philosophie, Mystik, und anderen Wissenszweigen, bis hin zu
Lebenspraxis, wie Kleidung, Speisegewohnheiten, Volkssitten,
Freude, Trauer, Feste, Sprachen, Gedichte, Erzählkunst,
Märchen, Anekdoten, bestimmte Heldenfiguren, Sprichwörter, bis
hin zu bestimmten Verhaltensweisen zur Meisterung von
Problemen menschlicher Kommunikationsweise, wie das Verhältnis
des einzelnen zur Gemeinschaft und umgekehrt, das Verhältnis
Mann und Frau, das Familienleben, das Verhältnis der Bürger
zur Politik und den Politikern, die Beteiligung der einzelnen
an gesellschaftlicher Verantwortung; kurzum alle
unübersehbaren Details, die eine Gesellschaft als Ganzes
konstruieren und schließlich in einer unüberschaubaren
Wechselwirkung aller dieser einzelnen Elemente, die, die
Struktur der Gesellschaft ausmachen, enden.
Auf die Frage, was eigentlich den Menschen am meisten
prägt, die Religion oder die Kultur, können die Fakten Antwort
geben: Wir erleben z. B., dass ein Christ innerhalb eines
islamisch geprägten Kulturraumes mehr von der islamischen
Kultur in sich trägt, mehr durch die islamische Kultur geprägt
ist, als ein überzeugter, sogar praktizierender Muslim, der
nicht in einem islamischen Kulturraum, sondern in einem, z. B.
vom Christentum geprägten Kulturraum sein Leben verbringt. Es
kommt sogar so weit, dass nicht selten die christlichen
Gelehrten in einem islamisch geprägten Kulturraum mehr zur
Pflege und zum Erhalt des Islam beitragen, als viele andere
überzeugte Muslime.
Ich denke gerade an die Bücher von Giorgi Zaidan, den
arabischen Christen, der z. B. durch sein Buch über arabische
Literatur, Gedichte und Prosa, mehr zum arabisch - islamischen
Selbstbewusstsein beigetragen hat, als viele überzeugte
Muslime. Das was er bringt, ist zwar kein Koran und keine
Sunna, das sind aber Gedichte und Prosatexte, die zu 80 %
islamisch orientierte Inhalte haben.
Die Macht und die Gewalt der Kultur ist noch höher. Wie die
islamische Geschichte zeigt, sind es die gesellschaftlichen
und kulturellen Konstellationen, die jeweils die
verantwortlichen Persönlichkeiten des Islam herausgefordert
und eine neue Epoche eingeleitet haben. Dies waren gerade die
Begegnungen der großen Kulturen mit dem Islam, die, die
Verantwortlichen jener Zeit dazu brachten, im Sinne des Islam
eine neue Ordnung, eine islamische Ordnung zu schaffen.
Die gleiche kulturelle sogar intensivere Bewegung war erst
die, die, die Rechtsgelehrten im siebten, achten und neunten
Jahrhundert zur Gründung neuer Rechtssysteme bewegt haben.
Genau wie die Kultur in ihrer Dynamik die Religion
herausfordert, genauso kann die Kultur, die in sich keine
neuen Impulse entwickelt und auch nicht von außen beeinflusst
wird, dazu führen, dass die neuen Anregungen, die seitens der
Vertreter einer Religion dargeboten werden, nicht vom Volke
registriert werden. Hier liegt die Antwort auf die obige
Frage, warum Denker wie Averroes, Ibn Valdun und Imam
As-Satibi nicht in den islamischen Gemeinschaften von damals
anerkannt worden sind und gewirkt haben.
Dies ist aber heute nicht unser Hauptthema. Das eigentliche
Problem, mit dem wir uns auseinanderzusetzen haben, ist: Die
Religion und Kultur und ihr Verhältnis zueinander und ganz
besonders das Verhältnis der islamischen Lehre als Religion
zur islamischen Kultur. Es handelt sich dabei um eine neue
Herausforderung, die seit mehr als 200 Jahren von der
westlichen Kultur ausgeht. Eine kulturelle, geistige
Herausforderung, die sich von der in der Zeit des zweiten
Kalifen und der Entstehung verschiedener Rechtsschulen völlig
unterscheidet. Eine Herausforderung von außen.
