Philosophie im Islam

Geschichte der Philosophie im Islam

Tjitze J. de Boer

1901

STUTTGART. FR. FROMMANNS VERLAG (E. HAUFF).

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VI. Die Philosophie im Westen

4. Ibn Roschd

1. Abu-l-Walid Mohammed ibn Achmed ibn Mohammed ibn Roschd (Averroes) wurde im Jahre 1126 zu Kordova aus einer Juristenfamilie geboren. Dort eignete er sich auch die gelehrte Bildung seiner Zeit an. Im Jahre 1153 [166]soll er von Ibn Tofail dem Fürsten Abu Jaaqub Jusuf vorgestellt sein, über welchen Vorfall wir einen charakteristischen Bericht besitzen. Nach den einleitenden Höflichkeitsphrasen nämlich fragte ihn der Fürst: Was ist die Ansicht der Philosophen über den Himmel, ist er ewig oder entstanden? Vorsichtig antwortete Ibn Roschd, er beschäftige sich nicht mit Philosophie. Darauf fing der Fürst mit Ibn Tofail über den Gegenstand an zu reden und zeigte zum Erstaunen des Zuhörers seine Bekanntschaft mit Aristoteles, Platon und den Philosophen und Theologen des Islam. Jetzt rückte auch Ibn Roschd mit der Sprache heraus und erwarb sich die Gunst des hohen Herrn. Sein Schicksal war bestimmt. Er sollte den Aristoteles interpretieren, wie keiner es vor ihm gethan, damit die Menschheit rein und vollständig die Wissenschaft besitze.

Nebenbei war er Jurist und Mediziner. Wir finden ihn (1169) als Richter in Sevilla und kurz darauf in Kordova. Abu Jaaqub, jetzt Chalif, beruft ihn im Jahre 1182 als seinen Leibarzt, nach kurzer Zeit aber ist er wieder Richter in seiner Vaterstadt, wie es sein Vater und Großvater gewesen. Aber die Verhältnisse verschlechtern sich. Die Philosophen werden verflucht und ihre Schriften ins Feuer geworfen. In seinem Alter wird Ibn Roschd von Abu Jusuf nach Elisana (Lucena bei Kordova) verbannt, doch stirbt er in der Residenz Marokko, am 10. Dez. 1198.

2. Auf Aristoteles konzentriert sich seine Wirksamkeit. Was er von dessen Schriften und über sie erlangen kann, wird fleißig studiert und genau verglichen. Ibn Roschd hat noch in Übersetzung Schriften der Griechen gekannt, die jetzt ganz oder teilweise verloren sind. Kritisch und systematisch geht er ans Werk. Er paraphrasiert den Aristoteles, er interpretiert, bald kürzer, bald ausführlicher, in mittleren und großen Kommentaren. So verdient er sich den Namen des Kommentators, den er [167]auch in Dantes Komödie besitzt. Es ist, als ob die Philosophie der Muslime in ihm zum Verständnis des Aristoteles kommen soll, um dann, fertig, sterben zu können. Aristoteles ist für ihn der vollkommenste Mensch, der größte Denker, der im Besitze einer unfehlbaren Wahrheit gewesen. Neue Entdeckungen der Astronomie und der Physik könnten daran nichts ändern. Zwar kann man den Aristoteles mißverstehen. Ibn Roschd selbst hat manches, was er den Schriften Farabis und Ibn Sinas entnommen, später anders und besser verstehen gelernt. Doch lebt er immer des Glaubens, dass der richtig verstandene Aristoteles mit der höchsten uns Menschen erreichbaren Wissenschaft übereinstimmen werde. Im ewigen Kreislaufe des Weltgeschehens hat Aristoteles eine Höhe erreicht, über die hinauszugelangen nicht möglich ist. Denen, die nach Aristoteles gekommen sind, hat es oft viel Mühe und Nachdenken gekostet, sich die Einsichten zu erschließen, die sich dem ersten Meister leicht eröffneten. Nach und nach aber werden alle Zweifel und Gegenreden verstummen, denn Aristoteles ist ein Übermensch, gleichsam von der Vorsehung dazu bestimmt, zu zeigen, wie weit das menschliche Geschlecht es in seiner Annäherung an den Weltgeist bringen kann. Als die höchste Inkarnation des Geistes der Menschheit möchte Ibn Roschd seinen Meister den göttlichen nennen.

