Flächenland
Flächenland für Gläubige

von

Yavuz Özoguz

und

Huseyin Özoguz

Inhaltsverzeichnis

Ein Fremder aus Raumland

Von Träumen gehe ich zu Tatsachen über. Es war ein trauriger Tag. An dem Tag war eine der heiligsten Persönlichkeiten unserer Generation verstorben. Ich saß neben meiner Frau und dachte über die Ereignisse des vergangenen und die Aussichten des kommenden Jahres nach, über das kommende Jahrzehnt, das kommende Jahrhundert, das bevorstehende Jahrtausend. Wenn ich sage „saß“, so meine ich damit natürlich nicht irgendeine Änderung der Haltung, wie bei Ihnen in Raumland; denn da wir keine Füße haben, können wir ebenso wenig „sitzen“ oder „stehen“ in Ihrem Sinne. Nichtsdestoweniger kennen wir doch die verschiedenen geistigen Willenszustände sehr genau, die mit „Liegen“, „Sitzen“ und „Stehen“ verbunden sind; in einem gewissen Grade zeigen sie sich dem Beschauer durch eine schwache Zunahme des Leuchtens an, die der Zunahme der Willensanstrengung entspricht. Aber bei diesen und tausend anderen Themen zu verweilen, verbietet mir die Zeit und die Aufmerksamkeit des Lesers, der ja auf das Wesentliche kommen möchte.

Ich war in Gedanken vertieft und erwog in meinem Sinn einige Worte, die gelegentlich mein jüngster Enkel, geäußert hatte, inzwischen ein stattliches dünnes Rechteck von ungewöhnlichen Fähigkeiten, eines Tages ein Kreis zu werden. Seine Onkel und ich waren dabei gewesen, zusammen unsere täglichen Übungsstunden im Seherkennen zu wiederholen, indem wir uns um unsere Mittelpunkte drehten, einmal schnell, dann wieder langsamer, und einander nach unseren Stellungen fragten. Der Fleiß meines Enkels in allen Belangen und seine Güte waren so zufrieden stellend gewesen, dass ich mich bewogen fühlte, ihn zu belohnen, indem ich ihm einige Winke aus der Arithmetik gab, die in der Geometrie anwendbar sind. Ich hatte neun Quadrate genommen, jedes einen Zentimeter lang und breit, und hatte sie so zusammengestellt, dass sie ein großes Quadrat bildeten, mit einer Seite von drei Zentimetern, und daraus hatte ich meinem Enkel bewiesen, dass obwohl es für uns unmöglich war, das Innere des Quadrates zu sehen, wir doch die Anzahl von Quadratzentimetern in einem Quadrat feststellen könnten, indem wir einfach die Zahl der Zentimeter einer Seite quadrierten. „Und so“, sagte ich, „wissen wir, dass falls 9 die Zahl der Quadratzentimeter in einem Quadrat darstellt, dessen Seite 3 Zentimeter lang sein muss.

 

Bild 6: Eine Figur von 3 hoch 2 Zentimetern, also 3 mal 3

Mein Enkel dachte darüber ein Weilchen nach und sagte dann zu mir: „Aber du hast mich doch auch gelehrt, Zahlen in die dritte Potenz zu erheben; ich vermute, 3 hoch 3, also 3 mal 3 mal 3, muss auch etwas in der Geometrie bedeuten; was bedeutet es?“ – Was für eine Frage? So etwas konnte nur von der naiven Seele eines jungen Rechtecks kommen: „3 hoch 3 bedeutet überhaupt nichts“, sagte ich aus voller Überzeugung, „zumindest nichts in der Geometrie, denn die Geometrie hat nur zwei Dimensionen“.

Und dann fing ich an, dem Jungen zu zeigen, wie ein Punkt, wenn man ihn drei Zentimeter weiter bewegt, eine Linie von drei Zentimetern beschreibt, die dargestellt werden kann durch 3; und wie eine weitere Linie von drei Zentimetern, in einem Winkel von 90 Grad an die erste Linie angeschlossen die zweite Seite eines Quadrats von drei Zentimeter Seitenlänge beschreibt, welches durch 3 hoch 2 dargestellt werden kann, also 3 mal 3. Da brachte mich mein Enkel, der zu seiner ersten Vermutung zurückgekehrt war, aus der Fassung, indem er rief: „Na, wenn ein Punkt dadurch, dass er sich drei Zentimeter weiter bewegt, eine Linie von drei Zentimeter beschreibt, und wenn eine zweite gerade Linie von drei Zentimeter dadurch, dass sie senkrecht zur ersten angehängt zwei Seiten eines Quadrats von drei Zentimeter Seitenlänge beschreibt, dargestellt durch 3 hoch 2, dann muss ein Quadrat von drei Zentimeter Seitenlänge dadurch, dass es irgendwie senkrecht zu sich selbst bewegt wird – aber ich weiß nicht wie – ein Irgendetwas von drei mal drei mal drei Zentimetern beschreiben, und dies muss dargestellt werden durch 3 hoch 3.“„Hören wir auf“, sagte ich ein bisschen ärgerlich über seine Unterbrechung, „wenn du weniger Unsinn reden würdest, würde es dir sehr dienlich sein!“ So hatte ich meinen Enkel in Ungnade entlassen, saß nun neben meiner Frau und konnte die Gedanken nicht ganz abschütteln, die mir der Knirps von einem unausgereiften Rechtecks eingeflößt hatte. Die Zeit war schon spät und ich sagte laut: „Der Junge ist ein Narr.

