V. Der Ausgang der Philosophie im Osten
2. Die Kompendienschreiber
1. In einer Geschichte des gelehrten Unterrichtes bei den
muslimischen Völkern müsste dieser Gegenstand einen größeren
Raum einnehmen; wir werden ihn hier mit wenigen Worten abthun.
Dass Gazali die Philosophie für alle Folgezeit vernichtet
habe, ist eine oft wiederholte, aber ganz irrige Behauptung,
die weder von geschichtlichem Wissen noch von Verständnis
zeugt. Die Philosophie hat im Osten nach ihm ihre Lehrer und
Schüler zu Hunderten und Tausenden gezählt. Ebensowenig wie
die Pflichtenlehrer ihre spitzfindige Kasuistik, haben die
Glaubenslehrer ihre dialektischen Argumente zur Stütze des
Dogmas aufgegeben. Und die allgemeine Bildung hat einen
Bestandteil philosophischer Gelehrsamkeit in sich aufgenommen.
Freilich, eine hervorragende Stellung hat die Philosophie
sich nicht zu erobern, ihr früheres Ansehen nicht zu erhalten
gewusst. Nach einer arabischen Anekdote soll ein Philosoph,
der in Gefangenschaft geraten war und von einem Manne, der ihn
als Sklaven kaufen wollte, befragt wurde, wozu er tauge, die
Antwort gegeben haben: Zur [151]Freiheit. Philosophie braucht
Freiheit. Und wo gab es diese im Orient? Freiheit von
materiellen Sorgen, Freiheit zur Bethätigung uninteressierten
Denkens schwanden immer mehr dahin, wo keine aufgeklärten
Despoten im Stande waren, sie zu gewähren und zu schützen. Als
glaubens- und staatsgefährlich wurden die Philosophen an
manchen Orten verfolgt. Es ist das nur ein Zeichen des
allgemeinen Kulturverfalles. Wenn auch abendländische Reisende
des zwölften Jahrhunderts die Kultur des Ostens höchlich
preisen, so war sie doch, mit früheren Zeiten verglichen, im
Niedergang begriffen. Auf keinem Gebiete ging man über das
alte hinaus, dazu waren die Geister zu schwach. Die
litterarische Produktion stockte und den Vielschreibern der
folgenden Jahrhunderte gebührt nur das Verdienst der schönen
Auswahl. Die Pflichten- und die Glaubenslehre mit der Mystik
hatten ihren Abschluss gefunden. Ebenso die Philosophie. Nach
Ibn Sina, ihrem Fürsten, mit selbständigen Ansichten
hervorzutreten, fühlte keiner sich berufen. Es war die Zeit
gekommen der Kompendien, der Kommentare, der Glossen und
Superglossen. Damit vertrieb die gelehrte Welt sich in der
Schule die Zeit, während die gläubige Menge sich immer mehr
der Führung der Derwischorden unterstellte.
2. Die allgemeine Bildung entnahm am meisten der
philosophischen Propädeutik, etwas Mathematik u. s. w., in der
Regel natürlich höchst elementar. Von Sektierern und Mystikern
wurde vieles der pythagoreisch-platonischen Weisheit entlehnt.
Besonders den Heiligen- und Wunderglauben zu stützen, mussten
jene Lehren herhalten. Eine wüste, synkretistische Theosophie
schmückte sich damit. Sie nahm auch den Aristoteles, natürlich
den unechten, unter ihre Lehrer auf, machte ihn aber zum
Schüler des Agathodaemon und Hermes.
Die nüchternen Geister dagegen hielten sich an dem
Aristotelismus, soweit er sich mit ihren eigenen Ansichten
oder dem orthodoxen Glauben vertrug. Fast allgemein
[152]folgte man dem System des Ibn Sina, nur wenige gingen auf
Farabi zurück oder suchten beide zu vereinigen. Von den
physischen und metaphysischen Lehren nahm man weniger Notiz;
Ethik und Politik wurden schon mehr gepflegt; allgemein
studiert aber nur die Logik. Diese ließ sich trefflich in
schulmäßige Form bringen, als reine Formallogik war sie ein
Werkzeug, dessen sich jeder bedienen konnte. Mit den Mitteln
der Logik ließ sich ja alles beweisen. Und wenn einmal ein
Beweis als fehlerhaft erkannt wurde, so tröstete man sich
damit, dass die Behauptung doch richtig sein könnte, wenn auch
der Beweis dafür nicht richtig geführt worden war.
Schon in der Encyklopädie des Abu Abdallah al-Chwarizmi aus
dem letzten Viertel des zehnten Jahrhunderts war der Logik ein
größerer Raum zugemessen als der Physik und Metaphysik. Ebenso
machten es viele spätere Encyklopädien und Sammelwerke. Auch
die Dogmatiker fingen ihr System an mit logischen und
erkenntnistheoretischen Betrachtungen, in denen dem “Wissen”
ein traditionelles Lob gespendet wurde. Und seit dem zwölften
Jahrhundert entstand eine ganze Menge Einzelbearbeitungen des
aristotelischen Organons. Als vielgebraucht, kommentiert u. s.
w. seien hier nur genannt die Werke des Abhari (gest. 1264),
der unter dem Titel Isagudschi (εἰσαγωγή) eine kurze Übersicht
der ganzen Logik gab, und des Qazwini (gest. 1276).
An der größten Universität der muslimischen Welt, in Kairo,
werden heutzutage noch die Kompendien des 13. und 14.
Jahrhunderts gebraucht. Dort heißt es noch, wie lange Zeit bei
uns: Zuerst Collegium logicum! Selbstverständlich mit keinem
besseren Erfolge. Man lässt sich, innerhalb der Schranken des
Gesetzes, die von den alten Philosophen aufgefundenen Regeln
des Denkens gefallen, lächelt aber dabei über jene Männer und
über die mutazilitischen Dialektiker, die “an die Vernunft
geglaubt”. [153]