Ein Fremder aus Raumland
Von
Träumen gehe ich zu Tatsachen über. Es war ein trauriger Tag.
An dem Tag war eine der heiligsten Persönlichkeiten unserer
Generation verstorben. Ich saß neben meiner Frau und dachte
über die Ereignisse des vergangenen und die Aussichten des
kommenden Jahres nach, über das kommende Jahrzehnt, das
kommende Jahrhundert, das bevorstehende Jahrtausend. Wenn ich
sage „saß“, so meine ich damit natürlich nicht irgendeine
Änderung der Haltung, wie bei Ihnen in Raumland; denn da wir
keine Füße haben, können wir ebenso wenig „sitzen“ oder
„stehen“ in Ihrem Sinne. Nichtsdestoweniger kennen wir doch
die verschiedenen geistigen Willenszustände sehr genau, die
mit „Liegen“, „Sitzen“ und „Stehen“ verbunden sind; in einem
gewissen Grade zeigen sie sich dem Beschauer durch eine
schwache Zunahme des Leuchtens an, die der Zunahme der
Willensanstrengung entspricht. Aber bei diesen und tausend
anderen Themen zu verweilen, verbietet mir die Zeit und die
Aufmerksamkeit des Lesers, der ja auf das Wesentliche kommen
möchte.
Ich war in
Gedanken vertieft und erwog in meinem Sinn einige Worte, die
gelegentlich mein jüngster Enkel, geäußert hatte, inzwischen
ein stattliches dünnes Rechteck von ungewöhnlichen
Fähigkeiten, eines Tages ein Kreis zu werden. Seine Onkel und
ich waren dabei gewesen, zusammen unsere täglichen
Übungsstunden im Seherkennen zu wiederholen, indem wir uns um
unsere Mittelpunkte drehten, einmal schnell, dann wieder
langsamer, und einander nach unseren Stellungen fragten. Der
Fleiß meines Enkels in allen Belangen und seine Güte waren so
zufrieden stellend gewesen, dass ich mich bewogen fühlte, ihn
zu belohnen, indem ich ihm einige Winke aus der Arithmetik
gab, die in der Geometrie anwendbar sind. Ich hatte neun
Quadrate genommen, jedes einen Zentimeter lang und breit, und
hatte sie so zusammengestellt, dass sie ein großes Quadrat
bildeten, mit einer Seite von drei Zentimetern, und daraus
hatte ich meinem Enkel bewiesen, dass obwohl es für uns
unmöglich war, das Innere des Quadrates zu sehen, wir doch die
Anzahl von Quadratzentimetern in einem Quadrat feststellen
könnten, indem wir einfach die Zahl der Zentimeter einer Seite
quadrierten. „Und so“, sagte ich, „wissen wir, dass
falls 9 die Zahl der Quadratzentimeter in einem Quadrat
darstellt, dessen Seite 3 Zentimeter lang sein muss.“
Bild 6:
Eine Figur von 3 hoch 2 Zentimetern, also 3 mal 3
Mein Enkel
dachte darüber ein Weilchen nach und sagte dann zu mir:
„Aber du hast mich doch auch gelehrt, Zahlen in die dritte
Potenz zu erheben; ich vermute, 3 hoch 3, also 3 mal 3 mal 3,
muss auch etwas in der Geometrie bedeuten; was bedeutet es?“
– Was für eine Frage? So etwas konnte nur von der naiven Seele
eines jungen Rechtecks kommen: „3 hoch 3 bedeutet überhaupt
nichts“, sagte ich aus voller Überzeugung, „zumindest
nichts in der Geometrie, denn die Geometrie hat nur zwei
Dimensionen“.
