Die Gedanken des Ibn Sina (Avicenna)
Ibn Sina
führt in seinem wahrscheinlich letzten philosophischen Werk
“Ischarat wa Tanbihat“ (Zeichen und Ermahnungen) eine ganz
neue Formulierung ein. Anstatt sich mit den “Ursprüngen der
Natur“ auseinanderzusetzen, spricht er vom “Sein“ und von “den
Ursachen des Seins“: „Ein Wesen ist (von seiner Existenz
her) entweder notwendig [wadschib] oder möglich [mumkin]. Ein
mögliches Wesen muss notgedrungen aus einem Wesen außerhalb
seiner Existenz hervorgegangen sein. Wenn dieses Wesen nun von
seiner Essenz her die Notwendigkeit seiner Existenz in sich
trägt (wadschib-ul-wudschud), dann ist es selber Ursprung und
Schöpfer. Stellt es eine “mögliche Existenz“ (mumkin-ul-wudschud)
dar, dann ist es aus einem anderen Wesen hervorgegangen. Wenn
wir nun diese Kette unendlich fortsetzen würden, dann
existierte keines der in dieser langen Kette angenommenen
Wesen in Wirklichkeit. Denn die Existenz jedes mit dem
nächsten verflochtenen Gliedes der Kette ist von der Existenz
des vorhergegangenen Gliedes abhängig. Sollte sich diese
Abhängigkeit auch unendlich fortsetzen, so würde sich an der
Existenz der Abhängigkeit nichts ändern.“
An einem Beispiel können die Ausführungen
Ibn Sinas verständlicher gemacht werden: Nehmen wir an, ein
großer Stein mitten auf einer Straße versperrte den Durchgang.
Nun kann sich dieser Stein nicht von selber bewegen. Der erste
Passant sieht die versperrte Straße vor sich und will auf eine
zweite Person warten, um mit ihr den Stein fortzutragen. Der
zweite Passant aber will lieber auf einen dritten warten, um
das Hindernis zu dritt fortzutragen. Der nächste Passant würde
wiederum auf den vierten warten usw. Der Stein könnte erst
dann aus dem Weg geräumt werden, wenn sich jemand bereit
finden würde, unabhängig von dem nächsten, den Stein alleine
oder gemeinsam mit den vorangegangenen fortzutragen.
Ibn Sina argumentiert weiter: „Bevor
wir nicht auf eine Ursache gestoßen sind, deren Existenz aus
sich selbst besteht und die von anderen Existenzen unabhängig
ist, wird kein Glied unserer Kette Wirklichkeit werden. Wir
müssen daher zu einem Wesen gelangen, das durch sich selbst
Wirklichkeit oder mit anderen Worten “Wadschib-ul-Wudschud“
(zwingend aus sich selbst bestehend) ist. Erst dann hat das
Sein einen Anfang und schenkt im Laufe der Entwicklung jedem
einzelnen Glied der Daseinskette sein Dasein. Erst dank jener
unabhängigen Existenz, die keine Einschränkungen, kein “Wenn
und Aber“ kennt, bekommt alles Wirklichkeit.“
Ibn Sina gelangt also nicht über die
Suche nach den Ursachen und Ursprüngen der Natur, sondern
durch die Frage nach der „möglichen oder notwendigen“
Existenz zu einer notwendigerweise aus sich selbst bestehenden
Essenz. Über die Frage nach den Abhängigkeiten der “möglichen“
[mumkin] von der “notwendigen“ Existenz [wadschib] kommt er
zum absolut Seienden.
Ibn Sina widmet sich dann Themen wie
Einheit, Wissen und anderen notwendigen Eigenschaften des
Schöpfers. Er führt aus, dass der Beweis des absolut Seienden
schlagkräftiger sei, weil wir über das eigentliche Dasein
nachdächten und uns von diesem inspirieren ließen, als wenn
wir über die Phänomene zum absoluten Wahren gelangten. Schon
im Heiligen Qur´an wird auf diese Betrachtungsweise
hingewiesen:
„Bald werden wir ihnen Unsere Zeichen
an den Horizonten und an ihnen selbst zeigen, damit ihnen
deutlich wird, dass es die Wahrheit ist…“ (Heiliger Qur´an
41:53)
Eine andere Gruppe wird folgendermaßen
angesprochen:
„Ist es nicht genug, dass Dein Gott
Zeuge über alles ist?“
(Heiliger Qur´an 41:53)
Ibn Sina fährt fort: „Es sind die
Wahrhaftigen, die Gott für die Ursache von allem Existierenden
halten und nicht umgekehrt die Existenz von allem für die
Ursache von Gott erachten.“
Der bekannte persische Gelehrte Nasruddin
Tusi
bemerkt zu Ibn Sinas Aussagen sinngemäß:
Schriftgelehrten [mutakallimun] halten
das In-Erscheinungtreten der Materie und ihrer
Eigenschaften für den Beweis einer göttlichen Existenz und
gelangen durch das fachspezifische Denken über die Schöpfung
zu den Merkmalen Gottes.