Das Problem dabei war und ist stets mit politischen und
wirtschaftlichen Interessen verbunden, die Emotionen dagegen
heraufbeschworen hatten. Diese ablehnende Haltung bekam
Nahrung durch die missionarische Begleiterscheinungen, die
dazu führten, das Westliche schlechthin als antiislamisch zu
bewerten.‘
Notgedrungen haben die Muslime jedoch von der Technik bis
hin zu den Geisteswissenschaften alle westlichen
Wissenschaftszweige akzeptieren und pflegen müssen. Es blieb
und bleibt weitgehend auf dieser theoretischen Ebene kein
Widerstand mehr gegen die neuen westlichen Errungenschaften.
Im Gegenteil, die Tendenz bei allen geht dahin, sich diese
anzueignen, um auf der kulturellen Ebene mit dem Westen
Schritt halten zu können. Diese Begegnung, die praktische
Seite der westlichen Kultur, die man gerne mit der
Zivilisation gleichsetzt, hat jedoch Probleme verursacht.
Dies deswegen, weil unter der westlichen Zivilisation
meistens die auffallenden Äußerlichkeiten, die mehr ein
Kinoleben repräsentieren, propagiert werden. Diese Werte des
kulturellen Westens standen der islamischen Welt entgegen.
Gleichgültig, ob diese Werte wirklich islamischen Ursprungs
waren oder Volksbräuche. Danach ist ein gesellschaftlicher
Wandel unumgänglich gewesen. Für diesen Wandel haben nicht nur
die Vertreter der westlichen Kultur, also Europäer und
Amerikaner gesorgt, sondern auch Muslime, die in diesen
Ländern studiert haben und in ihre Heimatländer zurückkamen.
Auf die Gesamtkultur bezogen, hat man es mit einem völlig
heterogenen Komplex zu tun. Auf verschiedenen Ebenen laufen
geistige und praktische Werte westlicher und islamischer
Herkunft nebeneinander und durcheinander.
Während die Produkte der Wissenschaften wie Psychologie,
Soziologie, Politologie, Pädagogik, Philosophie. die in der
Tat als tragende Säulen einer Kultur gelten, in der
islamischen Welt Anerkennung fanden, traf und trifft man
auf einen Widerstand gegen Verhaltensweisen, die direkt oder
indirekt die herkömmliche Identität berührten.
Die Entwicklung hat zu keiner einheitlich konstruierten
Kultur geführt, die in der Lage gewesen wäre, mit dem Islam zu
harmonisieren. Aber auch die Religion Islam war und ist noch
nicht der Lage, ein so entstandenes Mischgebilde zu prägen.
Weder könnte eine solche Mischkultur in diesen Ländern, als
Ganzes betrachtet, in der Lage sein, den Islam in seiner
herkömmlichen Form zu tragen, noch ist der Islam in seiner
herkömmlichen Gestalt imstande, dieser Kultur eine islamische
Prägung zu geben.
Man könnte auch auf keines von beiden verzichten. Auf die
Religion kann man nicht verzichten, weil die islamischen
Länder auf die Dauer einen absoluten Säkularismus nicht
hinnehmen (Beispiel Türkei). Auf die Kultur kann man nicht
verzichten, weil ihr Untergang dem Westen gegenüber dann
besiegelt wäre.
Das Hauptproblem, um es auf einen Nenner zu bringen, ist
eine gewaltige Disharmonie zwischen Religion und Kultur. Diese
Disharmonie hat sogar zu großen Generationsproblemen geführt.
Die junge Generation, die durch Schule, Studium und höhere
Ausbildung in den westlichen Wissenschaften sich eine ganz
andere kulturelle Voraussetzung geschaffen hat, weiß wenig von
den eigenen kulturellen Werten und lässt sich nicht mehr von
derjenigen religiösen Argumentation überzeugen, die ihre
Eltern aufgrund ihrer herkömmlichen Kultur überzeugen konnte.
Eine offene oder latente geistige Krise war die Konsequenz
daraus, was das Thema des III. Abschnitts ist.