Und dann
fing ich an, dem Jungen zu zeigen, wie ein Punkt, wenn man ihn
drei Zentimeter weiter bewegt, eine Linie von drei Zentimetern
beschreibt, die dargestellt werden kann durch 3; und wie eine
weitere Linie von drei Zentimetern, in einem Winkel von 90
Grad an die erste Linie angeschlossen die zweite Seite eines
Quadrats von drei Zentimeter Seitenlänge beschreibt, welches
durch 3 hoch 2 dargestellt werden kann, also 3 mal 3. Da
brachte mich mein Enkel, der zu seiner ersten Vermutung
zurückgekehrt war, aus der Fassung, indem er rief: „Na,
wenn ein Punkt dadurch, dass er sich drei Zentimeter weiter
bewegt, eine Linie von drei Zentimeter beschreibt, und wenn
eine zweite gerade Linie von drei Zentimeter dadurch, dass sie
senkrecht zur ersten angehängt zwei Seiten eines Quadrats von
drei Zentimeter Seitenlänge beschreibt, dargestellt durch 3
hoch 2, dann muss ein Quadrat von drei Zentimeter Seitenlänge
dadurch, dass es irgendwie senkrecht zu sich selbst bewegt
wird – aber ich weiß nicht wie – ein Irgendetwas von drei mal
drei mal drei Zentimetern beschreiben, und dies muss
dargestellt werden durch 3 hoch 3.“ – „Hören wir auf“,
sagte ich ein bisschen ärgerlich über seine Unterbrechung,
„wenn du weniger Unsinn reden würdest, würde es dir sehr
dienlich sein!“ So hatte ich meinen Enkel in Ungnade
entlassen, saß nun neben meiner Frau und konnte die Gedanken
nicht ganz abschütteln, die mir der Knirps von einem
unausgereiften Rechtecks eingeflößt hatte. Die Zeit war schon
spät und ich sagte laut: „Der Junge ist ein Narr.“
In diesem
Augenblick wurde ich der Gegenwart eines Wesens im Zimmer
bewusst, und wie ein kalter Hauch ging es mir durch und durch,
aber ich ließ es mir nicht anmerken. „Er ist kein Narr“,
rief meine Frau, „und du vergehst dich gegen die gute
Sitte, wenn du deinen eigenen Enkel so schmähst.“ Aber ich
achtete nicht auf sie. Ich sah mich nach allen Seiten um,
konnte aber nichts entdecken, und doch fühlte ich sehr
deutlich, dass etwas da war, und schauderte, als wieder ein
kalter Hauch kam. Ich sprang auf. „Was ist los?“, sagte
meine Frau, „Was suchst du? Da ist doch nichts?!“ Es
war nichts da; ich nahm meinen Sitz wieder ein und sagte
nochmals: „Der Junge ist ein Narr. Drei hoch drei kann
keine Bedeutung in der Geometrie haben. Drei hoch zwei
Zentimeter ist ein Quadrat mit neun Quadratzentimeter, aber
was sollte drei hoch drei denn sein, ein Quadrat mit 27
Quadratzentimetern oder was?“
Mit einem
Male kam eine deutlich hörbare Entgegnung scheinbar aus dem
Nichts: „Der Junge ist kein Narr, und 3 hoch 3 hat eine
sinnfällige geometrische Bedeutung.“ Sowohl meine Frau wie
auch ich hörten die Worte, und beide stürzten wir vorwärts in
die Richtung der Stimme. Was für ein Schreck, als wir eine
Gestalt vor uns sahen! Auf den ersten Blick schien es eine
sehr gelehrte Frau, also ein Oval zu sein, von der Seite
gesehen; aber eine ganz kurze Beobachtung zeigte mir, dass die
Enden zu schnell in Verschwommenheit übergingen, und ich hätte
es auch für einen Kreis halten können, also einen sehr
gelehrten Mann, nur dass seine Größe sich beständig in einer
Art und Weise änderte, die für einen Kreis oder irgendeine
andere regelmäßige Figur in Flächenland unmöglich war.
Aber meine
Frau hatte weder meine Erfahrung noch die nötige Gelassenheit,
um diese Merkmale zu beobachten. Durch diese Erscheinung
völlig verschreckt und ihrer selbst unsicher rief meine Frau:
„Wie kommt diese Person in das Haus? - Du hast mir doch
versprochen, dass du niemals ohne mein Wissen eine fremde Frau
in das Haus mitbringst.“ – „Ich habe auch keine
mitgebracht“, sagte ich, „aber warum glaubst du, dass
der Fremde eine Frau ist?“
Irgendwie
waren wir beide unsicher, aber meine Frau fasste Mut und ging
auf das Wesen, dass Sie immer noch für eine Frau hielt, zu. In
ihrer vornehmsten Art fragte sie: „Gestatten Sie, meine
Dame, dass ich sie betaste?“, aber dann, plötzlich
zurückweichend, wusste auch sie, dass es keine Frau war.
Irgendetwas stimmte mit dem Wesen nicht. Meine Frau fügte
daher sofort hinzu: „Verzeihen Sie, lieber Besucher, wir
wollten sie nicht kränken, kann es sein, dass ich
versehentlich einem vollkommenen Kreise zu nahe getreten bin?“
– „Ich bin in der Tat in gewissem Sinne ein Kreis, und ein
vollkommenerer Kreis als irgendeiner in Flächenland“,
erwiderte die Stimme sehr höflich, „um es genauer zu sagen,
ich bin unendlich viele Kreise zugleich.“ Und er fügte
freundlich hinzu: „Wir haben Ihre Familie schon seit langer
Zeit beobachtet, und Sie gehören zu den gutherzigsten Menschen
in Flächenland. Daher habe ich den Auftrag bekommen, Ihnen ein
wenig Ihre Herzen zu öffnen und Ihnen die Schönheit einer Welt
zu zeigen, von der Sie noch nichts kennen.