In diesem Augenblick wurde ich der Gegenwart eines Wesens im Zimmer bewusst, und wie ein kalter Hauch ging es mir durch und durch, aber ich ließ es mir nicht anmerken. „Er ist kein Narr“, rief meine Frau, „und du vergehst dich gegen die gute Sitte, wenn du deinen eigenen Enkel so schmähst.“ Aber ich achtete nicht auf sie. Ich sah mich nach allen Seiten um, konnte aber nichts entdecken, und doch fühlte ich sehr deutlich, dass etwas da war, und schauderte, als wieder ein kalter Hauch kam. Ich sprang auf. „Was ist los?“, sagte meine Frau, „Was suchst du? Da ist doch nichts?!“ Es war nichts da; ich nahm meinen Sitz wieder ein und sagte nochmals: „Der Junge ist ein Narr. Drei hoch drei kann keine Bedeutung in der Geometrie haben. Drei hoch zwei Zentimeter ist ein Quadrat mit neun Quadratzentimeter, aber was sollte drei hoch drei denn sein, ein Quadrat mit 27 Quadratzentimetern oder was?“

Mit einem Male kam eine deutlich hörbare Entgegnung scheinbar aus dem Nichts: „Der Junge ist kein Narr, und 3 hoch 3 hat eine sinnfällige geometrische Bedeutung.“ Sowohl meine Frau wie auch ich hörten die Worte, und beide stürzten wir vorwärts in die Richtung der Stimme. Was für ein Schreck, als wir eine Gestalt vor uns sahen! Auf den ersten Blick schien es eine sehr gelehrte Frau, also ein Oval zu sein, von der Seite gesehen; aber eine ganz kurze Beobachtung zeigte mir, dass die Enden zu schnell in Verschwommenheit übergingen, und ich hätte es auch für einen Kreis halten können, also einen sehr gelehrten Mann, nur dass seine Größe sich beständig in einer Art und Weise änderte, die für einen Kreis oder irgendeine andere regelmäßige Figur in Flächenland unmöglich war.

Aber meine Frau hatte weder meine Erfahrung noch die nötige Gelassenheit, um diese Merkmale zu beobachten. Durch diese Erscheinung völlig verschreckt und ihrer selbst unsicher rief meine Frau: „Wie kommt diese Person in das Haus? - Du hast mir doch versprochen, dass du niemals ohne mein Wissen eine fremde Frau in das Haus mitbringst.“ – „Ich habe auch keine mitgebracht“, sagte ich, „aber warum glaubst du, dass der Fremde eine Frau ist?“

Irgendwie waren wir beide unsicher, aber meine Frau fasste Mut und ging auf das Wesen, dass Sie immer noch für eine Frau hielt, zu. In ihrer vornehmsten Art fragte sie: „Gestatten Sie, meine Dame, dass ich sie betaste?“, aber dann, plötzlich zurückweichend, wusste auch sie, dass es keine Frau war. Irgendetwas stimmte mit dem Wesen nicht. Meine Frau fügte daher sofort hinzu: „Verzeihen Sie, lieber Besucher, wir wollten sie nicht kränken, kann es sein, dass ich versehentlich einem vollkommenen Kreise zu nahe getreten bin?“ –  „Ich bin in der Tat in gewissem Sinne ein Kreis, und ein vollkommenerer Kreis als irgendeiner in Flächenland“, erwiderte die Stimme sehr höflich, „um es genauer zu sagen, ich bin unendlich viele Kreise zugleich.“ Und er fügte freundlich hinzu: „Wir haben Ihre Familie schon seit langer Zeit beobachtet, und Sie gehören zu den gutherzigsten Menschen in Flächenland. Daher habe ich den Auftrag bekommen, Ihnen ein wenig Ihre Herzen zu öffnen und Ihnen die Schönheit einer Welt zu zeigen, von der Sie noch nichts kennen.

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