I. Zur Einleitung
3. Griechische Wissenschaft
1. Wie die Perser hauptsächlich den Handelsverkehr zwischen
Indien-China und Byzanz leiteten, so traten im fernen Westen,
bis ins Frankenreich, die Syrer als Kulturvermittler auf. Es
waren Syrer, die Wein, Seide u. s. w. [18]ins Abendland
einführten. Aber es waren auch Syrer, die griechische Bildung
aus Alexandrien und Antiochien nach Osten hin verbreiteten und
in den Schulen von Edessa und Nisibis, Harran und Gondeschapur
fortpflanzten. Syrien war das richtige Land der Mitte, wo
Jahrhunderte lang die beiden Weltmächte, die römische und die
persische, feindlich oder friedlich zusammenstießen. Unter
solchen Umständen spielten die christlichen Syrer eine Rolle,
wie sie ähnlich später den Juden zu teil ward.
2. Die muslimischen Eroberer fanden die christliche Kirche,
abgesehen von vielen Sekten, in drei Abteilungen gespalten. Im
eigentlichen Syrien herrschte neben der orthodoxen
Reichskirche die monophysitische, in Persien die
nestorianische Kirche vor. Der Unterschied zwischen den
Lehrsystemen dieser Kirchen ist wohl nicht ohne Bedeutung für
die Entwicklung der muslimischen Dogmatik gewesen. Nach der
Lehre der Monophysiten waren in Christus Gott und Mensch zu
einer Natur vereinigt, während die Orthodoxen und viel
schärfer noch die Nestorianer eine göttliche und eine
menschliche Natur unterschieden. Nun heißt Natur vor allem
Energie oder Wirkungsprinzip. Es handelt sich um die Frage, ob
göttliches und menschliches Wollen und Wirken in Christus ein
und dasselbe seien oder verschieden. Die Monophysiten hoben,
aus spekulativen und religiösen Motiven, auf Kosten des
Menschlichen die Einheit in Christus, ihrem Gotte, hervor, die
Nestorianer dagegen betonten die Eigenart menschlichen Seins,
Wollens und Wirkens dem göttlichen gegenüber. Letzteres aber
bietet, unter Begünstigung politischer und kultureller
Verhältnisse, einer philosophischen Welt- und
Lebensbetrachtung freieren Spielraum, und thatsächlich haben
die Nestorianer am meisten für die Pflege griechischer
Wissenschaft gethan.
3. Die Sprache sowohl der westlichen als auch der östlichen
(persischen) Kirche war das Syrische. Daneben aber wurde in
den Klosterschulen das Griechische gelehrt. [19]In der
westlichen (monophysitischen) Kirche sind Rasain und Kinnesrin
als Stätten der Bildung zu nennen. Bedeutender war, wenigstens
anfangs, die Schule von Edessa, wie denn auch der edessenische
Dialekt sich zur Schriftsprache erhoben hatte. Aber im Jahre
489 ward die dortige Schule wegen der nestorianischen
Gesinnung ihrer Lehrer geschlossen. Sie that sich dann in
Nisibis wieder auf und verbreitete in Persien, aus politischen
Gründen von den Sasaniden begünstigt, nestorianischen Glauben
und griechisches Wissen.
Der Unterricht in jenen Schulen hatte vorzugsweise
biblisch-kirchlichen Charakter und war auf kirchliche
Bedürfnisse berechnet. Aber es nahmen auch Ärzte oder künftige
Studenten der Medizin daran teil. Dass diese oft dem
geistlichen Stande angehörten, hebt den Unterschied zwischen
theologischem Studium und der Beschäftigung mit weltlichem
Wissen nicht auf. Zwar haben, nach dem syrisch-römischen
Rechtsbuch, die Lehrer (gelehrten Priester) und Ärzte
Steuerfreiheit und andere Privilegien gemeinsam. Aber dass die
ersteren als Heilkünstler der Seele betrachtet wurden, während
die Ärzte bloß den Leib zu flicken hatten, begründete den
Vorzug jener vor diesen. Die Medizin blieb doch immer etwas
Weltliches, und nach den Statuten der Schule zu Nisibis (vom
Jahre 590) durften die heiligen Schriften nicht mit Büchern
des weltlichen Gewerbes in einem Raume zusammen gelesen
werden.
In ärztlichen Kreisen wurden die Werke des Hippokrat, Galen
und Aristoteles sehr geschätzt. In den Klöstern aber verstand
man unter Philosophie zunächst das beschauliche Leben des
Asketen und achtete nur auf das Eine, das not thut.