Es wird sich im folgenden zeigen, dass die maßlose Bewunderung für Aristoteles zu einer reinen Erfassung seiner Gedanken auch bei Ibn Roschd nicht ausreichte. Den Ibn Sina zu bekämpfen, lässt er keine Gelegenheit vorbeigehen. Mit Farabi und Ibn Baddscha, denen er vieles verdankt, setzt er sich auch gelegentlich auseinander. Er meistert alle seine Vorgänger, weit schlimmer als Aristoteles es seinen Lehrer Platon gethan. Und dennoch ist er selbst nicht hinausgekommen, bei weitem nicht, über die Auffassung neuplatonischer Ausleger und die Missverständnisse syrischer und arabischer Übersetzer. Öfter [168]folgt er sogar dem oberflächlichen Themistius entgegen dem verständigen Alexander von Aphrodisias, oder sucht ihre Ansichten zu kombinieren.

3. Ibn Roschd ist vor allem ein Fanatiker der aristotelischen Logik. Ohne sie wird man nicht selig und es ist schade für Platon und Sokrates, dass sie nicht davon wussten! Die Glückseligkeit der Menschen bemisst sich nach der Stufe ihrer logischen Einsichten. Mit kritischem Blicke erkennt er Porphyrs Isagoge als entbehrlich, aber Rhetorik und Poetik rechnet er noch zum logischen Organon. Da gibt es denn die wunderlichsten Missverständnisse. Tragödie und Komödie z. B. werden zu Lob- und Schmähgedichten, die poetische Wahrscheinlichkeit muss es sich gefallen lassen, entweder demonstrierbare Wahrheit oder trügerischen Schein zu bedeuten, die Erkennung auf der Bühne wird zur apodeiktischen Erkenntnis u. s. w. Von der griechischen Welt hat er natürlich überhaupt keine Anschauung. Es ist verzeihlich, denn er konnte keine Ahnung davon haben. Dennoch verzeiht man nicht gerne dem, der andere geschulmeistert.

Wie seine Vorgänger legt Ibn Roschd besonderen Nachdruck auf das Sprachliche, soweit es allen Sprachen gemeinsam. Dieses Gemeinsame, das Universelle also, hat Aristoteles, meint er, in seiner Hermeneutik, aber auch in der Rhetorik, immer vor Augen. So soll es auch der arabische Philosoph halten, nur darf er die Beispiele zur Erläuterung der allgemeinen Regeln der arabischen Sprache und Litteratur entnehmen. Um die allgemeinen Regeln aber ist es zu thun, Wissenschaft ist Erkenntnis des Allgemeinen.

Die Logik ebnet dazu die Wege, dass unser Wissen aus sinnlicher Besonderheit zur reinen Vernunftwahrheit aufsteige. Die Menge wird immer im Sinnlichen leben, im Irrtum herumtappen. Mangelhafte Anlage und wenig Ausbildung, dazu schlechte Gewöhnung halten sie vom Fortschritt zurück. Doch muss es einigen möglich sein, zur Erkenntnis der Wahrheit zu gelangen. Der Adler [169]schaut der Sonne ins Gesicht, denn, wenn keiner sie anschauen könnte, so hätte die Natur etwas vergebens gemacht. Was da glänzt, soll gesehen, was da ist, soll erkannt werden, wenn auch nur von einem einzigen Manne. Und die Wahrheit ist. Die Liebe zu ihr in unserer Brust wäre ganz vergebens, wenn wir uns ihr nicht nähern könnten. Ibn Roschd glaubt, in vielen Dingen die Wahrheit zu erkennen, ja die absolute Wahrheit auffinden zu können. Mit Lessing hätte er sich nicht bescheiden mögen, sie zu suchen.

