Philosophie im Islam

Geschichte der Philosophie im Islam

Tjitze J. de Boer

1901

STUTTGART. FR. FROMMANNS VERLAG (E. HAUFF).

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IV. Die neuplatonischen Aristoteliker des Ostens

3. Ibn Maskawaih

1. Wir sind an die Wende des zehnten und elften Jahrhunderts gelangt. Farabis Schule scheint auszusterben und Ibn Sina, der die Philosophie seines Vorgängers zu neuem Leben erwecken sollte, ist noch ein Jüngling. Hier aber haben wir eines Mannes zu gedenken, der zwar dem Kindi näher als dem Farabi verwandt ist, doch auch, wegen der Gemeinsamkeit ihrer Quellen, in wesentlichen Punkten mit dem letzteren übereinstimmt. Sein Beispiel zeigt zugleich, dass die hellsten Köpfe der Zeit nicht gesonnen waren, Farabi auf das Gebiet logisch-metaphysischer Spekulationen zu folgen.

Dieser Mann ist der Arzt, Philolog und Historiker Abu Ali ibn Maskawaih, der Schatzmeister und Freund des Sultans Adudaddaula war und hochbetagt im Jahre 1030 starb. U. a. hat er uns eine bis heute im Orient geschätzte philosophische Ethik hinterlassen. Sie ist eine Mischung aus Platon, Aristoteles, Galen und dem muslimischen Religionsgesetz, doch herrscht darin Aristoteles vor. Mit einer Abhandlung über das Wesen der Seele hebt sie an.

2. Die menschliche Seele, so führt Ibn Maskawaih aus, ist eine unkörperliche, einfache, sich ihres Seins, Wissens und Wirkens bewusste Substanz. Dass sie geistiger Natur sein muss, folgt schon daraus, dass sie die entgegengesetzten [117]Formen zugleich in sich aufnimmt, z. B. die Vorstellung von weiß und schwarz, während ein Körper nur eins von beiden auf einmal aufnehmen kann. Ferner nimmt sie sowohl die Formen des Sinnlichen wie des Geistigen in gleicher, geistiger Weise auf, denn die Länge ist in der Seele nicht lang, wird auch im Gedächtnis nicht länger. Weit über ihren Körper geht sodann das Wissen und Wirken der Seele hinaus, ja die ganze Sinnenwelt genügt ihr nicht. Überdies besitzt sie eine ursprüngliche Vernunfterkenntnis, die ihr nicht von den Sinnen zugekommen sein kann, denn durch dieselbe bestimmt sie, bei der Vergleichung und Unterscheidung des von der sinnlichen Wahrnehmung ihr Dargebotenen, Wahres und Falsches, die Sinne beaufsichtigend und berichtigend. Im Selbstbewusstsein endlich, dem Wissen um das eigene Wissen, zeigt sich am klarsten die geistige Einheit der Seele, in der Denken, Denkendes und Gedachtes zusammen fallen.

Von den Tierseelen unterscheidet sich die menschliche Seele besonders durch vernünftige Überlegung als das Prinzip ihres Handelns, welches auf das Gute gerichtet ist.

3. Gut ist im allgemeinen dasjenige, wodurch ein Wollendes den Zweck oder die Vollkommenheit seines Wesens erreicht. Gut zu sein, dazu ist also eine gewisse auf einen Endzweck gerichtete Anlage erforderlich. In Bezug auf ihre Anlage unterscheiden die Menschen sich aber sehr wesentlich. Nur wenige, meint Ibn Maskawaih, sind von Natur gut und werden nie schlecht, denn was von Natur ist, ändert sich nicht. Viele dagegen sind von Natur schlecht und werden nie gut. Andere aber, die anfangs weder gut noch schlecht sind, werden durch Erziehung und gesellschaftlichen Verkehr nach einer von beiden Seiten hin bestimmt.

Das Gute ist nun entweder ein allgemeines oder ein besonderes. Es gibt ein absolutes Gut, mit dem höchsten Sein und der höchsten Erkenntnis identisch, dem alle Guten [118]zusammen zustreben. Aber für jeden Einzelnen stellt sich ein besonderes Gut subjektiv als Glück oder Lust dar, und dieses besteht in der vollen Bethätigung des eigenen Wesens, in der vollständigen Auslebung des Inneren.

Im allgemeinen ist der Mensch gut und glücklich, wenn er menschlich handelt. Tugend ist menschliche Tüchtigkeit. Da nun aber die Menschheit in den verschiedenen Individuen verschieden abgestuft sich darstellt, so ist das Glück oder das Gut nicht für alle dasselbe. Und weil das auf sich selbst gestellte Individuum nicht alle möglichen Güter verwirklichen kann, so müssen viele zusammenleben. Daraus ergibt sich schon als eine erste Pflicht oder die Grundlage aller Tugenden die allgemeine Menschenliebe, ohne die keine Gesellschaft möglich ist. Nur mit und in anderen ist der einzelne Mensch vollkommen, die Ethik soll Sozialethik sein. Die Freundschaft ist darum nicht, wie bei Aristoteles, eine Erweiterung der Selbstliebe, sondern eine Einschränkung oder eine Art der Nächstenliebe. Und diese, wie die Tugend überhaupt, kann sich nur bethätigen in der Gesellschaft oder der Staatsgemeinschaft, nicht aber in der Weltflucht des frommen Mönches. Der Einsiedler, der glaubt, mäßig und gerecht zu leben, irrt sich in Bezug auf den Charakter seiner Handlungen. Diese mögen religiös sein, moralisch sind sie nicht. Ihre Betrachtung fällt also nicht der Ethik zu.

Übrigens stimmt, nach Ibn Maskawaih, das richtig aufgefasste Religionsgesetz vorzüglich mit einer humanen Ethik überein. Die Religion ist eine sittliche Schulung für das Volk. Ihre Vorschriften über den gemeinschaftlichen Gottesdienst und die Wallfahrt nach Mekka sollen z. B. die Pflege der Nächstenliebe in den weitesten Kreisen bezwecken.

Im einzelnen ist es Ibn Maskawaih nicht gelungen, die ethischen Lehren der Griechen, die er in seine Darstellung aufnimmt, unter einander und mit dem Gesetz des Islam zu verschmelzen. Wir übergehen das. Doch ist [119]nicht nur im allgemeinen sein Versuch zu loben, eine von der Kasuistik der Pflichtenlehrer und von der Askese der Sufi’s freie Ethik zu geben, sondern auch in der Ausführung ist die Besonnenheit eines reichgebildeten Mannes anzuerkennen.

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