4. Eine eigentümliche Stellung nimmt die mesopotamische
Stadt Harran, in der Nähe Edessas, ein. Altsemitisches
Heidentum verknüpft sich hier, besonders nach der arabischen
Eroberung, als die Stadt neu emporblühte, mit mathematischen
und astronomischen Studien und neupythagoreischer [20]und
neuplatonischer Spekulation. Die Harranier oder Sabier, wie
sie im 9. und 10. Jahrhundert heißen, führen ihre mystische
Weisheit auf Hermes Trismegistos, Agathodaemon, Uranius u. A.
zurück. Zahlreiche Pseudepigraphen des späteren Hellenismus
werden von ihnen gläubig aufgenommen, einzelnes wird
vielleicht in ihrem Kreise fabriziert. Als Übersetzer und
gelehrte Schriftsteller sind einige aus ihrer Mitte thätig
gewesen. Viele haben mit persischen und arabischen Gelehrten
des achten bis zehnten Jahrhunderts einen regen
wissenschaftlichen Verkehr unterhalten.
5. In Persien, zu Gondeschapur, finden wir eine von Chosrau
Anoscharwan (531–579) gegründete Anstalt für philosophische
und medizinische Studien. Ihre Lehrer waren hauptsächlich
nestorianische Christen. Aber außer den Nestorianern duldete
der weltlicher Bildung geneigte Fürst auch Monophysiten.
Besonders als Mediziner waren damals, wie später am Hofe der
Chalifen, christliche Syrer in Ehren.
Auch die im Jahre 529 aus Athen vertriebenen sieben
Philosophen der neuplatonischen Schule fanden am Hofe Chosraus
eine Zufluchtsstätte. Sie mögen aber dort ähnliche Erfahrungen
gemacht haben, wie die französischen Freigeister des vorigen
Jahrhunderts am russischen Hofe. Jedenfalls sehnten sie sich
nach der Heimat zurück. Und der König war freisinnig und
großmütig genug, sie gehen zu lassen und für sie im
Friedensvertrage mit Byzanz vom Jahre 549 Glaubensfreiheit zu
bedingen. Ganz ohne Einfluss wird ihr Aufenthalt im persischen
Reich doch wohl nicht geblieben sein.
6. Die Zeit der syrischen Übersetzungen profaner Schriften
aus dem Griechischen läuft etwa vom vierten bis zum achten
Jahrhundert. Im vierten Jahrhundert wurden Spruchsammlungen
übertragen. Als erster mit Namen genannter Übersetzer
erscheint Probus, “Priester und Arzt in Antiochien” (erste
Hälfte des fünften Jahrhunderts?). [21]Vielleicht war er auch
nur Erklärer logischer Schriften des Aristoteles und der
Isagoge des Porphyrius. Bekannter ist Sergius von Rasain
(gestorben, wahrscheinlich in Konstantinopel, um 536, etwa 70
Jahre alt), ein mesopotamischer Mönch und Arzt, der den ganzen
Umfang der alexandrinischen Wissenschaft, vielleicht in
Alexandrien selbst, studierte und dessen Übersetzungen nicht
nur auf Theologie, Moral und Mystik, sondern mehr noch auf
Physik, Medizin und Philosophie sich erstreckten. Auch nach
der muslimischen Eroberung wurde die gelehrte Thätigkeit der
Syrer fortgesetzt. Jakob von Edessa (etwa 640–708) übersetzte
griechisch-theologische Schriften, befasste sich aber außerdem
mit Philosophie und erklärte auf eine diesbezügliche Anfrage,
es sei christlichen Geistlichen erlaubt, Kindern von
muslimischen Eltern gelehrten Unterricht zu erteilen. Bei den
letzteren war also ein Bildungsbedürfnis vorhanden.
Die Übersetzungen der Syrer, namentlich des Sergius von
Rasain, sind im allgemeinen treu; die logischen und
naturwissenschaftlichen aber entsprechen dem Original genauer,
als die ethischen und metaphysischen. In diesen gab es eben
viel Dunkles, das missverstanden oder einfach weggelassen, und
viel Heidnisches, das durch Christliches ersetzt ward. Für
Sokrates, Platon und Aristoteles (als Beispiele) traten wohl
einmal Petrus, Paulus und Johannes ein. Das Schicksal und die
Götter mussten dem Einen Gotte weichen. Und Begriffe wie Welt,
Ewigkeit, Sünde und dergleichen erhielten ein christliches
Gepräge. Übrigens sind die Araber mit der Anpassung an ihre
Sprache, Kultur und Religion später viel weiter gegangen als
die Syrer. Teils lässt sich das wohl aus der muslimischen
Scheu vor allem Heidnischen, teils aber auch aus einer
größeren Anpassungsfähigkeit erklären.
