Javad Shayvard

Göttliche Gerechtigkeit

oder
Das Problem des Bösen

Javad Shayvard

 

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Zuschauer und Teilnehmer

Menschen, die mit Mensch und Natur aus nächster Nähe in Kontakt gekommen sind und dabei nicht bloße Zuschauer geblieben sind, haben nie an Gottes Gerechtigkeit gezweifelt. Sokrates nahm, als man ihn unter Anklage stellte, den Giftbecher aus der Hand seines Wärters und trank ihn. Er trank das Gift ohne Angst, denn er hatte eine große Botschaft für die Menschen aller Zeiten.

Betrachten wir das Leben von 'Ali ibn Abi Talib (a.s.), dem Wunder3 des Propheten Muhammad (s.a.s.) und sein am meisten geliebter Gefährte, so finden wir es voller Leiden und Not. In seiner Gemeinschaft war er der Beste in seinen Kenntnissen und in seinem Tun, und das ist nur einer von vielen Vorzügen. Aber er schwieg fünfundzwanzig Jahre lang um der ideologischen Einheit seines Volkes willen in jener Zeit. Obwohl er die Kraft und Möglichkeit zum Aufstand hatte, um die Macht zu ergreifen, tat er es nicht und sah andere herrschen. Fünfundzwanzig Jahre lang nahm er dies seelische Leid an. Später, als das Volk begriff, wer er war, als sie zu ihm kamen und ihn zu ihrem Führer wählten, leitete er die Gemeinschaft mit großer Gerechtigkeit, einer Gerechtigkeit, die einen östlichen Materialisten Slibli Shumayyil, zu den Worten veranlasste: "Der Führer Ali ibn Abi Talib (a.s.), ist der Mensch, der weder im Westen noch im Osten, weder gestern noch heute, seinesgleichen gefunden hat." 4 Imam Ali (a.s.) selbst hat gesagt: "Wenn ihr mir die Welt geben würdet mit allem, was darin ist, unter der Bedingung, dass ich einer Ameise auch nur die leere Schale eines Gerstenkorns, nehme, ich würde es nicht tun."5

Für den Gerechten ist diese Welt voller Leid, Imam Ali (a.s.) hat aber trotzdem nie gesagt, diese Welt ist böse. Immer sagte er, dass es die Welt der Leiden sei, seid also bereit, seid auf der Hut. Er sagte auch: "Diese Welt ist der Beste Ort für den, der sie richtig versteht." 6

Dazu könnte man jetzt sagen: Das ist sehr gut, aber daraus folgt noch nicht, dass das Problem des Bösen an sich nicht existiert, weil Männer wie Imam Ali (a.s.) so gesprochen und gehandelt haben. Gut, aber woher kam das Problem des Bösen denn überhaupt? Aus den Köpfen einiger anderer Menschen, deren Leben weit leichter war als das von Imam Ali (a.s.), wie Epikur, Hume oder Mill oder sogar ich und du. Betrachtet man ihre Biographien, so hat keiner von ihnen so sehr gelitten wie der Erstgenannte. Die Letzteren sind, verglichen mit dem Ersten, weit eher Zuschauer als echte Teilnehmer, woraus zu sehen ist, wie subjektiv und relativ das Problem des Bösen (des Leids) ist.

Da wir also jetzt wissen, dass das Leid und die Not für den Einzelnen zum Segen dienen können, wollen wir sehen, was dieser Segen, oder Nutzen im einzelnen sein kann. Aber, genau an diesem Punkt könnte man sich fragen: Selbst, wenn ich zugebe, dass im Leiden Sinn und Segen liegt, warum konnte Gott nicht zu dem gleichen Ergebnis kommen - ohne das Leid? Wenn Er allmächtig und weise ist, warum hat Er uns aufgegeben, durch all diese Not und all dieses Leid hindurchzugehen, um zu einer höheren Daseinsstufe zu gelangen?

Auf diese Frage lassen sich viele Antworten finden. Aber es gibt eine grundsätzliche Antwort, die das Problem an der Wurzel faßt und uns zeigt, wie kleinmütig und ungerechtfertigt unsere Antworten sind.

Gerechtigkeit heißt: Man hat eine Methode und allgemeine Ausführungsbestimmungen, gemäß eines Gesetzes (oder einer Reihe von Gesetzen) zu verfahren. Wir können also Gerechtigkeit gar nicht denken oder begreiflich machen, wenn nicht für den, der diesem Gesetz entsprechend handeln soll, schon ein Gesetz existiert - außerhalb seiner selbst. Ein Mensch ist gerecht, wenn sein Verhalten und sein Handeln nach einem Gesetz (oder einer Reihe von Gesetzen) ausgerichtet sind, das ihm nicht zur Verfügung steht und von ihm nicht geändert werden kann. In der Gesellschaft besteht z.B. ein Gesetz, wonach Arbeiter bezahlt werden müssen. Dieses Gesetz ist eine Realität, außerhalb der Entscheidungsfreiheit Einzelner. Mit anderen Worten, sie können dieses Gesetz nicht beliebig ändern. Wenn jemand den Arbeiter bezahlt, so handelt er gerecht, tut er es nicht, so handelt er ungerecht.

Dieses Prinzip der Gerechtigkeit ist auf Gott keinesfalls anwendbar, da es kein Gesetz gibt, das außerhalb des göttlichen Machtbereiches läge oder Ihm nicht zur Wahl stände, und kein Gesetz kann Ihn hindern. Deshalb sagen wir, daß Gottes Handeln dem göttlichen Ziel oder Zweck (‘hikmah’) folgt und nicht den Gesetzen, die wir mit unserem Wissen und unseren Wünschen schaffen und dann fälschlich mit Seiner Gerechtigkeit vergleichen. Mit anderen Worten, der Ton in den Händen des Töpfers kann für den Töpfer keine Gesetze machen und kann die Gerechtigkeit des Töpfers nicht mit eben den Gesetzen vergleichen.

Dies war die erste Antwort, welche die Frage völlig aufhebt. Es gibt auch noch eine andere Antwort auf die Frage. Aber bevor wir uns damit näher befassen, wollen wir die Frage noch einmal wiederholen: "Warum müssen wir durch all dies von Gott geschaffene Leid, um eine höhere Stufe (der Vollkommenheit) zu erreichen?" Um die zweite Antwort zu verstehen, müssen wir die Ordnungen des Daseins - die Stufen des Lebens - näher untersuchen.

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