Philosophie im Islam

Geschichte der Philosophie im Islam

Tjitze J. de Boer

1901

STUTTGART. FR. FROMMANNS VERLAG (E. HAUFF).

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I. Zur Einleitung

1. Der Schauplatz

1. Von alters her war, wie heutzutage, die arabische Wüste der Tummelplatz unabhängiger Beduinenstämme. Mit freiem, gesundem Sinn blickten diese in ihre einförmige Welt hinein, deren höchster Reiz der Beutezug, deren geistiger Schatz die Stammesüberlieferung war. Weder die Errungenschaften geselliger Arbeit noch die Gaben schöner Muße waren ihnen bekannt. Nur an den Rändern der Wüste wurde, in Staatenbildungen, die oft von den Überfällen jener Beduinen zu leiden hatten, eine höhere Stufe der Gesittung erreicht. So war es im Süden, wo in christlicher Zeit unter abyssinischer oder persischer Oberhoheit das alte Reich der Königin von Saba fortbestand. Im Westen lagen an einer alten Handelsstraße Mekka und Medina (Jathrib), und besonders Mekka mit seinem Markte im Schutze eines Tempels war ein Mittelpunkt regen Verkehrs. Im Norden endlich hatten sich zwei halbsouveräne Staaten unter arabischen Fürsten gebildet: gegen Persien hin das Reich der Lachmiden in Hira und gegen Byzanz der Gassaniden Herrschaft in Syrien. Aber in Sprache und Poesie stellte sich schon vor Mohammed einigermaßen die Einheit der arabischen Nation dar. Die Dichter waren die Wissenden ihres Volkes. Ihre Zaubersprüche galten zunächst den Stämmen als Orakel. Doch ging ihre Wirkung wohl oft über den eigenen Stamm hinaus.

2. Mohammed und seinen nächsten Nachfolgern, Abu Bekr, Omar, Othman und Ali (622–661) ist es nun gelungen, die freien Wüstensöhne zusammen mit den gesitteteren [10]Bewohnern der Küstenstriche für ein gemeinsames Unternehmen zu begeistern. Diesem Ereignis verdankt der Islam seine Weltstellung. Denn Allah zeigte sich groß und für die Ihm sich Ergebenden (Muslime) war die Welt gar klein. In kurzer Zeit wurde ganz Persien erobert und verlor das oströmische Reich seine schönsten Provinzen: Syrien und Ägypten.

Medina war der Sitz der ersten Chalifen oder Stellvertreter des Propheten. Aber Mohammeds tapferer Schwiegersohn, Ali, und dessen Söhne unterlagen Moawia, dem klugen Statthalter von Syrien. Seit der Zeit besteht die Partei des Ali (Schiiten), die unter mancherlei Wandlungen, bald unterworfen, bald an einzelnen Stellen zur Herrschaft gelangt, ihr Wesen in der Geschichte treibt, bis sie sich (1502) im persischen Reich endgültig gegen den sunnitischen Islam abschließt.

In ihrem Kampfe gegen die weltliche Macht haben die Schiiten sich aller möglichen Waffen, auch der Wissenschaft bedient. Schon früh erscheint unter ihnen die Partei der Kaisaniten, die dem Ali und seinen Erben eine übermenschliche Geheimwissenschaft zuschreibt, ein Wissen, mit dessen Hilfe der innere Sinn der göttlichen Offenbarung erst klar werde, das aber auch von seinen Adepten nicht weniger Glauben und unbedingten Gehorsam gegen die Träger solchen Wissens erfordert als der Buchstabe des Korans. (Vgl. III, 2 § 1.)

3. Nach dem Siege Moawias, der Damaskus zur Hauptstadt des muslimischen Reiches machte, lag die Bedeutung Medinas hauptsächlich auf geistigem Gebiete. Es musste sich damit begnügen, zum Teil unter jüdischen und christlichen Einflüssen, die Wissenschaft des Gesetzes und der Tradition zu pflegen. In Damaskus aber führten die Omajjaden (661–750) ihr weltliches Regiment. Unter ihrer Herrschaft dehnte sich das Reich vom atlantischen Meere bis über die Grenzen Indiens und Turkestans aus, vom südlichen Meere bis an den Kaukasus und vor die [11]Mauern von Konstantinopel. Damit war aber auch die weiteste Ausdehnung erreicht.

Araber nahmen jetzt überall die führende Stellung ein. Sie bildeten eine militärische Aristokratie und der schlagendste Beweis für ihren Einfluss ist dies, dass unterworfene Völker mit alter, überlegener Kultur die Sprache der Sieger annahmen. Die arabische Sprache wurde die Sprache des Staates und der Religion, der Poesie und der Wissenschaft. Während aber die hohen Staats- und Militärämter vorzugsweise von Arabern verwaltet wurden, blieb es zunächst Nichtarabern und Mischlingen überlassen, Künste und Wissenschaften zu pflegen. In Syrien ging man bei Christen in die Schule. Die Hauptstätten geistiger Bildung aber wurden Basra und Kufa, in denen Araber und Perser, Muslime, Christen, Juden und Magier zusammenstießen. Dort, wo Handel und Gewerbe aufblühten, sind, unter hellenistisch-christlichen und persischen Einflüssen entstanden, die Anfänge weltlicher Wissenschaft im Islam zu suchen.