7. Abgesehen von einigen mathematischen, physischen und
medizinischen Schriften haben die Syrer sich für ein
Zweifaches interessiert. Erstens für moralisierende
Spruchsammlungen, [22]mit etwas Philosophiegeschichte
verbunden, und im allgemeinen für mystische
pythagoreisch-platonische Weisheit. Diese findet sich
hauptsächlich in Pseudepigraphen, die den Namen des
Pythagoras, Sokrates, Plutarch, Dionysius u. A. tragen. Im
Mittelpunkte des Interesses steht eine platonische
Seelenlehre, in späterer pythagoreischer, neuplatonischer oder
christlicher Bearbeitung. Platon wird in den syrischen
Klöstern sogar zu einem orientalischen Mönch, der sich eine
Zelle im Herzen der Wildnis erbaute, weitab von den Wohnsitzen
der Menschen, und dort, nach dreijährigem Schweigen und
Grübeln über einen Bibelvers, die göttliche Dreieinigkeit
erkannt haben soll.
Dazu kam denn als Zweites die Logik des Aristoteles.
Aristoteles war den Syrern, wie längere Zeit auch den Arabern,
fast nur als Logiker allgemein bekannt. Die Bekanntschaft
erstreckte sich, ähnlich wie in der Frühscholastik des
Abendlandes, auf Kategorien, Hermeneutik und erste Analytik
bis zu den kategorischen Figuren. Der Logik bedurfte man
schon, um die Schriften griechischer Kirchenlehrer zu
verstehen, da dieselben, wenigstens formal, davon beeinflusst
waren. Wie man aber die Logik nicht vollständig hatte, so
besaß man sie auch nicht rein, sondern in neuplatonischer
Überarbeitung, wie z. B. ersichtlich ist aus dem Werke des
Paulus Persa, welches in syrischer Sprache für Chosrau
Anoscharwan geschrieben wurde. Es wird darin das Wissen über
den Glauben gestellt und die Philosophie definiert als die
Selbstbesinnung der Seele auf ihr inneres Wesen, in dem sie,
gleichsam wie ein Gott, alle Dinge erblickt.
8. Was die Araber den Syrern verdanken, spricht sich u. a.
darin aus, dass arabische Gelehrte das Syrische für die
älteste oder richtige (natürliche) Sprache hielten. Zwar haben
die Syrer Selbständiges nicht geschaffen, aber ihre
Übersetzerthätigkeit kam der arabisch-persischen Wissenschaft
zu gute. Es sind fast ohne Ausnahme Syrer gewesen, die vom 8.
bis 10. Jahrhundert aus den älteren [23]oder den von ihnen
teils verbesserten, teils neu veranstalteten syrischen
Übersetzungen die griechischen Werke ins Arabische übertrugen.
Schon der omajjadische Prinz Chalid ibn Jezid (gest. 704), der
sich unter Leitung eines christlichen Mönches mit der Alchemie
befasste, soll Übersetzungen alchemistischer Werke aus dem
Griechischen ins Arabische veranstaltet haben. Sprichwörter,
Gnomen, Briefe, Testamente, überhaupt
Philosophiegeschichtliches, wurden schon früh gesammelt und
übersetzt. Aber erst unter Mansur wurde damit angefangen,
naturwissenschaftlich-medizinische und logische Schriften der
Griechen, zum Teil aus dem Pahlawi, ins Arabische zu
übertragen. Besonders beteiligte sich daran Ibn al-Moqaffa,
ein Anhänger des persischen Dualismus, von dem die Späteren
sich durch ihre Terminologie unterschieden haben sollen. Es
ist uns aber von seinen philosophischen Übersetzungen nichts
erhalten. Auch anderes aus dem achten Jahrhundert ist verloren
gegangen; erst aus dem neunten Jahrhundert, aus der Zeit
Mamuns und seiner Nachfolger, ist einiges Übersetzte auf uns
gekommen.
Die Übersetzer des neunten Jahrhunderts waren meistens
Mediziner und nach Ptolomäus und Euklid wurden Hippokrat und
Galen mit am ersten übertragen. Beschränken wir uns auf die
Philosophie im engeren Sinne. Von Juhanna oder Jachja ibn
Bitriq (Anfang des neunten Jahrhunderts) soll eine Übersetzung
des platonischen Timäus herrühren, ferner Aristoteles’
Meteorologie, das Buch der Tiere, ein Auszug aus der
Psychologie und die Schrift Über die Welt. Dem Abdalmasich ibn
Abdallah Naima al-Himsi (um 835) wird zugeschrieben eine
Übertragung der aristotelischen Sophistik, dazu des Johannes
Philoponus Kommentar zur Physik und die sogenannte Theologie
des Aristoteles, ein paraphrastischer Auszug aus Plotin’s
Enneaden. Qosta ibn Luqa al-Balabakki (um 835) soll übersetzt
haben Alexanders von Aphrodisias und Johannes Philoponus’
Kommentare zur aristotelischen Physik, zum Teil Alexanders
Kommentar zu [24]de generatione et corruptione, dazu
Pseudo-Plutarchs placita philosophorum u. A.
