Die Bedeutung des Falles von Kut-el-Amara
Die Nachricht von dem Falle Kut-el-Amaras bedeutete für die
junge türkische Armee ein neues Ruhmesblatt, vor allem aber
noch über den Tod hinaus Lorbeerreiser für ihren großen
Organisator, den angesichts des Feindes verblichenen
Feldmarschall von der Goltz Pascha. Nach der Vertreibung der
Engländer und Franzosen von der Halbinsel Gallipoli war der
Fall von Kut-el-Amara die zweite glückliche Abwehr feindlicher
Einfälle aus türkischem Gebiet. Die Engländer, die seit Jahren
das Tigris- und Euphrat-Delta am Persischen Golf besetzt
hatten, versuchten in derselben überhebenden und fahrlässigen
Weise, mit der sie sich in das Dardanellen-Unternehmen
gestürzt hatten, trotz ungenügender Vorbereitung mit einem
kühnen Handstreich sich Bagdads zu bemächtigen, um von hier
aus sowohl die Expedition nach Aegypten zu stören, als auch
nach Kleinasien selbst vorstoßen zu können. Diese Expedition,
die wenige Wochen vorher bei einer Unterhausdebatte der
englischen Regierung bezw. den Heerführern, die sie
unternommen u. gebilligt hatten, außerordentlich heftige
Tadels-Voten einbrachte, war, wie vorauszusehen war, sehr
schnell unrühmlich verlaufen. Die Türken ließen die Engländer
bis auf nahezu 60 Kilometer von Bagdad herankommen – was in
London in der sicheren Voraussicht des Sieges bereits zu
Jubelfanfaren Veranlassung gab –, die Engländer liefen in die
ihnen dort gelegte Falle, wurden von den Türken in den
viertägigen Kämpfen vom 23.-26. November vernichtend
geschlagen und flohen unaufhaltsam den Tigris abwärts, in der
Hoffnung, einen Stützpunkt zu finden, in dem sie sich wieder
zu ordnen vermöchten. Aber überall, wo sie Fuß zu fassen
gedachten, wurden sie von den unmittelbar nachdringenden
Türken aufs neue geworfen. In Kut-el-Amara schien ihnen
endlich ihr Vorhaben zu gelingen; indes die Türken stürmten
unaufhaltsam vorbei, ließen nur auf der offenen Seite der
Kut-el-Amara–Tigris-Schleife eine kleine Belagerungstruppe
zurück, verfolgten die Engländer auf beiden Tigris-Ufern
weiter südlich und machten erst etwa 15 Kilometer hinter
Kut-el-Amara in selbstgewählten Stellungen Halt. Inzwischen
arbeitete sich die Belagerungstruppe immer mehr an die kleine,
von den Engländern besetzte Stadt heran, und es dauerte nicht
lange, bis die Engländer unter dem Befehl von General
Townshend vollkommen eingeschlossen waren. Der fluchtartige
Rückzug der Engländer hatte diese nicht nur erhebliche
Verluste an Soldaten und namentlich an Weißen gekostet,
sondern sie büßten auch einen Teil ihrer Vorräte, Munition,
Waffen, eine Anzahl Leichter, Flußmonitore und Flugzeuge ein,
die schon wenige Tage später im Kampf gegen die Engländer
standen.
Eine Straße in Kut-el-Amara.
