Vierzigstes Kapitel - Hadschis Aufenthalt an heiliger
Stätte
Kaum war ich den Nessektschi losgeworden, vernahm ich schon
die Stimme meines Freundes, des Derwisches, der seine Ankunft
in der heiligen Stadt, so wie es bei frommen Rechtgläubigen
ein häufiger Brauch ist, durch vielfache Anrufung des
Allmächtigen und seiner Eigenschaften kundgab.
Ich war ganz glücklich, ihn bald darauf auf mich zukommen
zu sehen und zu hören, wie er sich freute, daß ich das Asyl
erreicht, ehe mein Verfolger Zeit gefunden hatte, mich
festzunehmen.
Auf den Vorschlag des Derwisches hin, mir für kurze Zeit
Gesellschaft leisten zu wollen, nahmen wir eine der Zellen in
dem viereckigen Hofe in Besitz, der einen Teil der
Baulichkeiten bildet, in deren Mitte sich das Grabmal erhebt.
Glücklicherweise hatte ich mein Bargeld in der Tasche, das in
zwanzig Goldtomanen und einigen Silbermünzen bestand, davon
wir etliche verwendeten, um dringend nötige Dinge, als eine
Matte auf den blanken Fußboden und einen irdenen Wasserkrug,
zu erstehen.
»Ehe wir uns hier gänzlich einrichten, muß ich einige
Fragen an Euch stellen,« sagte der Derwisch. »Verrichtet Ihr
regelmäßig die vorgeschriebenen Gebete? Haltet Ihr die
gebotenen Fasttage? Nehmt Ihr auch die Waschungen regelmäßig
vor, oder fahrt Ihr fort, in einem Zustande zu verharren, so
wie wir in Meschhed lebten, was die allerbeste Vorbereitung
für die ewige Verdammnis ist?«
»Weshalb sagt Ihr mir das alles?« fragte ich. »Euch kann es
doch ganz einerlei sein, ob ich bete oder nicht?«
»Mir persönlich ist das auch höchst gleichgültig,«
antwortete er; »doch gerade für Euch ist es von höchster
Wichtigkeit. Dieses Kum ist eine Stadt, in der niemand die
Lippen öffnet, es sei denn, um über religiöse Dinge zu reden
oder festzustellen, wer die ewige Seligkeit verdient oder wer
zu verdammen ist. Jeder, den Ihr antrefft, ist entweder ein
Abkömmling des Propheten oder ein Schriftgelehrter. Alle
tragen vor lauter Abtötung lange Gesichter zur Schau und
betrachten jeden, der sich rosiger Wangen und lachender Augen
erfreut, als ein dem höllischen Feuer sicher verfallenes
Geschöpf. Sobald ich der heiligen Stadt näher komme, bemühe
ich mich, meine Heiterkeit zu verbergen, zeige, je nachdem es
die Umstände erheischen, umwölkte, verdüsterte, ja sogar
völlig verfinsterte Mienen. Meine Knie, die sonst niemals mit
einem Gebetsteppich in Berührung kommen, beugen sich hier
fünfmal am Tage; ich, der sich sonst nur nach der Kibleh
seines Vergnügens und seiner Launen richtet, kenne hier nur so
gut, wie den Weg zu meinem Munde, die wahre Kibleh!«
»Das ist ja alles recht gut,« meinte ich, »aber was soll
mir das helfen? Ich bin zwar ein Muselmann, doch alle diese
Dinge so auf die Spitze zu treiben – nein, das tue ich
nimmermehr!«
»Was es Euch helfen soll?« antwortete der Derwisch. »Es
wird Euch vor dem Hungertode erretten oder vom
Gesteinigtwerden. Die Priester hier kennen keinen Mittelweg;
Ihr seid entweder ein Strenggläubiger oder ein Glaubensloser.