Die fruchtbarsten Übersetzer waren Abu Zaid Honain ibn
Ishaq (809?–873), dessen Sohn Ishaq ibn Honain (gest. 910 oder
911) und Neffe Hobaisch ibn al-Hasan. Da sie zusammen
arbeiteten, gibt es vieles, das bald dem Einen, bald dem
Anderen zugeschrieben wird. Manches wird unter ihrer Aufsicht
von Schülern und Untergebenen angefertigt sein. Ihre
Thätigkeit dehnte sich auf den ganzen Umfang der damaligen
Wissenschaft aus. Älteres wurde verbessert, Neues hinzugefügt.
Der Vater übersetzte vorzugsweise Medizinisches, der Sohn aber
mehr Philosophisches.
Im zehnten Jahrhundert dauerte noch die Arbeit der
Übersetzer fort. Es zeichneten sich besonders aus Abu Bischr
Matta ibn Junus al-Qannai (gest. 940), Abu Zakarija Jachja ibn
Adi al-Mantiqi (gest. 974) und Abu Ali Isa ibn Ishaq ibn Zura
(gest. 1008). Endlich Abu-l-Chair al-Hasan ibn al-Chammar
(geb. 942), ein Schüler des Jachja ibn Adi, von dem, ausser
Übersetzungen, Kommentaren u. s. w., auch eine Schrift über
die Übereinstimmung zwischen Philosophie und Christentum
genannt wird.
Die Thätigkeit der Übersetzer seit Honain ibn Ishaq
beschränkte sich fast ganz auf die aristotelischen und
pseudo-aristotelischen Schriften, deren Auszüge, Paraphrasen
und Kommentare.
9. Als besonders große Philosophen sind diese Übersetzer
nicht anzusehen. Selten arbeiteten sie spontan, fast immer im
Dienste eines Chalifen, eines Wezirs, oder eines anderen
vornehmen Mannes. Außer ihrem Fachstudium, gewöhnlich der
Medizin, interessierte sie höchstens die Weisheit: schöne
Geschichten mit moralischer Anwendung, Anekdötchen und
Sprüche. Was wir uns im Verkehr, in der Erzählung oder auf der
Bühne nur als Eigentümlichkeit gewisser Personen gefallen
lassen, wurde von jenen Biedermännern ihres weisen Inhalts
oder vielleicht auch nur schönrednerischen Prunkes wegen
bewundert und gesammelt. [25]In der Regel blieben sie dem
väterlichen Christenglauben treu. Charakteristisch für ihre
Auffassung und den Freisinn der Chalifen ist es, was die
Überlieferung in Bezug auf Ibn Dschibril berichtet. Als Mansur
ihn zum Islam bekehren wollte, soll er gesagt haben: “Im
Glauben meiner Väter werde ich sterben, wo sie sind, wünsche
ich auch zu sein, sei’s nun im Himmel oder in der Hölle.” Da
lächelte der Chalif und entließ ihn reich beschenkt.
Von selbständigen Schriften dieser Männer hat sich nur
weniges gerettet. Eine kleine Abhandlung des Qosta ibn Luqa
über den Unterschied zwischen Seele und Geist (πνεῦμα, ruh),
in lateinischer Übersetzung erhalten, ist viel genannt und
benutzt worden. Der Geist ist danach ein feiner Körper, der
von der linken Herzkammer aus den menschlichen Leib belebt und
darin Bewegung und Wahrnehmung bewirkt. Je feiner und klarer
dieser Geist, um so vernünftiger denkt und handelt auch der
Mensch. Darüber sind sich Alle einig. Schwieriger aber ist es,
etwas Sicheres und Allgemeingültiges über die Seele
auszusagen. Die Aussprüche der größten Philosophen sind zum
Teil verschieden, zum Teil einander widersprechend. Jedenfalls
ist die Seele unkörperlich, weil sie Qualitäten, und zwar die
entgegengesetzten zugleich, in sich aufnimmt. Sie ist einfach,
unveränderlich und vergeht nicht, wie der Geist, mit dem
Körper; der Geist vermittelt nur zwischen beiden, ist also
secundäre Ursache der Bewegung und Wahrnehmung.
Was hier in Bezug auf die Seele behauptet wird, finden wir
bei vielen Späteren. Nur wird allmählich, je mehr die
aristotelische Philosophie platonische Ansichten in den
Hintergrund drängt, ein anderes Gegensatzpaar in das volle
Licht gerückt. Von der Bedeutung des Lebensgeistes (ruh) reden
nur noch die Mediziner. Die Philosophen stellen Seele und
Geist oder Vernunft (νοῦς, ʻaql) zusammen. Die Seele wird nun
ins Vergängliche, mitunter sogar nach gnostischer Art in das
niedere, böse Bereich der Begierden herabgezogen. Über sie
erhebt [26]sich, als das Höchste, das Unvergängliche im
Menschen, der vernünftige Geist.