Etwa ein Monat ging hin, bis die Engländer sich so weit
geordnet und durch Nachschübe verstärkt hatten; nun versuchten
sie mit aller Gewalt Kut-el-Amara, womit sie zunächst in
drahtloser und in Fliegerverbindung standen, zu entsetzen. Den
Oberbefehl hatte General Aylmer, die Vorhut der Entsatztruppen
führte General Younghusband, der am 4. Januar 1916 Ali el
Gharbi (70 Kilometer östlich Kut-el-Amara am Tigris gelegen)
verließ. Zwei Tage später traf er auf die Türken, von denen er
in der äußersten Flanke gefaßt wurde, und verlor bei dem
darauf folgenden Gefecht nach eigenen Angaben über 550 Araber
und Türken, darunter 16 Offiziere. Schleunigst rückte ihm
General Aylmer auf dem linken Ufer nach und näherte sich den
feindlichen Stellungen bis auf 1000 Meter. Der Angriff wurde
abgewiesen und die Engländer gezwungen, sich in rückwärtigen
Stellungen zu verschanzen. Das englische Lager befand sich auf
dem linken Ufer bei Umm-el-Hennah, während die Türken vom Rand
des Suweicha-Sumpfes ab bis zum Tigris und auch auf dem
rechten Ufer ihre Stellungen bezogen. Immer wieder versuchten
die Engländer, die Stellungen der Türken zu durchbrechen,
zumal da die Munitions- und Lebensmittel-Vorräte in
Kut-el-Amara immer mehr zusammenschrumpften und General
Townshend immer dringendere Hilferufe ausstieß.
Anfangs Februar rüsteten sich die Engländer von neuem zu
einem großen Angriff, der am 8. Februar stattfand. Unter
Zurücklassung von 2000 Toten mußten sie indes wieder in ihre
alte Stellung zurückkehren. Trotz dieser Verluste machten die
Engländer für die Folge eine ganze Reihe weiterer Angriffe,
die ihnen auch zeitweise einen Geländegewinn bis zu fünf
Kilometern einbrachten. Inzwischen waren die bereits erwähnten
heftigen Vorwürfe in England und besonders im Unterhaus laut
geworden, daß der Feldzug gen Bagdad höchst übereilt gewesen
sei. Und General Townshend ließ die Entsatztruppen wissen, daß
er trotz der Opferung seines ganzen Pferdebestandes und der
Austreibung der Bevölkerung aus Kut-el-Amara infolge
Munitions- und Nahrungsmangels die Stadt kaum werde halten
können. Da entschlossen sich die Engländer zu einem
verzweifelten letzten Angriff. Aber die Türken wußten das
inzwischen auf dem Tigris eingetretene Hochwasser geschickt zu
benutzen und jagten die Engländer, die dabei wieder ungeheure
Verluste erlitten, in ihre ältesten Stellungen zurück. Damit
wurde die Befreiung Kut-el-Amaras auf ungewisse Zeit
hinausgeschoben, und das mag wohl dazu beigetragen haben, daß
General Townshend, der sich außerordentlich tapfer verteidigt
hatte, sich auf Gnade oder Ungnade den Türken ergab.
Die Kapitulation der Engländer in Kut-el-Amara mußte ebenso
wie seinerzeit die Flucht von den Dardanellen in doppelter
Hinsicht gewertet werden: zunächst war es einmal militärisch
wichtig, daß die Belagerungstruppen von Kut-el-Amara zur
weiteren Verwendung frei wurden und daß die Türken sicherlich
das sehr wirksam auszunutzen verstanden. Vor allen Dingen
mußte aber auf die ungeheure Wirkung in moralischer Beziehung
hingewiesen werden; denn, wenn schon der Rückzug der Engländer
von Gallipoli auf die Orientalen – und namentlich die, welche
bislang mit der Entente liebäugelten – einen tiefen Eindruck
gemacht hatte, wieviel mehr erst diese bedingungslose
Uebergabe angesichts der umwohnenden Araberstämme, die nun
erkannten, daß Englands Herrschaft im Irak im wahrsten Sinne
des Wortes auf Sand gebaut war! Und diese Erkenntnis der noch
zu England haltenden Mohammedaner mußte zweifellos von recht
erheblicher Einwirkung auf die kommenden Operationen werden;
aber auch die persischen und indischen Mohammedaner konnten
erneut versuchen, versteckt oder offen gegen ihren Zwingherren
England zu agitieren: eine weitere Ausdehnungsmöglichkeit für
den Heiligen Krieg. Das war die eigentliche tiefe Bedeutung
des Falles von Kut-el-Amara, und darum durften wir unsere
Bundesgenossen um so herzlicher dazu beglückwünschen.