Hätten sie den leisesten Verdacht, Ihr könntet an irgendeinem
Glaubenssatze zweifeln, den Koran nicht wie ein lebendiges
Wunder betrachten, ihn nicht mit der größten Ehrfurcht lesen,
ob Ihr ihn versteht oder nicht, so würden sie Euch sehr bald
zeigen, welche Macht sie besitzen. Und wenn sie in Euch nun
gar einen ›Sufi‹ oder Freigeist vermuteten, sie würden Euch,
beim Tode Eures Vaters und Eurer Mutter, in kleine Stücke
zerreißen, jedoch beim Gedanken, durch diese Tat einen Schritt
auf dem schmalen Wege zum Paradiese vorwärts getan zu haben,
hohe Befriedigung empfinden. Ihr wißt wohl noch gar nicht,
Freund Hadschi, daß hier der Wohnsitz des ersten ›Mudschtähid‹
(Gottesgelehrten) von ganz Persien ist? Er ist ein Mann von so
großem Einflusse, daß, wenn er es sich angelegen sein ließe,
das Volk jeden willkürlich von ihm aufgestellten Glaubenssatz
sofort für wahr annehmen würde. Sein Einfluß ist ein so
großer, daß viele behaupten, er besitze weit mehr Macht als
der Schah, dessen königliche Fermane ihnen wie unnütz
verschwendetes Papier erscheinen. Tatsächlich ist er aber ein
ganz guter Mann, dem ich, außer daß er ›Sufis‹ steinigt und
uns Wanderwische nicht höher als den Kot unter seinen Füßen
achtet, nichts Böses nachsagen könnte.«
Nachdem er ausgeredet hatte, gab ich zu, es sei
beklagenswert, daß ich die Ausübung meiner religiösen
Pflichten nahezu vergessen hätte. Aber angesichts meiner Lage,
die gebieterisch erfordere, der hohen Geistlichkeit, die mich
aus nächster Nähe beobachtete, die nötige Achtung einzuflößen,
wolle ich mir die größte Mühe geben, mich wieder recht in der
Frömmigkeit einzuüben, machte mich auch darum sofort daran,
meine Gebete herzusagen und meine Waschungen zu verrichten,
als hinge von der Regelmäßigkeit dieser Pflichterfüllung meine
ganze Existenz ab. Wahrlich das, was ich früher als lästige
Zeremonie empfunden hatte, ward mir nun ein willkommener
Zeitvertreib, der mir half, mein monotones Leben leichter zu
ertragen. Des Morgens beim ersten Weckrufe stand ich auf, um
meine Waschungen in der Zisterne nach den strengsten
Gebräuchen der Schiiten vorzunehmen; zum Beten aber suchte ich
mir einen besonders günstigen Platz aus, wo meine Frömmigkeit
allen so recht in die Augen fallen mußte. Kein Angesicht
schien durch Kasteiung verheerter als das meine. Selbst dem
Derwisch, der ein ganz vollendeter Schauspieler war, gelangen
die niedergeschlagenen Augen, die unnatürliche Schweigsamkeit,
die heuchlerischen Stoßgebete, kurz, das ganze sauertöpfische,
hoffärtige und bigotte Wesen des Schriftgelehrten nicht besser
als mir. Da ich mich gänzlich den Gepflogenheiten des heiligen
Ortes anpaßte und den strenggläubigen Muselmann spielte, es
sich auch herumgesprochen hatte, ich hätte mich ins Heiligtum
flüchten müssen, ward ich auch aller mir vom Derwische
verheißenen Vorteile inne. Dieser, der allerwärts meine
traurigen Erlebnisse verbreitete, betonte sehr zu meinen
Gunsten, daß eigentlich der Doktor hätte gestraft werden
sollen und ich jetzt für andrer Leute Sünden büßen müßte. Ich
lernte die angesehensten Leute kennen, die alle darin einig
waren, ich sei für sie das Muster eines frommen
Rechtgläubigen; und hätte ich die Mauern des Heiligtums
verlassen können, so wäre die Wahl eines ›Pisch-nemaz‹
(Vorbeters) bei ihren religiösen Versammlungen in der Moschee
sicher auf mich gefallen.
Ich befliß mich tiefster Schweigsamkeit, die mir das beste
Mittel schien, um den Ruf größter Weisheit zu erlangen; und
mit Hilfe meiner Gebetsperlen, die ich unter stetem Gemurmel,
zeitweiligen Seufzern und frommen Ausrufen beständig durch
meine Finger gleiten ließ, eröffneten sich mir Wege, die mich
zu höchstem Ansehen führen konnten. Mein Derwisch und ich
wurden so reichlich mit Nahrung versehen, daß wir fast nichts
auszugeben brauchten. Besonders die Frauen ließen keine
Gelegenheit vorübergehen, uns Geschenke von Früchten, Honig,
Brot und anderm zu bringen, für die ich ihnen mit freundlichen
Worten dankte und mich hier und da durch einen
selbstgeschriebenen Talisman erkenntlich erwies.