Mit dieser Bemerkung greifen wir aber der Geschichte vor.
Kehren wir zu unseren Übersetzern zurück.
10. Das Wertvollste, was der griechische Geist an Kunst,
Poesie und Geschichtschreibung uns hinterlassen hat, ist den
Orientalen niemals zugänglich geworden. Es hätte bei ihnen
auch schwerlich Verständnis gefunden. Dafür fehlte eben der
Geschmack und die Kenntnis griechischen Lebens. Mit dem
sagenumstrahlten Alexander dem Großen fing ihnen die
Geschichte Griechenlands erst an, und es wird der Aufnahme
aristotelischer Philosophie am muslimischen Hofe die Stellung
des Aristoteles zum größten Fürsten des Altertums gewiss
förderlich gewesen sein. Die arabischen Geschichtschreiber
zählten die griechischen Fürsten bis auf Kleopatra und weiter
die römischen Kaiser auf, aber ein Thukydides z. B. war ihnen
nicht einmal dem Namen nach bekannt. Von Homeros haben sie
nicht viel mehr als den Satz, dass Einer Herrscher sein solle,
aufgenommen. Von den großen griechischen Dramatikern und
Lyrikern haben sie keine Ahnung. Nur durch seine Mathematik,
Naturwissenschaft und Philosophie hat das griechische Altertum
auf sie gewirkt. Von der Entwicklung der griechischen
Philosophie hat man aus Plutarch, Porphyr u. A., sowie aus den
Schriften des Aristoteles und Galen einiges erfahren. Es hat
sich aber daran viel Sagenhaftes gehängt, und was im Orient
über die Lehren der vorsokratischen Philosophen berichtet
worden, lässt uns nur schließen auf die Pseudepigraphen, aus
denen man schöpfte, oder vielleicht auch auf die im Osten
selbst ausgebildeten Ansichten, die man mit der Autorität
alter griechischer Weisen zu stützen suchte. Doch ist bei
Allem immer zunächst an ein griechisches Original zu denken.
11. Im allgemeinen lässt sich behaupten, dass die
Syrer-Araber den Faden der Philosophie dort aufnahmen, wo ihn
die letzten Griechen hatten fallen lassen, d. h. bei [27]der
neuplatonischen Auslegung des Aristoteles, neben dem auch die
platonischen Schriften gelesen und erläutert wurden. Unter den
Harraniern und lange Zeit bei einigen muslimischen Sekten
blühten am meisten die platonischen oder
pythagoreisch-platonischen Studien, zu denen sich viel
Stoisches und Neuplatonisches gesellte. Man interessierte sich
außerordentlich für das Schicksal des Sokrates, der im
heidnischen Athen als ein Märtyrer seines Vernunftglaubens
fiel. Mächtig wirkte die platonische Seelen- und Naturlehre.
Das pythische “Erkenne dich selbst”, als Motto der
sokratischen Weisheit überliefert und neuplatonisch gedeutet,
wurde von den Muslimen dem Ali, Mohammeds Schwiegersohn, oder
gar dem Propheten selbst in den Mund gelegt. Wer sich selbst
erkennt, erkennt damit Gott, seinen Herrn, das wurde der Text
für allerhand mystische Spekulationen.
In medizinischen Kreisen und am weltlichen Hofe wurden
immer mehr die Werke des Aristoteles bevorzugt. Zunächst
freilich nur die Logik und einzelnes aus den physischen
Schriften. Die Logik, so glaubte man, sei das einzige Neue,
was der Stagirite erfunden; in allen anderen Wissenschaften
stimme er aber durchaus mit Pythagoras, Empedokles, Anaxagoras,
Sokrates und Platon überein. Die christlichen und sabischen
Übersetzer und die von ihnen beeinflussten Kreise holten sich
deshalb unbedenklich psychologisch-ethische, politische und
metaphysische Belehrung bei den voraristotelischen Weisen.
Was den Namen des Empedokles, Pythagoras u. A. trug, war
natürlich unecht. Ihre Weisheit wird entweder auf Hermes oder
andere, orientalische Weisen zurückgeführt. So soll Empedokles
ein Schüler König Davids, nachher des Weisen Loqman gewesen,
Pythagoras aus der salomonischen Schule hervorgegangen sein u.
s. w. Schriften, die in den arabischen Werken als sokratisch
zitiert werden, sind, insofern sie echt, platonische Dialoge,
in denen Sokrates auftritt. Von Platon hat man, außer unechten
[28]Schriften, mehr oder weniger umfangreich angeführt: die
Apologie, Kriton, den Sophisten, Phädrus, die Republik, Phädon,
Timäus und die Gesetze. Das heißt aber nicht, dass dies Alles
in vollständiger Übersetzung vorgelegen habe.
