L16 – Leid, eine Ursache für das Erwachen
Jene, die von der Arroganz, der Macht und des Erfolges
betrunken sind, und die aufgrund der Versuchung der Seele und
der Sinne die menschliche Ethik völlig vergessen haben, werden
manchmal in verschiedenen Ecken dieser Welt feststellen, dass
das Auftreten von unangenehmen Ereignissen sie für
fundamentale Veränderungen und Entwicklungen öffnet, ihnen die
Schleier des Vergessens zerreißend. Sie können sogar auf einen
Weg geführt werden, der sie zu einer gewissen moralischen
Perfektion führt und zu einer Zukunft, die fruchtbarer ist als
ihre Gegenwart. Sie sind Leute, in denen die Not eine
tiefgreifende Transformation angeregt hat.
Wenn man die schädlichen Wirkungen der Nachlässigkeit, des
Rausches und der Arroganz bedenkt, die zahlreichen moralischen
Lektionen betrachtet, die schwere Krisen uns lehren und
außerdem das Versagen und die Fehlschläge sieht, die insofern
relativ sind, da sie großen Segen beinhalten, so tragen diese
Wirkungen aktiv dazu bei, das Bewusstsein des Menschen und
seinen Willen aufzubauen.
Schwernisse sind daher die Vorläufer von höheren,
fortgeschrittenen Stadien des Seins. Sie bereiten den Menschen
auf die Entschädigung vor, welche ihn erwartet und durch seine
Antwort wird ihm klar, ob er die höheren Stufen der Hingabe
und Aufrichtigkeit erreicht hat oder ob er in den Zerfall
gesunken ist. Der Koran sagt: „Wahrlich, Wir haben den
Menschen zu einem Stande des Kampfes erschaffen.“ (Vgl. Koran:
Sure 90, Vers 4) Oder auch: „Wahrlich, Wir werden euch prüfen
mit ein wenig Furcht und Hunger und Verlust an Gut und Leben
und Früchten; doch gib frohe Botschaft den Geduldigen, die
sagen, wenn ein Unglück sie trifft: „Wahrlich, Gottes sind wir
und zu Ihm kehren wir heim.“ Sie sind es, auf die Segen und
Gnade fällt von ihrem Herrn und die rechtgeleitet sind.“ (Vgl.
Koran: Sure 2, Vers 155-157)
Ohne Zweifel, Gott hätte die Welt auch ohne Entbehrungen,
Schmerz und Leid erschaffen können, aber das hätte bedeutet,
dass Er dem Menschen die Freiheit zu wählen nimmt. Der Mensch
hätte dann einfach als willenlose Kreatur in der Welt gelebt,
ohne die Macht der Entscheidung zu haben, so wie jedes andere
Lebewesen, dem es an Wahrnehmung und Bewusstsein mangelt, von
der Natur geformt und dieser völlig ergeben. Hätte der Mensch
dann den Namen „Mensch“ verdient?
Wenn er diesen hohen Preis bezahlt hätte, seine Potentiale
und seine Freiheit verlierend – äußerst wertvolle Ressourcen –
wäre er in die Richtung der Perfektion vorangeschritten, wäre
er zerfallen oder womöglich zurückgefallen? Hätte nicht auch
die Welt alles Gute und Schöne verloren, die ja nur durch ihr
Gegenteil verständlich wird?
Es ist klar, dass die Macht zu unterscheiden und zu
bevorzugen, die Existenz von Gut und Böse, von Schönem und
Hässlichen, es möglich macht. Indem Gott dem Menschen der
unschätzbare Segen der Freiheit und der Fähigkeit zu wählen
gegeben hat, wünschte sich Gott, dessen Weisheit in der ganzen
Schöpfung manifestiert ist, seine Fähigkeit zu Schaffen
offenbar zu machen, auf dass sie Seine Weisheit und Macht
bezeugt.
Er platzierte im Menschen die Möglichkeit, Gutes wie
Schlechtes zu tun, und obwohl Er ihn zu keinem der beiden
Dinge zwingt, erwartet Er gute Taten von ihm. Gott billigt das
Üble nicht, es ist das rechtschaffene Handeln, was Sein
Wohlwollen hervorruft und für das Er reichlichen,
unvorstellbaren Lohn bereitstellt. Gott warnt den Menschen den
Pfad des Übels zu folgen und droht ihm mit Bestrafung und mit
Qual, wenn er diesen dennoch wählt.