Die Wahrheit ist ihm ja in Aristoteles gegeben. Von diesem Standpunkte blickt er auf die muslimische Theologie herab. Zwar erkennt er in der Religion eine Wahrheit eigener Art (s. unten § 7), aber die Theologie ist ihm zuwider. Sie will beweisen, was, auf diese Weise, nicht bewiesen werden kann. Die Offenbarung im Koran, so lehrt Ibn Roschd mit anderen, später ähnlich Spinoza, hat nicht den Zweck, die Menschen zu belehren, sondern sie zu bessern. Nicht Wissen, sondern Gehorsam oder Sittlichkeit ist das Ziel des Gesetzgebers, der weiß, dass menschliches Glück nur in der Gesellschaft zu verwirklichen ist.

4. Was Ibn Roschd von seinen Vorgängern, namentlich von Ibn Sina, unterscheidet, ist vor allem die unzweideutige Art und Weise, in der er die Welt als ewigen Prozess des Werdens auffasst. Die Welt als ganzes ist eine ewig-notwendige Einheit, ohne irgendwelche Möglichkeit des Nicht- oder Andersseins. Materie und Form sind nur im Gedanken zu trennen. Die Formen wandern nicht wie Gespenster durch die dunkle Materie, sondern sind keimartig in dieser enthalten. Wie Naturkräfte wirken die materiellen Formen, ewig fortzeugend, nie von der Materie getrennt, aber dennoch göttlich zu nennen. Absolutes Entstehen und Vergehen gibt es nicht, denn alles Geschehen ist Übergang von der Potenzialität zur Aktualität und von der Aktualität in die Potenzialität zurück. Dabei wird gleichartiges immer nur von gleichartigem erzeugt. [170]

Es gibt aber eine Stufenordnung des Seienden. Die materielle oder substanzielle Form steht in der Mitte zwischen bloßem Accidens und reiner (separater) Form. Auch die substanziellen Formen zeigen graduelle Verschiedenheiten, Mittelzustände zwischen Potenzialität und Aktualität. Und endlich das ganze System der Formen, von der niedersten hylischen Form bis zum göttlichen Wesen, der Urform des Alls, ist ein geschlossener Stufenbau.

Der ewige Prozess des Werdens innerhalb der gegebenen Ordnung setzt nun eine ewige Bewegung voraus, und diese ein ewig Bewegendes. Wenn die Welt entstanden wäre, so könnte man von ihr nur schließen auf eine andere, ebenfalls entstandene Körperwelt, die sie erzeugt hätte, ins Unendliche. Wenn sie ein Mögliches wäre, nur auf ein Mögliches, daraus sie geworden, und so in infinitum. Nur die Annahme einer einheitlich ewig-notwendig bewegten Welt gewährt uns nach Ibn Roschd die Möglichkeit, auf ein ewig bewegendes, von der Welt getrenntes Wesen zu schließen, das, indem es immerfort die Bewegung und schöne Ordnung des Alls bewirkt, Urheber der Welt genannt werden darf, und das in den Geistern, welche die Sphären bewegen — denn jede besondere Bewegung erfordert ihr besonderes Prinzip —, die Vermittler seiner Thätigkeit hat.

Das Wesen des ersten Bewegenden oder Gottes, sowie der Sphärengeister, findet Ibn Roschd im Denken, in dem ihm die Einheit des Seins gegeben ist. Das mit seinem Gegenstande identische Denken ist die einzige positive Bestimmung des göttlichen Wesens, womit dann Sein und Einheit absolut zusammenfallen. Sein und Einheit kommen nämlich nicht zum Wesen hinzu, sondern sind, wie alle Universalien, nur im Denken gegeben. Das Denken bringt überall das Allgemeine im Besonderen hervor. Zwar ist das Universale als Natur in den Dingen wirksam, aber das Universale als solches ist nur im Verstande. Oder der Möglichkeit nach ist es in den Dingen, wirklich aber im [171]Verstande, d. h. im Verstande hat es mehr Sein, eine höhere Art zu existieren als in den Dingen.

