Hadschi Baba

Die Abenteuer des Hadschi Baba aus Isfahan

James Morier

Inhaltsverzeichnis

Dreißigstes Kapitel - Hadschi spielt sich als Doktor auf

Sobald Seneb verschwand, setzte ich mich auf dem Flecke nieder, wo wir vorher gestanden hatten, und versank in tiefstes Nachdenken. »Also diese Mandel hatte zwei Kerne,« sagte ich mir. »Gut! Wenn aber solche Dinge in der Welt vorkommen können, war ja alles, was mich seit zwei Monaten erfüllte, nichts weiter als ein törichter Traum? Ach! – war ich mir doch wie Medschnun, sie mir wie Leila erschienen, hatte ich doch geglaubt, daß wir beide ebensolange, als Sonne und Mond in ihren Bahnen kreisen, in unwandelbarer Zuneigung dahinschmelzen und unsre Herzen wie Kebab an unserer Liebesglut rösten würden! Zweifelsohne hatte man mich zum Narren gehabt! Der Schah erschien, schaute sie an, sagte zwei Worte, alles war vorüber: Hadschi ward im nächsten Augenblicke vergessen – und Seneb stolzierte mit einem königlichen Lächeln von dannen.«

Nach einer fieberhaft verbrachten Nacht erhob ich mich recht früh, voll von neuen Plänen, von meinem Lager. Ich beschloß, um meinen Gedanken recht ungestört nachhängen zu können, einen Spaziergang außerhalb der Stadt zu machen. Gerade als ich das Haus verließ, begegnete ich Seneb, die, von zahlreicher Dienerschaft umgeben, die ihr den Weg freimachte, auf einem reichgeschmückten Pferde saß, das ein Eunuche am Zügel führte. Ich hoffte, sie würde bei meinem Anblicke wenigstens einen Zipfel ihres Schleiers lüften –, aber nein; als sie sich nicht einmal aus ihrer kerzengeraden Haltung im Sattel rührte, ging ich, mehr denn je entschlossen jede Erinnerung an sie von mir zu weisen, meiner Wege. Doch anstatt zum Stadttore hinaus zu wandern, folgte ich ihr und befand mich mit einem Male, ohne es recht bemerkt zu haben, in der Nähe des königlichen Palastes.

Als ich den großen viereckigen Platz betrat, der sich unmittelbar vor dem Haupteingange befindet, war dieser dicht von Reiterei besetzt, die einer Musterung unterzogen wurde; der Schah, der in dem hochgelegenen Gemache saß, das dem Haupttore gegenüber liegt, nahm sie persönlich vor. Senebs Spur hatte ich im Gedränge verloren. Sie und ihr Gefolge durften es passieren, mich freilich hielten die Wachen zurück. Bald lenkte das militärische Schauspiel meine Gedanken in andere Bahnen. Die Truppen, welche inspiziert wurden, bestanden aus einer Reiterabteilung unter dem Kommando des Oberexekutors, eines gewissen Namerd Khan, der in goldenen Gewändern, das emaillierte, in der Sonne glitzernde Ornament auf dem Kopfe, ein prachtvolles Schlachtroß ritt. Es war das erstemal, daß ich einer Truppenmusterung beiwohnte. Der Anblick der Speere und Musketen brachte mir die Zeit, die ich bei den Turkmenen zugebracht hatte, so lebhaft in Erinnerung, daß alsbald die Sehnsucht nach einem Berufe körperlicher Betätigung neu in mir erwachte. Die zur Musterung bestimmte Truppe hatte auf der einen Seite des Platzes Stellung genommen. In der Mitte saß der Sekretär des Kriegsministeriums mit seinen sechs Schreibern, welche die verschiedenen Listen zu führen hatten. Auch zwei öffentliche Ausrufer waren in Tätigkeit; einer, der mit lauter Stimme den Namen des Soldaten schrie, während der andere, sobald der Gerufene besichtigt war, antwortete: »Hasir!« (hier). Sooft ein Mann gerufen wurde, löste sich dieser in voller Ausrüstung blitzschnell aus den geschlossenen Reihen, ritt, so schnell ihn sein Pferd trug, über den Platz, ohne zu versäumen, den Schah durch eine tiefe Verbeugung zu grüßen.

