Abu Jaafar (Erzählende: Hosseinollah Karam, Farajollah
Moradian)
In den letzten Tagen des Jahres 1359 verbreitete sich die
Nachricht, dass die iranischen Soldaten einen weiteren Einsatz
auf den Höhen Bazideraz planen. Zeitgleich sollte das
Andarzguh-Team auch eine Militäroperation im Feindesgebiet
beginnen. Für diesen Einsatz wurden außer Ibrahim auch Wahab
Ghanbari, Reza Gudini und ich ausgewählt. Schahrokh Nurai und
Heschmat Kuhpeykar von den einheimischen Kurden schlossen sich
uns ebenfalls an.
Wir versorgten uns mit genug Lebensmitteln, Waffen und
nahmen auch ein Dutzend Bodenminen mit. Es wurde schon dunkel
als wir uns aufmachten. Dann, während wir das
Daschtgilan-Gebiet durchquerten, ging die Sonne auf. Wir
hielten an und suchten uns einen guten Platz, wo wir uns
verstecken konnten. Tagsüber ruhten wir uns aus, versuchten
aber gleichzeitig auch die Stellungen des Feindes und ihre
Routen zu beobachten. Dabei erstellten wir ebenfalls von
diesem Gebiet Landkarten. Die gegenüberliegende Hochebene
hatte zwei Landstraßen, eine asphaltierte (Daschtgilan-Straße)
und eine nicht-asphaltierte, die nur militärischen Zwecken
diente. Die beiden Landstraßen waren ungefähr fünf Kilometer
von einander entfernt. Eine irakische Firma versorgte die
Soldaten auf den Hügeln und sorgten auch für die Sicherheit
ihrer Routen.
Als es dunkel wurde und wir unser Gebet verrichtet hatten,
machten wir uns wieder auf den Weg. Ich und Reza liefen zur
Dashtgilanstraße, unsere Kameraden zu der anderen. Als wir in
der Nähe waren, gingen wir erst einmal in Deckung. Aber es
herrschte nicht viel Verkehr und so betraten wir sie schnell,
platzierten zwei Minen in kleinen Vertiefungen der Straßen und
bedeckten sie mit Erde. Dann entfernten wir uns rasch. Durch
die kontinuierliche Bewegung der irakischen Kräfte, wussten
wir, dass sie die Kontrolle über Bazideraz noch nicht aufgeben
wollten. Die meisten irakischen Bodentruppen und
Kriegsfahrzeuge bewegten sich in diese Richtung. Plötzlich
hörten wir eine starke Explosion hinter uns. Wir sahen uns um
und gingen ein Stück zurück! Einer der irakischen Panzer war
auf unsere Mine gefahren und stand in Flammen. Kurz danach
explodierte auch die Munition, die sich im Panzer befand, eine
Kugel nach der anderen. Der ganze Platz wurde durch den in
Flammen stehenden Panzer erhellt. Die Iraker feuerten vor
Angst blind in der Gegend herum!
Als wir Ibrahim und die anderen erreichten, sie hatten
ebenfalls ihre Aufgabe erledigt, gingen wir zusammen zu den
Hügeln. Ibrahim sagte: „Bis morgen früh haben wir viel Zeit.
Waffen und Ausrüstungen haben wir ebenso genug. Kommt, wir
versetzen den Feind in noch mehr Angst und Schrecken.” Noch
waren die Worte Ibrahims nicht ganz ausgesprochen, da hörte
man plötzlich wieder eine große Explosion, die sich in der
unasphaltierten Landstraße ereignete. Ein Fahrzeug der Iraker
flog in die Luft, nachdem es auf eine Mine gefahren war. Wir
alle freuten uns sehr über unseren Erfolg. Das Feuer der
Iraker wurde immer heftiger. Ihnen war klar geworden, dass
unsere Kräfte in ihre Stellungen eingedrungen waren. Jetzt
schossen sie sogar Raketen ab. Als wir den Hügel erreichten,
erschien unerwartet ein irakischer Jeep, der genau in unsere
Richtung fuhr. Er war so nah, dass es keine andere Möglichkeit
gab als zu schießen! Sekunden danach rannten wir zu diesem
Fahrzeug. Ein hochrangiger irakischer Offizier und sein Fahrer
waren tot. Nur ihr Funker lag verletzt auf dem Boden. Eine
Kugel hatte sein Bein getroffen und er krümmte sich vor
Schmerzen. Einer unserer Kameraden entsicherte seine Waffe und
bewegte sich auf ihn zu. Der junge Iraker rief: „Gnade,
Gnade!“ Ibrahim schrie wie von Sinnen: „Was willst du tun?“ Er
sagte: „Nichts, ich will ihn nur erlösen.” Ibrahim entgegnete:
„Mein Freund, solange wir im Schusswechsel waren, war er unser
Feind, aber jetzt ist er unser Gefangener.
Ibrahim ging zu dem Verletzten und half ihm aufzustehen, er
nahm ihn auf seinen Rücken und setzte sich in Bewegung. Alle
schauten sich Ibrahims Verhalten an. Einer sagte: „Ibrahim,
weißt du was du tust? Von hier bis zu unserem Stützpunkt
müssen wir dreizehn Kilometer durchs Gebirge laufen. Ibrahim
wandte sich ihm zu und sagte: „Diesen kräftigen Körper hat mir
Gott für solche Tage geschenkt! Dann machte er sich auf den
Weg. Wir nahmen die Sachen und das Funkgerät aus dem Jeep und
gingen auch los. Am Fuß des Berges ruhten wir uns etwas aus
und verbanden den verletzten Fuß des irakischen Gefangenen,
dann ging es weiter.