Fragt man nun, ob das göttliche Denken auch das Besondere, oder nur das Allgemeine umfasse, so antwortet Ibn Roschd: keins von beidem, denn über beides ist das göttliche Wesen hinaus. Sein Denken bewirkt das All, umfasst das All. Gott ist das Prinzip, die Urform und der Endzweck aller Dinge. Er ist die Weltordnung, die Versöhnung aller Gegensätze, das All selbst in seiner höchsten Existenzweise. Dass von einer göttlichen Vorsehung im gewöhnlichen Sinne also nicht geredet werden könne, ergibt sich daraus von selbst.

5. Zwei Arten des Seienden kennen wir: ein bewegtes und ein bewegendes, selbst aber unbewegtes, oder ein körperliches und ein geistiges. Im Geistigen aber liegt die höhere Einheit oder Vollendung alles Seienden in stufenmäßiger Ordnung. Es ist also keine abstrakte Einheit. Die Sphärengeister sind, je ferner sie dem ersten stehen, um so weniger einfach. Alle erkennen sich selbst, aber in ihrem Wissen ist auch die Beziehung auf die erste Ursache. Daraus ergibt sich eine Art Parallelismus zwischen dem Körperlichen und dem Geistigen. Der Zusammensetzung des Körperlichen aus Materie und Form entspricht etwas in den niederen Geistern. Was dem rein Geistigen beigemischt, ist zwar keine Materie, die etwas erleiden könnte, aber doch etwas der Materie ähnliches, das ein anderes in sich aufzunehmen vermag. Sonst ließe sich mit der Einheit des auffassenden Geistes die Vielheit der Intelligibilia nicht in Übereinstimmung bringen.

Die Materie erleidet, der Geist aber empfängt. Hauptsächlich mit Rücksicht auf den menschlichen Geist hat Ibn Roschd diesen fein unterscheidenden Parallelismus eingeführt.

6. Dass die menschliche Seele sich zu ihrem Körper verhalte, wie die Form zur Materie, steht dem Ibn Roschd fest. Es ist ihm völlig ernst damit. Die Theorie vieler [172]unsterblicher Seelen weist er, Ibn Sina bekämpfend, ganz bestimmt zurück. Nur als Vollkommenheit ihres Leibes hat die Seele einen Bestand.

Was die empirische Psychologie betrifft, ist er ängstlich bestrebt, sich an Aristoteles, gegen Galen u. a., zu halten. Aber in der Lehre vom Nus entfernt er sich, ohne dass er sich dessen bewusst wäre, nicht unbeträchtlich von seinem Meister. Eigentümlich, von neuplatonischen Anschauungen ausgehend, ist seine Auffassung der materiellen Vernunft. Sie ist nicht bloß eine Anlage oder eine Fähigkeit der menschlichen Seele. Sie ist auch nicht gleichbedeutend mit dem sinnlich-geistigen Vorstellungsleben, sondern sie ist etwas Überseelisches, Überindividuelles. Die materielle Vernunft ist ewiger, unvergänglicher Geist, ebenso ewig und unvergänglich wie die reine Vernunft oder der thätige Geist über uns. Es ist die Verselbständigung der Materie im Bereiche des Körperlichen, die hier von Ibn Roschd, freilich mit Anschluss an Themistius u. a., auf das Gebiet des Geistigen übertragen wird.

Die materielle Vernunft ist also ewige Substanz. Die Anlage aber oder die Fähigkeit des menschlichen Individuums zu geistiger Erkenntnis nennt Ibn Roschd leidende Vernunft. Diese entsteht und vergeht mit den Individuen, während die materielle Vernunft ewig ist, wie die Gattung der Menschheit.