Die Erscheinungen dieser Berittenen wirkten höchst eigenartig verschieden. Einige ritten, wie richtige Rustems, flott und elegant drauflos, während andre, die sich womöglich ein Pferd zu dieser Gelegenheit hatten ausleihen müssen, daherzottelten, als läge schon ein heißer Schlachttag hinter ihnen. Manche meiner Bekannten befanden sich unter den Vorbeireitenden, ich jedoch bewunderte vor allem das flotte Auftreten eines jungen Mannes, der gerade sein Pferd scharf ausgreifen ließ, als dieses plötzlich durch irgendeinen unglücklichen Zwischenfall stürzte und seinen Reiter mit aller Wucht gegen einen in der Mitte der Reitbahn aufgerichteten Pfahl schleuderte. Der Verletzte wurde aufgehoben und durch die Menge getragen. Irgend jemand, der meine Zugehörigkeit zum Doktor des Schahs kannte, forderte mich auf, mich des Verletzten anzunehmen. Ohne mich auch nur im geringsten ob meiner Unwissenheit zu bangen, spielte ich mich sofort als Doktor auf. Den Verunglückten fand ich leblos auf dem Boden ausgestreckt liegen; alle Umstehenden hatten schon ausgiebig an ihm herumkuriert. Einer goß ihm im Namen des heiligen Hussein Wasser in die Kehle; ein andrer blies ihm Rauch in die Nase, um ihn zum Bewußtsein zu bringen; ein dritter knetete ihm Körper und Gliedmaßen, um die Blutzirkulation zu fördern. Sobald ich erschien, wurde mir Platz gemacht und die verschiedenen Prozeduren eingestellt. Mit feierlichem Ernste fühlte ich den Puls. Als alle Umstehenden fragend die Gesichter erhoben und einen entscheidenden Ausspruch meinerseits zu erwarten schienen, erklärte ich mit großem Nachdrucke, der Gestürzte sei ein Opfer seines Fatums; jetzt lägen Tod und Leben miteinander im Streite, wer ihn behalten dürfe. Auf diese Art (ganz so, wie es der Doktor zu machen pflegte) hatte ich meine Zuhörer schon auf das Schlimmste vorbereitet. Ich verordnete nun als erstes Mittel, dem ich noch manche andre folgen lassen wollte, den Patienten, um zu ergründen, ob er überhaupt noch am Leben sei, tüchtig zu schütteln. Wohl niemals wurde eine Verordnung prompter ausgeführt; denn die Volksmenge schüttelte ihn, bis alle Gliedmaßen verrenkt waren, doch ohne jeden Erfolg. Gerade als ich wieder etwas verordnen wollte, drang der Ruf durch die Menge »Rah beben« (macht Platz), und es erschien der fränkische Doktor, von dessen Geschicklichkeit ich schon früher einiges berichtete, den sein Gesandter, der Zeuge des Unfalles gewesen, herschickte und der, noch ehe er den Patienten zu Gesicht bekam, schrie: »Zapft ihm Blut ab – keine Minute darf gewartet werden!«

Da fühlte ich mich denn berufen, die Ehre der persischen Fakultät zu retten und Beweise meines eigenen Wissens zu geben, indem ich sagte: »Was soll denn diese Verordnung nützen? Wißt Ihr denn nicht, daß der Tod kalt und das Blut warm ist und der erste Lehrbegriff der Arzneikunde darin besteht, warme Mittel gegen kalte Krankheiten anzuwenden? So hat Bukrad, der Vater aller Ärzte, es vorgeschrieben, und sicherlich könnt Ihr nicht behaupten, daß dieser Unsinn lehrt. Entzieht Ihr diesem Körper Blut, so stirbt er ab so, und nun könnt Ihr hingehen und den Leuten erzählen, daß ich das behauptet hätte.«

»In diesem Falle«, sagte der fränkische Arzt, der den Gestürzten einstweilen untersucht hatte, »können wir uns jede weitere Mühe ersparen; er ist tot –, und ob kalt, ob warm, ist jetzt ganz einerlei.«

Er verabschiedete sich daraufhin, ich jedoch streckte trotz meines Bukrad etwas verdutzt die Nase in die Luft. »In diesem Falle siegte der Tod,« sagte ich. »Den göttlichen Gesetzen menschliche Weisheit entgegenstellen zu wollen, ist nutzlos. Ebensowenig als das Wasser eines Aquäduktes die Fluten eines Stromes zu überwinden vermöchte, ebensowenig vermögen wir Ärzte gegen das Schicksal auszurichten.«

Ein anwesender Molla befahl, die Füße des Leichnams der ›Kibleh‹  zuzuwenden, die großen Zehen zusammenzubinden, ein Taschentuch um das Kinn zu schlingen und auf dem Kopfe zuzubinden. Dann wiederholten die Umstehenden das Bekenntnis des wahren Glaubens. Als der Leichnam auf die Bahre gelegt wurde, um zu seiner Familie überführt zu werden, begannen einige der bereits versammelten Anverwandten die landesüblichen Totenklagen anzustimmen.

Wie ich erfuhr, war der Verstorbene ein Nessektschi gewesen, einer jener Offiziere, von denen hundertundfünfzig dem Oberexekutor beigegeben waren und seinem Befehle unterstanden. Ihr Amt war es, dem Schah auf seinen Märschen vorauszureiten, Volksansammlungen zu zerstreuen, die allgemeine Ordnung aufrecht zu erhalten, die Staatsgefangenen zu bewachen, sich überhaupt als Polizeioffiziere im ganzen Lande zu betätigen. Mir leuchtete sofort ein, wie angenehm und passend es für mich wäre, in die Fußstapfen des Verstorbenen zu treten, wieviel besser mein Charakter und meine Anlagen für einen derartigen Beruf paßten, als Mixturen zu brauen und Kranke zu besuchen. Als ich mir den Kopf zerbrach, wie es möglich wäre, diese Stellung zu erlangen, fiel mir ein, daß der Oberexekutor ein großer Freund Mirza Ahmaks sei und diesem zum größten Danke verpflichtet. Denn erst vor wenigen Tagen hatte der Doktor vermocht, dem Schah unter Eid zu versichern, der so streng verbotene Wein sei für sein Wohlergehen unumgänglich nötig. Daraufhin gab der oberste Gesetzgeber die Erlaubnis, Wein zu trinken, ein Privilegium, von dem der Oberexekutor in der unmäßigsten Weise Gebrauch machte. Ich beschloß darum, den Mirza um seine Fürsprache zu bitten und, wenn möglich, die Ströme bitteren Wassers, welche die Schicksalsquelle in den Becher des Verstorbenen gegossen hatte, für mich in süßesten Scherbett zu wandeln.

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