Soviel ist sicher, Aristoteles war nicht von Anfang an
Alleinherrscher. Platon, wie man ihn verstand, lehrte die
Weltschöpfung und die geistige Substantialität und
Unsterblichkeit der Seele: das schadete dem Glauben nicht.
Aristoteles aber, mit seiner Lehre von der Ewigkeit der Welt
und einer weniger spiritualistischen Psychologie und Ethik,
wurde als gefährlich betrachtet. Muslimische Theologen des
neunten und zehnten Jahrhunderts aus verschiedenen Lagern
schrieben deshalb gegen Aristoteles. Doch die Verhältnisse
änderten sich. Bald gab es Philosophen, die die platonische
Lehre von der Einen Weltseele, von der die menschlichen Seelen
nur endliche Teile seien, verwarfen und beim Aristoteles, der
der Einzelsubstanz so große Bedeutung beilegte, Gründe suchten
für ihre Unsterblichkeitshoffnung.
12. Wie man in der ältesten Zeit den Aristoteles auffassen
musste, zeigen uns am besten die ihm untergeschobenen
Schriften. Denn nicht nur bekam man seine echten Werke mit
neuplatonischen Erläuterungen dazu, nicht nur wurde die
Schrift “Über die Welt” unbedenklich als aristotelisch
anerkannt, sondern er wurde auch als der Urheber betrachtet
von vielen spätgriechischen Erzeugnissen, in denen ein
pythagoreisierender Platonismus oder Neuplatonismus, oder gar
ein wüster Synkretismus ganz offen gelehrt wurde.
Als erstes Beispiel sei hier genannt das “Buch vom Apfel”4,
darin Aristoteles dieselbe Rolle spielt wie Sokrates in
Platon’s Phädon. Als nämlich der Philosoph seinem Ende nahe,
besuchen ihn einige Schüler, die ihn frohen [29]Mutes finden,
was sie veranlasst, Belehrung über das Wesen und die
Unsterblichkeit der Seele von ihrem hinscheidenden Meister zu
erbitten. Dieser führt darauf etwa folgendes aus: Das Wesen
der Seele besteht in Wissen, und zwar in seiner höchsten Form,
der Philosophie. Eine vollkommene Erkenntnis der Wahrheit ist
deshalb die Seligkeit, die nach dem Tode der wissenden Seele
bevorsteht. Und wie das Wissen mit höherer Erkenntnis belohnt
wird, so besteht die Strafe für Nichtwissen in tieferer
Unwissenheit. Es gibt ja überhaupt im Himmel und auf Erden
nichts anderes als Wissen und Nichtwissen und die Vergeltung,
die beide in sich selbst finden. Auch ist weder die Tugend
wesentlich vom Wissen verschieden, noch das Laster vom
Nichtwissen: sie verhalten sich zu einander ähnlich wie das
Wasser zum Eise, in verschiedener Form dasselbe.
Im Wissen, dem göttlichen Wesen der Seele, findet diese
naturgemäß ihre einzige wahre Freude, nicht aber in Essen und
Trinken und sinnlicher Lust. Denn die Sinnenlust ist eine
Flamme, die bloß auf kurze Zeit erwärmt; reines Licht aber,
das weithin leuchtet, ist die denkende Seele, die ihre
Erlösung aus der dunklen Sinnenwelt herbeisehnt. Darum
fürchtet der Philosoph den Tod nicht, sondern tritt ihm
freudig entgegen, wenn die Gottheit ruft. Der Genuss, den ihm
sein beschränktes Wissen hier bietet, ist ihm eine Gewähr für
die Wonne, die die Enthüllung des großen Unbekannten ihm
verschaffen wird. Etwas davon weiß er ja jetzt schon, denn nur
durch die Erkenntnis des Unsichtbaren ist die richtige
Schätzung des Sinnenfälligen, deren er sich rühmen darf,
überhaupt möglich. Wer sein Selbst in diesem Leben erkennt,
besitzt gerade in dieser Selbsterkenntnis die Gewissheit, alle
Dinge mit ewigem Wissen zu umfassen, d. h. unsterblich zu
sein.
