Das Dasein
Schauen Sie auf ein Glas vor Ihnen auf
dem Tisch! Wenn ich Sie nun frage, ob sich in dem Glas Wasser
befindet, sehen Sie in das Glas hinein und überzeugen sich
darüber, ob Wasser darin ist oder nicht. Nun frage ich Sie, ob
der Ofen brennt. Sie werden wieder in dem Ofen nachschauen und
mir mit Gewissheit antworten können, dass darin Feuer ist. In
beiden Fällen haben Sie eine subjektive Erkenntnis zum
Ausdruck gebracht. Sie haben bewusst das Wort “in“ und nicht
etwa “über“ oder “neben“ gewählt. Die Bezeichnungen “Glas“ und
“Ofen“ wurden von ihnen bewusst zur Unterscheidung von anderen
Gegenständen gebracht; ebenso verhält es sich mit den Wörtern
“Wasser“ und “Feuer“.
Wie steht es nun mit den Wörtern “sein“
oder “nicht sein“ im Sinne von “existieren“ oder “nicht
existieren“? Beinhaltet das Wort wie die anderen oben
genannten Wörter eine ihm eigene Bedeutung? Wenn ja, was für
eine, die in den oben genannten Antwortsätzen sowohl auf
“Wasser“ als auch auf “Feuer“ zutrifft. Wurde in den beiden
Fällen rein aus formalen Gründen (wegen der Gemeinsamkeit im
Wortlaut) vom Wort “sein“ Gebrauch gemacht, oder wird in
beiden Fällen gemeinsamer Wesensinhalt zum Ausdruck gebracht?
Hierzu ein Beispiel:
Wenn zwei beliebige Personen denselben
Vornamen tragen, sprechen wir von einer “Gemeinsamkeit im
Wortlaut“. Der Vorname “Hasan“ z.B. hat keine Bedeutung in
Bezug auf die Personen, die so heißen. Wir können über den
Namen keine Rückschlüsse auf die Personen ziehen, der Name
drückt keinerlei Gemeinsamkeiten der Namensträger aus. Den
Aussagen “der Schnee ist weiß“ und “die Kreide ist weiß“ ist
aber mehr als nur der Wortlaut gemeinsam. Der Schnee und die
Kreide sind von gleicher Farbe: “Weiß“ steht für eine
“Gemeinsamkeit im Inhalt“. Wir haben eine bestimmte
Vorstellung von dem Begriff “weiß“, den wir, wenn er zutrifft,
beliebig oft einsetzen können.
Ebenso verhält es sich mit dem Wort
“Sein“. Wir können es sowohl in der Aussage über das Wasser im
Glas als auch in der über das Feuer im Ofen anwenden. Wir
haben eine ganz bestimmte Vorstellung, wenn wir das Wort
“Sein“ gebrauchen. Aber was ist diese Vorstellung genau und
wie ist sie zustande gekommen?
Genau an diesem Punkt setzt die
Existenzphilosophie an. Auch in anderen Sprachen gibt es ein
entsprechendes Wort für “Sein“, das jener gleichen objektiven
Tatsache zugrunde liegt. Das Wort “Sein“ hat in jedem Fall nur
eine ganz spezielle Bedeutung, die sich gleichermaßen auf
Wasser als auch auf Feuer bezieht. Durch “Sein“ wird also ein
gemeinsamer Wesensinhalt zum Ausdruck gebracht.
Darüberhinaus sagt der Gelehrte Sadr
al-Muta'allihin: „Um die einzigartige, allumfassende
Bedeutung des Wortes “Sein“ zu erfassen, ist es nicht
notwendig, einen komplizierten Weg der Existenzphilosophie
einzuschlagen. Jeder Mensch mit gesundem Menschenverstand wird
zugeben, dass er bei seiner ersten Begegnung mit der
objektiven Welt zuallererst mit dem “Sein“ schlechthin
vertraut wurde. Erst dann setzte in ihm die Kenntnis über das
“was“ und die Beschaffenheit der Objekte ein. Auch wenn wir
aus weiter Entfernung ein Objekt sehen, dann haben wir über
das “Sein“ bzw. dessen Realität keine Zweifel, selbst wenn wir
nicht genau wissen, worum es sich bei dem Objekt handelt.“