4. Den Omajjaden folgten die Abbasiden (750–1258) nach. Diese machten, um zur Herrschaft zu gelangen, dem Persertum Konzessionen und benutzten religiös-politische Bewegungen. Nur in dem ersten Jahrhundert ihrer Regierung (bis etwa 860) mehrte oder hielt sich noch die Größe des Reiches, als dessen Mittelpunkt Mansur, der zweite Herrscher dieses Hauses, im Jahre 762 Bagdad gründete, eine Stadt, die bald an weltlichem Glanze Damaskus und als Leuchte des Geistes Basra und Kufa überstrahlte. Nur mit Konstantinopel war sie zu vergleichen. In Bagdad, an dem Hofe Mansurs (754–775), Haruns (786–809), Mamuns (813–833) u. s. w. fanden sich, besonders aus den nordöstlichen Provinzen, Dichter und Gelehrte zusammen. Mehrere Abbasiden liebten weltliche Bildung, sei es an sich oder zur Ausschmückung ihres Hofes, und wenn sie oft auch den Wert der Künstler und Gelehrten nicht erkannt haben mögen, so wussten [12]doch diese die materiellen Güter ihrer Herren wohl zu schätzen.

Wenigstens seit der Zeit Haruns bestand in Bagdad eine Bibliothek und eine Gelehrtenanstalt. Schon unter Mansur, besonders aber unter Mamun und seinen Nachfolgern, wurde dann die wissenschaftliche Litteratur der Griechen, meistens durch syrische Vermittelung, in die arabische Sprache übertragen. Auch Kompendien und Erläuterungen dazu wurden verfasst.

Als diese gelehrte Arbeit ihren höchsten Aufschwung nahm, war die Herrlichkeit des Reiches im Niedergang begriffen. Die alten Stammesfehden, die unter den Omajjaden nie geruht hatten, waren scheinbar einer festgefügten Einheit des Staates gewichen. Aber es dauerten in verschärftem Maße andere Streitigkeiten fort, theologische und metaphysische Zänkereien, wie sie ähnlich den Verfall des oströmischen Reiches begleiteten. Der Staatsdienst brauchte in der orientalischen Despotie nur wenig befähigte Köpfe. Viele junge Kräfte gingen im üppigen Genusse unter, andere verfielen auf Wortkünstelei und Scheingelehrsamkeit. Zur Verteidigung des Reiches dagegen zog man die frische Kraft weniger überbildeter Völker heran: zuerst iranische oder iranisierte Chorasaner, darauf Türken.

5. Immer deutlicher zeigte sich des Reiches Verfall. Die Machtstellung des Türkenheeres, Aufstände städtischen Pöbels und ländlicher Arbeiter, schiitische und ismaelitische Umtriebe überall, dazu die Selbständigkeitsgelüste der entfernten Provinzen waren entweder die Ursachen oder die Symptome des Untergangs. Neben dem Chalifen, der zum geistlichen Würdenträger herabsank, herrschten die Türken als Hausmeier. Und an der Peripherie entstanden nach und nach selbständige Staaten, bis zu einer ganz entsetzlichen Kleinstaaterei. Die wichtigsten, mehr oder weniger unabhängigen Herrscher waren im Westen, abgesehen von den spanischen Omajjaden (vgl. VI, 1), die Aglabiden Nordafrikas, die Tuluniden und Fatimiden Ägyptens und die [13]Hamdaniden Syriens und Mesopotamiens; im Osten die Tahiriden und Samaniden, allmählich von den Türken verdrängt. An den Höfen dieser kleinen Dynastien sind in der nächsten Zeit (10. und 11. Jahrh.) die Dichter und Gelehrten zu finden. Mehr als Bagdad machen sich auf kurze Zeit Haleb (Aleppo), der Sitz der Hamdaniden, und auf längere Zeit Kairo, im Jahre 969 von den Fatimiden erbaut, als Heimstätten geistiger Bestrebungen geltend. Im Osten glänzt noch einen Augenblick der Hof des Türken Machmud von Ghazna, der seit dem Jahre 999 Herr von Chorasan war.

In diese Zeit der Kleinstaaterei und der Türkenwirtschaft fällt auch die Gründung der muslimischen Universitäten. Im Jahre 1065 wurde die erste in Bagdad errichtet. Seit der Zeit besitzt der Orient die Wissenschaft nur in stereotypen Auflagen. Der Lehrer hat gelehrt, was ihm von seinen Lehrern überliefert worden, und jedes neue Buch enthält kaum einen Satz, der nicht schon in älteren Büchern stände. Die Wissenschaft ist gerettet. Aber die Gelehrten Transoxaniens, die, der Überlieferung nach, als sie die Gründung der ersten Madrasah erfuhren, eine Trauerfeier zu Ehren der Wissenschaft veranstalteten, haben Recht behalten.1

Über die östlichen Länder des Islam brauste dann (13. Jahrh.) der Mongolensturm dahin. Was der Türke übrig gelassen, raffte dieser hinweg. Es blühte da keine Kultur wieder auf, die aus sich heraus eine neue Kunst hervortrieb oder zu einer Erneuerung der Wissenschaft die Anregung darbot.

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