Nun bleibt aber, wie nicht anders möglich, das Verhältnis zwischen dem thätigen und dem empfangenden Geiste (so sagen wir jetzt für materielle Vernunft) etwas dunkel. Der thätige Geist macht die Vorstellungen der menschlichen Seele intelligibel, der empfangende Geist nimmt sie in sich auf. Das Seelenleben der menschlichen Individuen ist also der Ort, wo das mystische Liebespaar sich trifft. Und die Örter sind sehr verschieden. Von der ganzen seelischen Anlage des Menschen und von der Disposition seiner Vorstellungen hängt es ab, in welchem Grade der thätige Geist dieselben zur Intelligibilität erheben [173]kann, inwiefern der empfangende Geist sie zu seinem Inhalte zu machen im Stande ist. Dadurch erklärt es sich, dass die Menschen nicht alle auf derselben Stufe geistigen Erkennens stehen. Aber die Summe geistiger Erkenntnis in der Welt ändert sich nicht, wenn auch ihre Verteilung an die einzelnen Schwankungen unterliegt. Mit Naturnotwendigkeit ersteht immer wieder der Philosoph, sei es Aristoteles oder Ibn Roschd, in dessen Kopf das Seiende zum Begriff wird. Zwar sind die Gedanken der Individuen zeitlich und ist der empfangende Geist, insofern der einzelne an ihm teil hat, veränderlich, aber als menschliche Gattungsvernunft betrachtet, ist dieser Geist ewig unveränderlich, wie der thätige Geist aus der letzten Sphäre über uns.

7. Im ganzen sind es drei große Ketzereien, die das System des Ibn Roschd in Widerspruch setzen zu der Theologie der drei Weltreligionen seiner Zeit. Erstens die Ewigkeit der Körperwelt und der sie bewegenden Geister, zweitens der notwendige Kausalnexus alles Weltgeschehens, sodass für Vorsehung, Wunder und dergleichen kein Platz bleibt, und drittens die Vergänglichkeit alles Individuellen, womit auch die individuelle Unsterblichkeit aufgehoben ist.

Logisch betrachtet scheint die Annahme einer Anzahl selbständiger Sphärengeister unter Gott keinen genügenden Grund zu besitzen. Aber Ibn Roschd hilft sich hier, wie seine Vorgänger, über den Widerspruch hinweg mit der Behauptung, jene Sphärengeister seien nicht individuell, sondern nur der Art nach verschieden. Ihr Zweck war ja nur, so lange die Einheit des Weltsystems nicht erkannt war, die verschiedenen Bewegungen zu erklären. Nachdem das ptolemäische Weltsystem gefallen und diese vermittelnden Geister überflüssig wurden, identifizierte man den thätigen Geist mit Gott, wie es übrigens auch schon früher von spekulativer und religiöser Seite versucht war. Ein Schritt weiter war es nur, auch den ewigen Geist der Menschheit mit Gott zu identifizieren. Keins von beiden [174]hat Ibn Roschd gethan, wenigstens nicht nach dem Wortlaute seiner Schriften. Aber in seinem Systeme war, bei konsequenter Durchführung, die Möglichkeit dazu gegeben, wie zu einer pantheistischen Weltanschauung überhaupt. Andererseits konnte sich leicht der Materialismus, wie entschieden ihn auch unser Philosoph bekämpfte, daran lehnen. Denn wo die Ewigkeit, Form und Wirksamkeit alles Materiellen so stark betont wird, wie von ihm geschah, da mag der Geist noch König heißen, aber, wie es scheinen könnte, nur von des Stoffes Gnaden.

Jedenfalls ist Ibn Roschd ein kühner und folgerichtiger, wenn auch kein origineller Denker zu nennen. Die theoretische Philosophie genügte ihm, doch schuldete er es seiner Zeit und seiner Stellung, sich mit der Religion und der Praxis abzufinden. Wir können uns darüber kurz fassen.