Durch die Benutzung der Entscheidungskraft, die Gott dem
Menschen erwies, kann der Mensch so agieren, wie er es sollte,
sich so Gottes Führung und seinem eigenen Gewissen anpassend.
Wenn aber zuweilen sein Fuß ausrutscht und er sich
versündigt, bleibt der Weg mit Gottes Wohlgefallen und
Vergebung offen, zur Reinheit und zum Licht umzukehren. Das
ist an sich eine weitere Manifestation von Gottes
Großzügigkeit und Seiner allumfassenden Gerechtigkeit, ein
weiterer Segen, die Er Seinen Dienern erweist.
Würde Gott den Tugendhaften für ihr rechtschaffenes
Verhalten und Handeln sofortigen Lohn geben, sie würden nicht
in irgendeiner Weise besser sein, als die korrupten und
sündhaften. Und wenn das Üble in den Gedanken und in den
Handlungen immer mit einer augenblicklichen Bestrafung und
Vergeltung verbunden wäre, das Tugendhafte und Reine hätte in
dieser Welt keinen Vorzug gegenüber dem Laster und der
Unreinheit.
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Das Prinzip des Widerspruchs ist tatsächlich die Basis der
geschaffenen Welt. Es ist das, was die Materie in die Lage
versetzt, sich zu bewegen und sich zu entwickeln, so dass
Gottes Gunst durch die Welt fließen kann. Würde die Materie
als Ergebnis verschiedener Begegnungen mit verschiedenen
Existenzen nicht unterschiedliche Formen annehmen und wäre das
Sein nicht fähig neue Existenzformen unterzubringen, die
Differenzierung und der Aufstieg wäre nicht möglich. Eine
stabile und unveränderliche Welt würde stagnierendem Kapital
gleichen, welches keinen Profit erbringt. Für die Schöpfung
ist die Veränderung das Kapital, das den Profit bringt. Es ist
natürlich möglich, dass die Investition einer bestimmten Summe
des Kapitals Verluste mit sich bringt, aber die ständige
Bewegung der Materie als Ganzes bringt definitiv Profit. Die
Widersprüchlichkeiten, die in den Formen der Materie
stattfinden, enden in der Höherentwicklung der Ordnung des
Seins bis hin zur Perfektion.
Es gibt die Frage, ob denn das Böse im wortwörtlichen Sinne
in der Welt existiert. Wenn wir es genau betrachten, so werden
wir sehen, dass das Übel in Dingen nicht ein wirkliches
Attribut ist, sondern vielmehr nur relativ existiert.
Schusswaffen in den Händen des Feindes mag vielleicht ein
Übel für eine Person sein und Schusswaffen in den Händen
dieser Person ist ein Übel für ihren Feind. Vergisst man den
Feind und die Person, so sind Schusswaffen an sich weder gut
noch böse.
Der Kurs der Natur kann man als mathematisch bezeichnen, da
sein System in einer Weise etabliert wurde, dass es nicht alle
unsere Wünsche erfüllt. Wir jedoch wünschen uns, dass all
unsere unzählbaren Wünsche erfüllt werden und dass ohne auf
das kleinste Hindernis zu stoßen. Die Kräfte der Natur
antworten nicht den grenzenlosen Wünschen, denen wir uns
hingeben, Wünsche, die aus der Sicht unserer wahren Natur in
jederlei Weise wertlos sind. Die Natur zollt unseren Wünschen
keine Beachtung und weigert sich diesen gerecht zu werden.
Wenn wir etwas Unangenehmes in unserem Leben erleben, werden
wir zu Unrecht bestürzt und wir bezeichnen die Ursachen für
unsere Beschwerden als ein „Übel“.
Wenn jemand seine Öllampe anzünden will, und sie kein Öl
mehr hat, so wird er auch nicht seufzen und klagen oder das
ganze Universum verfluchen!
Die Schöpfung ist ständig dabei durch unaufhörliches
Bemühen und Streben ihrem klaren Ziel näher zu kommen.
Spezifische Ursachen bestimmen jeden Schritt den sie macht und
die Veränderungen und Entwicklungen die sie unterläuft sind
nicht dazu entworfen, die Zustimmung des Menschen zu bekommen
oder seine Wünsche zu befriedigen.