Nach sieben Stunden erreichten wir die Kriegsfront.
Unterwegs unterhielt sich Ibrahim mit dem Gefangenen. Dieser
bedankte sich ständig bei ihm. Früh am anderen Morgen
verrichteten wir an einem sicheren Ort das Gemeinschaftsgebet.
Der Gefangene betete mit uns! Dadurch erst verstand ich, dass
er ein Schiit ist. Nach dem Gebet aßen wir alle zusammen.
Alles, was wir zum Essen hatten wurde gleichmäßig unter uns
verteilt, der irakische Gefangene zählte auch dazu, der so ein
gutes Verhalten nicht erwartet hatte. Er stellte sich vor und
sagte: „Ich bin Abu Jaafar, Schiite und wohne in Karbala. Nie
hätte ich gedacht, dass ihr so seid....“ Er redete
unaufhörlich, aber von seinen Worten konnten wir nur einiges
verstehen. Vor Tagesanbruch gingen wir zu der in der Nähe
liegenden „Bansiran“-Höhle und ruhten uns dort aus. Reza
Gudini ging jedoch zurück zu unseren eigenen Soldaten, um
Hilfe zu holen. Es dauerte fast eine Stunde bis Reza mit
frischer Ausrüstung und Hilfskräften zurückkehrte. Ich fragte:
„Und! Gibt es etwas Neues?“ Er erwiderte: „Als wir zur Höhle
zurückkehrten, sah ich vor dem Höhleneingang einen bewaffneten
Mann sitzen. Ich war sehr überrascht. Ich hielt ihn zuerst für
einen von euch. Doch als ich in seine Nähe ging, stellte ich
fest, dass es Abu Jaafar war, der dort Wache hielt! Er grüßte,
übergab mir seine Waffe und sagte dann auf arabisch: „Ihre
Kameraden schliefen als eine irakische Patrouille hier vorbei
fuhr. Deshalb stand ich vor dem Eingang Wache, um bei einer
eventuellen Annäherung dieser, sie unter Beschuss zu nehmen!“
Wir kehrten zum Stützpunkt zurück. Abu Jaafar blieb für ein
paar Tage bei uns. Ibrahim musste wegen der harten Zeit, die
er hinter sich hatte zum Krankenhaus gebracht werden. Doch
schon nach einigen Tagen war Ibrahim wieder zurück und alle
waren glücklich ihn zu sehen. Ich rief ihm zu: „Die Leute der
Sepahgharb sind gekommen, sie wollen dir ihren Dank
aussprechen! Verwirrt sagte er: „Weswegen, was ist passiert?!“
„Komm, du wirst es herausfinden!“, sagte ich zu ihm.
Mit Ibrahim besuchten wir den Stützpunkt der Sepah. Der
dort Verantwortliche begann gerade eine Rede zu halten: „Abu
Jaafar, der irakische Gefangene, den ihr mitgenommen habt, war
der Funker des Stützpunktes der vierten Division der
irakischen Armee. Die Informationen, die er uns über die
Stellungen der irakischen Kräfte, die Stützpunkte der
irakischen Brigaden, ihre Kommandeure und über die
Möglichkeiten um in Feindesgebiet eindringen zu können,
ausgehändigt hat, waren sehr sehr wertvoll und haben sich
bisher auch als korrekt erwiesen.“ Vom ersten Kriegstag an
hielt er sich in diesem Gebiet auf. Alle Verkehrswege der
Iraker und alle drahtlosen Passwörter (Codes) wurden von ihm
preisgegeben. Diesen Erfolg haben wir ihnen und ihrer Leistung
zu verdanken.“ Ibrahim lächelte und sagte: „Ich habe nichts
Außergewöhnliches getan, es war Gottes Wille.“ Einen Tag
später wurde Abu Jaafar ins Gefangenenlager geschickt. Ibrahim
hatte vergebens versucht, Abu Jaafar bei uns zu behalten.
Einmal sagte er: „Ich bitte euch mich hier bleiben zu lassen.
Ich möchte mit euch gegen die Iraker kämpfen!“ Aber sein
Wunsch ging nicht in Erfüllung.
***
Eine Zeit verging bis ich hörte, dass eine Gruppe
irakischer Gefangener mit dem Namen „Tawabin“ sich an die
Kriegsfront begeben hatte und an der Seite der Badr-Brigade
gegen die irakische Armee kämpft. Eines Tages kam einer der
früheren Teammitglieder uns besuchen. Mit Freude überbrachte
er uns eine interessante Nachricht. Abu Jaafar sei derzeit am
Standort der Badr-Brigade tätig!
Nach einem Einsatz fuhren wir zusammen mit unseren Freunden
zur Basis der Badr-Brigade um Abu Jaafar zu finden und in
unser Team aufzunehmen. Als wir das Gebäude dort betreten
wollten, wurden wir mit einer unfassbaren Szene konfrontiert.
Unter den vielen Märtyrerbildern, die an den Wänden hingen,
war auch das Bild von Abu Jaafar. Im letzten Einsatz der
Badr-Truppe war er Märtyrer geworden!
Während ich auf das Bild starrte wurde mir heiß und ich
verspürte ein merkwürdiges Gefühl. Wir betraten das Gebäude
nicht mehr. All die Erinnerungen jener Nacht gingen mir
blitzartig durch den Kopf. Der Ansturm der irakischen Armee,
die Hingabe Ibrahims, der irakische Funker, das
Gefangenenlager, die Badr-Brigade... und letztendlich Abu
Jaafars Märtyrertum. Wie schön für ihn!