Sechsundfünfzigstes Kapitel - Nadan wird an Stelle
Hadschis verhaftet
Zehn endlose, langweilige Tage hatte ich schon in meinem
Schlupfwinkel verbracht, ohne das mindeste von Molla Nadan zu
hören. Ich argwöhnte, die Gestirne ständen noch immer so
ungünstig für ihn, daß sein Unternehmen dennoch nicht so gut
abgelaufen sein könnte, als er erwartete.
Da nur selten Nachrichten aus der Stadt ins Dorf gelangten,
so verzweifelte ich schon, je wieder etwas von meinem Pferde,
meinen Kleidern und meinem kostbaren Sattelzeuge zu erfahren.
Eines Abends jedoch kehrte ein Bauer unzufrieden aus Hamadan
zurück, weil es ihm nicht geglückt war, sich auf dem dortigen
Markte als Feldarbeiter zu verdingen. Seine Reden bestätigten
einigermaßen meine Befürchtungen. Er berichtete nämlich, die
Ankunft eines Nessektschis habe in der Hauptstadt
ungewöhnliches Aufsehen erregt, weil er den Sohn seines Agas
(Dorfherrn), nachdem er ihm sein Pferd beschlagnahmt, gefangen
genommen und unter dem schweren Verdachte, er sei der Mörder
des Molla-Baschi, nach Teheran abgeführt hätte. Ich überlasse
es dem verehrten Leser, sich vorzustellen, was ich bei dieser
Nachricht empfinden mußte. Das Schweigen Nadans war nun
sattsam erklärt, ich aber war mir, wenn ich mich auch im
Augenblicke sicher fühlte, doch aller Gefahren, die früher
oder später auf mich lauerten, wohlbewußt. Von den
gastfreundlichen Dorfbewohnern nahm ich, nachdem ich ihnen
erklärt hatte, wieder vollkommen hergestellt zu sein, hastig
Abschied und machte mich eiligst auf den Weg nach Hamadan, um
zu erfahren, inwieweit die Erzählung des Bauern auf Wahrheit
beruhe.
Nadans Vater war eine so wohlbekannte Persönlichkeit in der
Stadt, daß ich sein Haus ohne Schwierigkeit fand. Ich wollte
aber weder dort noch anderswo unmittelbare Erkundigungen nach
dem Schicksale meines Freundes einziehen, sondern trat in eine
naheliegende Barbierstube ein, einerseits, um mit Hilfe des
Besitzers meinen Bart und meinen Kopf in eine anständige
Verfassung zu bringen, andrerseits, weil mir der Mann ganz
geeignet schien, den wahren Sachverhalt zu erzählen.
Seine Geschwätzigkeit und sein aufdringliches Wesen
entsprachen ganz meinen Erwartungen. Als ich ihn nach den
Neuigkeiten des Tages fragte und tat, als wüßte ich gar nichts
von den letzten aufsehenerregenden Vorkommnissen, trat er zwei
Schritte zurück und rief: »Woher kommt Ihr, um noch nichts von
den Greueltaten dieses Hundes Molla Nadan zu wissen? – Nicht
zufrieden damit, den Oberpriester ermordet zu haben, mußte er
sich auch noch in seine Kleider stecken; und damit wiederum
nicht zufrieden, hat er noch obendrein das beste Pferd des
Oberexekutors gestohlen. Wunderlichen Kot hat er gefressen!«
Ich ersuchte meinen Berichterstatter, mir alle Einzelheiten
dieser mir völlig unbekannten Begebenheit zu schildern, und
ohne sich ein zweites Mal bitten zu lassen, erzählte er mir
folgendes: »Es mögen zehn Tage her sein, daß dieser Nadan vor
dem Tore seines Vaterhauses auf einem prachtvollen, in
reichster Weise aufgezäumten Pferde ankam, das viel eher für
einen Khan oder Kriegsmann paßte, als es einem demütigen
Diener Gottes anstand. Er war in Schals der feinsten Sorte
gekleidet und sah in der Tat wie der Oberpriester selbst aus.