8. Ibn Roschd findet oft Gelegenheit, gegen die ungebildeten Herrscher und die bildungsfeindlichen Theologen seiner Zeit sich zu äußern. Doch bleibt ihm das Leben im Staate immer der Einsamkeit vorzuziehen. Auch seinen Gegnern dankt er — das ist ein erfreulicher Charakterzug — für manche Belehrung. Die Einsamkeit, meint er, bringe keine Künste und Wissenschaften hervor, höchstens könne man in ihr das Erworbene genießen und es vielleicht um ein weniges vermehren. Zum Wohle des Ganzen aber soll jeder beitragen, auch die Frauen sollen wie die Männer der Gesellschaft und dem Staate dienen. Hier schließt Ibn Roschd sich dem Platon an (die Politik des Aristoteles hat er nicht gekannt) und bemerkt ganz vernünftig, viel Armut und Elend seiner Zeit rühre daher, dass man sich die Weiber nur zu einem außerdem sehr fraglichen Vergnügen wie Haustiere oder Pflanzen halte, statt sie an der materiellen und geistigen Güterproduktion und der Hütung dieser Güter teilnehmen zu lassen.

In der Ethik tadelt unser Philosoph sehr scharf die Doktrin der Rechtslehrer, dass etwas nur gut oder böse [175]sei, weil Gott es so gewollt. Alles hat vielmehr von Natur oder vernunftgemäss seinen sittlichen Charakter. Die von vernünftiger Einsicht bestimmte Handlung ist sittlich. Freilich ist es nicht die Einzelvernunft, sondern die Staatsraison, an die in letzter Instanz zu appellieren ist.

Von staatsmännischem Gesichtspunkte aus betrachtet Ibn Roschd auch die Religion. Er würdigt sie ihres moralischen Zweckes wegen. Sie ist Gesetz, keine Lehre. Deshalb bekämpft er fortwährend die Theologen, die statt gläubig zu gehorchen begreifen wollen. Er macht es Gazali zum Vorwurf, dass dieser der Philosophie Einfluss auf seine Religionslehre auszuüben gestattet und dadurch viele zum Zweifel und Unglauben veranlasst hat. Das Volk soll glauben, so wie es im Buche steht. Das ist Wahrheit, freilich eine Wahrheit für große Kinder, denen man Märchen erzählt. Was darüber hinaus, ist vom Übel. Für die Existenz Gottes z. B. hat der Koran zwei jedem einleuchtende Beweise: die göttliche Fürsorge für alles, besonders für den Menschen, und die Erschaffung des Lebens in Pflanzen, Tieren u. s. w. Daran ist nicht zu rütteln, am Wortlaute der Offenbarung nicht theologisch herumzudeuteln. Denn die Beweise, welche die Theologen für das Dasein Gottes beibringen, halten einer wissenschaftlichen Kritik nicht Stand, ebensowenig wie der aus dem Begriffe des Möglichen und Notwendigen bei Farabi und Ibn Sina. Das alles führt zu Atheismus und Libertinismus. Im Interesse der Sittlichkeit, des Staates also, ist die halbe Theologie zu bekämpfen.

Dagegen dürfen die wissenden Philosophen das Wort Gottes im Koran deuten. Im Lichte höchster Wahrheit verstehen sie, was damit bezweckt ist. Und dem gemeinen Manne sagen sie davon nur so viel, wie er eben aufzufassen im Stande ist. Auf diese Weise kommt die schönste Harmonie heraus. Religionsgesetz und Philosophie stimmen mit einander überein, eben weil sie nicht dasselbe wollen. Wie Praxis und Theorie verhalten sie sich. Indem der [176]Philosoph die Religion begreift, lässt er sie in ihrem Bereiche gelten, sodass die Philosophie gar nicht wider die Religion verstößt. Die Philosophie aber ist die höchste Form der Wahrheit, zugleich auch die erhabenste Religion. Die Religion des Philosophen nämlich ist die Erkenntnis alles dessen, was ist.

Aber irreligiös erscheint diese Ansicht doch, und eine positive Religion kann es sich nicht gefallen lassen, im Reiche der Wahrheit die führende Stellung der Philosophie anzuerkennen. Nur natürlich war es, dass die Theologen des Westens, ähnlich ihren orientalischen Brüdern, die Gunst der Verhältnisse ausnutzten und nicht ruhten, bis sie die Herrin zur Magd der Theologie erniedrigt hatten. [177]

1 Vgl. hierzu Munk, Mélanges, p. 389–409. ↑

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