Die Philosophen [falasifa] sehen in der
Existenz der Bewegung die Notwendigkeit einer
bewegungschaffenden Existenz. Sie argumentieren, dass die
existierende, in Beziehung stehende Kette der Bewegungen nicht
unendlich sein kann, sondern auf etwas Bewegungschaffendes
zurück gehen muss, das selbst frei von Bewegung ist. Auf diese
Weise gelangen sie zur absoluten Existenz.
Aber die Gottsucher [ilahiyun] erfahren
die Existenz Gottes, indem sie über die Existenz als solche
meditieren. Sie gehen davon aus, dass die Existenz entweder
“notwendig“ oder “möglich“ ist. Über die Wirkungen der
notwendigerweise aus sich selbst bestehenden Essenz und des
“Möglichen“ gelangen sie zu den Merkmalen [sifat] der
ursprünglichen Existenz. Über diese Merkmale kommen sie dann
zu den Erscheinungsformen anderer Wesen und erkennen deren
Abhängigkeit vom “notwendigen Sein“.
Ibn Sina ist nun der Ansicht, dass diese
letzte Art ihrer Beweisführung anderen vorzuziehen sei. Denn
das überzeugendste Argument, das dem Menschen Gewissheit
verschaffen kann, ist dasjenige, dass wir uns über Ursache der
Wirkung klar werden. Aber umgekehrt, nämlich über die Wirkung
die Ursache begründen zu wollen, braucht nicht immer
überzeugend zu sein.
Zusammenfassend sieht Ibn Sina daher die
Zeichen dieser Welt und den Menschen selbst als Beweise für
die Existenz Gottes, die Existenz Gottes als Beweis für die
Existenz aller anderen Wesen. Er bezeichnet die zweite Art der
Beweisführung als die korrektere, die jenen “Wahrhaftigen“ [sadiqin]
zuteil wird, die ständig auf der Suche nach der Wahrheit sind.
Nach Ibn Sina galt die Argumentation mit
der „möglichen“ und „notwendigen“ Existenz als der häufigste
Gottesbeweis. Philosophische Abhandlungen begnügten sich
fortan mit dieser Argumentation.
Nasruddin Tusi selbst beschäftigt sich in
seinem “Diskurs Klarlegung des Glaubens“ (Tadschrid al-Itiqad)
mit dem Gottesbeweis, indem er unter anderem auf das Wesen des
Schöpfers eingeht: „Das Wesen ist entweder aus sich selbst
bestehend - dann ist unsere Abhandlung abgeschlossen und wir
bedürfen keiner weiteren Beweisführung. Oder aber das Wesen
ist nicht aus sich selbst bestehend, dann stützt es sich auf
ein bereits aus sich selbst bestehendes Wesen. Anderenfalls
würde es sich im Kreis oder in der Reihe fortsetzen, wobei
beides ausgeschlossen ist.“
Der Gelehrte Allama Hilli
bezieht sich in seinem Werk „Die Erläuterung zur Klarlegung
des Glaubens“ auf Tusi: „Bei dem Beweis für die Existenz
eines aus sich selbst bestehenden Wesens gehen wir fest davon
aus, dass es eine Wirklichkeit gibt. Diese Wirklichkeit, über
die wir keinen Zweifel hegen, ist entweder aus sich selbst
bestehend - in diesem Fall ist die Sache abgeschlossen - oder
sie ist nicht aus sich selbst bestehend, dann handelt es sich
um eine “mögliche Essenz“ die einer Ursache bedarf, die sie
hervorgebracht hat. In diesem Fall ist die Ursache, die sie
hervorgebracht hat, entweder aus sich selbst bestehend – dann
ist die Angelegenheit ebenfalls abgeschlossen – oder sie ist
eine “mögliche Essenz“, dann bedarf sie wiederum einer Ursache
oder sie setzt sich im Kreis oder in der Reihe fort, was aber
wie wir bereits anmerkten - ausgeschlossen ist.“