Sein Erscheinen in diesem modischen Anzuge und auf einem
solchen Pferde erregte natürlich ein ungeheures Aufsehen,
zudem erst vor kurzem das Gerücht hierher gedrungen war, er
habe sich die Ungnade des Schahs zugezogen und sei auf die
schimpflichste Art aus Teheran hinausgejagt worden. Beim
Absteigen gab er sich ein schrecklich wichtiges Ansehen. Als
man ihn aber nach der Vertreibung aus der Hauptstadt befragte,
schien er sich sehr wenig daraus zu machen; er sagte, man habe
ihm heimlicherweise zu verstehen gegeben, diese Ungnade sei
nur eine augenblickliche, und habe ihm, um sie zu mildern, das
Pferd geschenkt, auf dem er reite. Da jedermann die Sache
glaubhaft fand, wurde er im Vaterhause mit den größten
Ehrenbezeugungen empfangen. Höchst unglücklicherweise jedoch
ritt am nächsten Tage, gerade als er vorhatte, sich der
Bevölkerung auf seinem edlen Pferde zu zeigen, ein Nessektschi,
der soeben aus Teheran angekommen war, an seinem Hause
vorüber. Dieser machte Halt, betrachtete zuerst aufmerksam das
Pferd, untersuchte hierauf den Sattel mit dem Goldknopf und
rief: ›La Allah ill Allah!‹ Er erkundigte sich hierauf bei den
Umstehenden, wem dies Pferd gehöre, um zu erfahren, es sei das
Eigentum des Molla Nadan. ›Des Molla Nadan?‹ rief er aufs
höchste empört, ›wessen Hund ist er? Dies Pferd hier ist das
Eigentum meines Herrn, des Oberexekutors; und wer sagt, das
sei nicht wahr, der ist, ob Molla oder nicht, ein Lügner!‹
»Inzwischen war der Angeklagte selbst erschienen, der, als
er sah, was vorging, sich vor dem Nessektschi zu verstecken
suchte, da es sich zufälligerweise traf, daß dieser einer der
Offiziere war, die ihn am Tage seiner Schmach durch die Stadt
geführt hatten. Er überblickte sofort, da er die Kleider und
den Turban des Verstorbenen trug, die ganze Gefahr seiner Lage
und würde sich sicher gleich aus dem Staube gemacht haben,
hätte ihn der Nessektschi nicht alsbald erkannt und laut
gerufen: ›Ergreift ihn, nehmt seine Seele, das ist er! – das
ist der Übeltäter! Glückbringende Sterne, habt Dank! Beim
Haupte Alis, beim Barte des Propheten, das ist der verruchte
Schurke, der den Oberpriester ermordete und meinem Herrn das
Pferd stahl!‹ – Der Nessektschi, der mittlerweile abgestiegen
war, nahm mit Hilfe seines Begleiters und der Umstehenden, die
gar bald merkten, er handle im Namen des Gesetzes, den Molla
gefangen, der mit hundert Eiden beteuerte, er wolle auf den
Koran schwören, daß er weder der Mörder noch der Dieb sei.«
Der Barbier berichtete mir getreulichst alle Einzelheiten
der zwischen dem Molla und dem Nessektschi stattgefundenen
Unterredung, deren Endergebnis war, daß Nadan, ungeachtet
aller Schritte, die sein Vater und seine Freunde zu seinen
Gunsten taten, als Gefangener nach Teheran abgeführt wurde.
Wohl niemals ward eine menschliche Brust von so
widerstreitenden Gefühlen zerrissen wie die meine, als mir der
Barbier mitteilte, welch schreckliches Schicksal meinen
Gefährten erreicht hatte. Im ersten Augenblicke beklagte ich
den Verlust meines reichgezäumten Pferdes und meiner kostbaren
Kaschmirgewänder. Im nächsten jedoch beglückte mich die
Empfindung völliger Sicherheit und der Gedanke, daß, wenn der
arme Nadan auch allenfalls seinen Kopf verlieren sollte, man
mich niemals mehr wegen meiner jüngst begangenen
Schlechtigkeiten zur Rechenschaft ziehen würde. Auch konnte
ich nicht umhin, mich unter dem besonderen Schutze eines guten
Sternes zu wähnen, und zog daraus den Schluß, daß der Molla
unfehlbar zum Unglück auserkoren sein mußte. Weshalb hätte er
sonst die Kleider mit mir vertauscht und mein Pferd zu einem
Zeitpunkte von mir verlangt, wo ich nur mit Widerstreben auf
seinen Vorschlag einging?
Aber obgleich alle Wahrscheinlichkeit vorlag, daß er die
mir gebührende Strafe erleiden müsse, fühlte ich mich, solange
ich im Vaterlande verweilte, nicht mehr in Sicherheit und
entschloß mich darum, auf meine frühere Absicht, Persien
unverzüglich zu verlassen, zurückzukommen. Über den Verlust
meines Pferdes und meiner Gewänder tröstete ich mich mit
meinen fünfundneunzig Toman, die für meine Bedürfnisse
hinlänglich ausreichten, und mit den trostspendenden Worten
›Khoda buzurg est!‹ (Gott ist groß), die für mich, wie für so
viele andre arme Teufel, die einzige Versorgung für die
Zukunft bedeuteten und den einzigen Schutz gegen alle von der
Hand des Schicksals für uns vorbereiteten unvorhergesehenen
Übel bildeten.