13. Zweitens sei die sogenannte “Theologie des Aristoteles”
erwähnt. Es wird darin der göttliche Platon als der
Idealmensch hingestellt, der durch ein intuitives Denken alle
Dinge erkennt und also der logischen Hilfsmittel des
[30]Aristoteles nicht bedarf. Ja, die höchste Wirklichkeit,
das absolute Sein, wird nicht durch Denken, sondern nur in
einem ekstatischen Schauen ergriffen. “Öfter war ich,” so
redet hier Aristoteles-Plotin, “mit meiner Seele allein. Des
Leibes entkleidet trat ich, reine Substanz, in mein Selbst
hinein, von allem Äusseren zum Inneren zurückkehrend. Reines
Wissen war ich da, Wissendes und Gewusstes zugleich. Wie
wunderte ich mich, dass ich in meinem Selbst Schönheit und
Glanz erblickte und mich als einen Teil der erhabenen
göttlichen Welt erkannte, selbst mit schaffendem Leben begabt.
In dieser Selbstgewissheit erhob ich mich über die Welt der
Sinne, ja über die Geisterwelt empor zu dem göttlichen Stande,
wo ich solch schönes Licht schaute, dass es keine Zunge
aussprechen, kein Ohr vernehmen könnte.”
Im Mittelpunkte der Erörterungen steht auch in der
Theologie die Seele. Alle wahre menschliche Wissenschaft ist
Wissenschaft der Seele, Selbsterkenntnis, und zwar an erster
Stelle Kenntnis des Wesens, hernach, aber weniger vollständig,
der Wirkungen dieses Wesens. In solcher Erkenntnis, zu der nur
äußerst wenige gelangen, besteht die höchste Weisheit, die
sich in Begriffe nicht vollkommen fassen lässt, und die
deshalb der Philosoph als weiser Künstler und Gesetzgeber in
ewig schönen Bildern zur Darstellung bringt, uns Menschen zum
Gottesdienste. Es zeigt sich eben darin der Weise als der
überlegene, selbstgenügsame Zauberer, dessen Wissen die Menge
beherrscht, weil diese im Banne der Dinge, der Vorstellungen
und Begierden immer gefesselt bleibt.
Die Seele steht in der Mitte des Alls. Über ihr sind Gott
und der Geist, unter ihr die Materie und die Natur. Ihr Kommen
aus Gott durch den Geist in die Materie, ihre Gegenwart im
Körper, ihre Rückkehr nach oben, in diesen drei Stadien
verläuft ihr Leben und das der Welt. Materie und Natur,
Sinneswahrnehmung und Vorstellung verlieren hier fast ganz
ihre Bedeutung. Alles ist vom Geist (νοῦς, [31]ʻaql), der
Geist ist alle Dinge und im Geiste ist alles Eins. Auch die
Seele ist Geist, freilich, solange sie in ihrem Körper weilt,
Geist in Hoffnung, Geist in der Form der Sehnsucht. Sie sehnt
sich nach oben, nach den guten, seligen Gestirnen, die, über
Vorstellung und Strebung erhaben, ihre beschauliche
Lichtexistenz führen.
Das ist nun der orientalische Aristoteles, wie ihn die
ersten Peripatetiker im Islam anerkannten.5
14. Dass die Orientalen sich nie zu einer reinen Auffassung
der aristotelischen Philosophie durchgerungen haben, braucht
uns nicht zu wundern. Die Mittel unserer Kritik, Echtes und
Unechtes zu sondern, besaßen sie nicht. Sich in die
griechische Kulturwelt hineinzuleben, musste ihnen sogar
schwerer fallen als den christlichen Gelehrten des
Mittelalters, das den lebendigen Zusammenhang mit dem Altertum
nie ganz verloren hatte. Man blieb im Osten abhängig von
neuplatonischen Bearbeitungen und Erklärungen. Fehlte ein Teil
des wissenschaftlichen Systems, z. B. die aristotelische
Politik, so war es selbstverständlich, dass die Gesetze oder
der Staat Platons dafür eintraten. Nur wenigen kam der
Unterschied Beider zum Bewusstsein.
Es ist noch auf ein anderes Motiv zu achten. Schon in ihren
neuplatonischen Quellen fanden die Muslime eine
harmonisierende Auslegung der griechischen Philosophen vor,
die sie wohl gezwungen waren, herüberzunehmen. Die ersten
Anhänger des Aristoteles mussten ja polemisch und apologetisch
vorgehen. Entgegen oder neben der Übereinstimmung der
muslimischen Gemeinde brauchten sie eine einheitliche
Philosophie, darin die Eine Wahrheit zu finden war. Dieselbe
Verehrung, die Mohammed seinerzeit den heiligen Schriften der
Juden und Christen gezollt hatte, fand sich später bei
muslimischen Gelehrten in Bezug auf die Werke griechischer
Wissenschaft. Nur zeigten die [32]Gelehrten eine größere
Vertrautheit mit ihren Vorbildern und geringere Originalität.
Die alten Philosophen erhielten für sie eine Autorität, der
man sich zu fügen hatte. Die ersten muslimischen Denker waren
von der Überlegenheit griechischen Wissens derart überzeugt,
dass sie nicht daran zweifelten, es habe die höchste Stufe der
Gewissheit erreicht. Selbständig weiter zu forschen, war ein
Gedanke, der nicht leicht aufkam im Gehirn des Orientalen, der
sich einen Menschen ohne Lehrer nur als einen Schüler Satans
vorzustellen vermag. Nach dem Vorgange hellenistischer
Philosophen musste also der Versuch gemacht werden, zwischen
Platon und Aristoteles die Übereinstimmung nachzuweisen, und
besonders diejenigen Lehren, welche Anstoß erregten, entweder
stillschweigend zu beseitigen oder in einem, der muslimischen
Dogmatik nicht zu stark widerstreitenden Sinne darzustellen.
Den Gegnern des Aristoteles oder der Philosophie überhaupt zu
gefallen, hob man weise und erbauliche Sprüche aus echten und
unechten Werken des Philosophen hervor, um auf diese Weise der
Aufnahme seiner wissenschaftlichen Gedanken den Weg zu
bereiten. Den Eingeweihten aber wurde die Lehre des
Aristoteles, wie diejenige anderer Schulen und Sekten, als
eine höhere Wahrheit hingestellt, zu der der positive Glaube
der Menge und das mehr oder weniger begründete System der
Theologen die Vorstufen bilden sollten.
15. Ein vom Bestande der übersetzten griechischen Werke
abhängiger Eklektizismus ist die muslimische Philosophie immer
geblieben. Der Verlauf ihrer Geschichte ist mehr ein
Verdauungs- als ein Zeugungsprozess. Weder durch das Aufzeigen
neuer Probleme noch durch eigentümliche Versuche, alte Fragen
zu lösen, hat sie sich bedeutend hervorgethan. Wichtige
Fortschritte des Denkens hat sie also nicht zu verzeichnen.
Dennoch hat sie, historisch betrachtet, eine weit größere
Bedeutung, als die einer bloßen Vermittlerin zwischen dem
Altertum und der christlichen Scholastik. Die Aufnahme
griechischer Ideen in die [33]Mischkultur des Orients zu
verfolgen, hat an sich als Gegenstand geschichtlichen
Interesses einen ganz eigenen Reiz, zumal, wenn man dabei
vergessen kann, dass es einmal Griechen gegeben. Wichtig wird
aber auch die Betrachtung dieses Ereignisses, wenn es zu
Vergleichen mit anderen Kulturen Veranlassung bietet. Die
Philosophie ist eine so einzigartige, selbständig auf
griechischem Boden erwachsene Erscheinung, dass man sie als
den Bedingungen des allgemeinen Kulturlebens überhoben ansehen
könnte, um sie rein aus sich selbst heraus zu erklären. Die
Geschichte der Philosophie im Islam ist nun schon deshalb
wertvoll, weil sich in ihr der erste Versuch darstellt, in
größerem Umfange und mit größerer Freiheit als es in der
altchristlichen Dogmatik geschehen, die Ergebnisse
griechischen Denkens sich anzueignen. Die Erkenntnis der
Bedingungen, die solches ermöglichten, wird uns, wenn auch mit
Vorsicht und vorläufig wenigstens in sehr beschränktem Maße,
Analogieschlüsse gestatten auf die Rezeption der
griechisch-arabischen Wissenschaft im christlichen
Mittelalter, und vielleicht ein wenig belehren über die
Bedingungen, unter denen Philosophie überhaupt entsteht.
Von einer muslimischen Philosophie ist eigentlich kaum zu
reden. Aber es hat im Islam viele Männer gegeben, die nicht
davon lassen konnten, zu philosophieren. Durch die
griechischen Falten hindurch zeigt sich doch die Form ihrer
eigenen Glieder. Es ist leicht, von der hohen Warte irgend
einer Schulphilosophie auf jene Männer herabzublicken. Besser
aber wird es für uns sein, sie kennen und in ihrer
historischen Bedingtheit begreifen zu lernen. Wir müssen es
der Einzelforschung überlassen, der Herkunft jedes Gedankens
nachzugehen. Unser Zweck kann es nur sein im folgenden zu
zeigen, was die Muslime aus dem vorgefundenen Materiale
aufgebaut haben.
1 Vgl. Snouck Hurgronje, Mekka, II, S. 228 f. ↑
2 Hiob XXXVIII. ↑
3 1 Mos. XV 3. ↑
4 Der Dialog heisst so, weil Aristoteles während des
Gespräches einen Apfel in der Hand hält, dessen Geruch seine
letzten Lebenskräfte weckt. Am Schlusse sinkt die Hand
kraftlos nieder und fällt der Apfel auf den Boden. ↑
5 Als echtes Werk des Aristoteles galt auch Späteren noch
ein Auszug aus der στοιχείωσις θεολογική des Proklos. ↑