Es sollte akzeptiert werden, dass einige der Vorkommnisse
dieser Welt nicht mit unseren Wünschen korrespondieren, und
wir sollten daher nicht Dinge als ungerecht erachten, die für
uns unerfreulich sind.
Ali (Friede sei mit ihm), der Führer der Gläubigen,
beschreibt die Welt als einen Aufenthaltsort der Härte, aber
als einen guten Ort für diejenigen, die diesen Platz gut
kennen. Obwohl er in seinem Leben viel Leid und Unerfreuliches
erfuhr, hat er doch ständig die Aufmerksamkeit des Menschen
auf die absolute Gerechtigkeit Gottes gelenkt.[38]
Ein weiterer Punkt, der nicht übersehen werden darf, ist,
dass Gut und Böse nicht zwei sich gegenseitig ausschließende
Kategorien oder Serien in der Ordnung der Schöpfung sind. Das
Gute ist identisch mit dem Sein und das Böse, Üble ist
identisch mit dem Nicht-Sein. Wo immer Sein erscheint, wird
Nicht-Existenz ebenso mit impliziert.
Wenn wir von Armut, Ignoranz oder Krankheit sprechen,
sollten wir sie uns nicht als separate Realitäten vorstellen.
Armut bedeutet einfach nur, keinen Reichtum zu besitzen,
Ignoranz ist die Abwesenheit von Wissen und die Krankheit ist
der Verlust der Gesundheit. Reichtum und Wissen sind
Realitäten, aber Armut ist nichts anderes als die leere in der
Hand und der Tasche. So haben Armut und Ignoranz keine
fassbare Realität, sie werden definiert durch die
Nicht-Existenz anderer Dinge.
Das Gleiche gilt für das Unglück und den Härten des Lebens,
die wir für schlecht und für den Ursprung unseres Leidens
halten. Auch sie sind eine Art des Verlustes oder eine Form
des Nicht-Seins und sie sind in diesem Sinne übel, weil sie in
Destruktion oder Nicht-Existenz von etwas Anderem resultieren.
Abgesehen davon kann nichts, sofern es existiert, als böse
oder hässlich bezeichnet werden.
Wenn Unglück nicht Krankheit und Tod mit sich bringen
würde, so wäre der Verlust und der Untergang von bestimmten
Lebensformen - was verhindert, dass sich deren Kapazitäten
entfalten - nicht schlecht. Es ist der Verlust und der Ruin,
der aus Fehlschlägen hervorkommt, der inhärent schlecht ist.
Was immer in der Welt existiert, ist gut. Das Böse betrifft
das Nicht-Sein und da Nicht-Sein keine Kategorie ist, die
unabhängig vom Sein bestehen kann, wurde sie nicht geschaffen
und existiert daher nicht.
Sein und Nicht-Sein sind wie die Sonne und ihr Schatten.
Wenn man einen Körper zur Sonne dreht, fällt ein Schatten. Was
ist ein Schatten? Der Schatten wurde durch nichts erschaffen,
er besteht nur aus dem Bereich, wo die Sonnenstrahlen nicht
hinfallen, weil ein Hindernis dazwischen steht. Es hat keine
eigene Quelle.
Die Dinge haben eine wirkliche Existenz, weil sie ohne auf
andere Dinge bezugnehmend erschaffen wurden, in diesem Sinne
sind sie nicht böse. Denn in dem Weltbild, welches aus dem
Glauben an Gott abgeleitet wird, ist die Welt äquivalent zum
Guten. Alles ist gut und wenn etwas schlecht ist, dann nur im
relativen Sinne, in Verbindung mit Dingen, die etwas anderes
sind als sie selbst. Die Existenz von Allem ist unreal, außer
der Existenz selbst und sie ist unberührt von der Schöpfung.
Der Moskito ist zum Beispiel an sich kein Übel. Wenn er als
solches beschrieben wird, dann nur, weil er dem Menschen
schaden kann und dieser durch ihn krank wird. Das, was da
geschaffen ist, existiert als Sache in sich selbst und durch
sich selbst, es ist wirkliches Sein. Spekulatives oder
bedingtes Sein hat keinen Platz in der Ordnung der Existenzen
und ist nicht real. Wir können daher nicht fragen, warum Gott
das relative und bedingte geschaffen hat. Bedingte oder
abstrakte Entitäten sind von den realen Entitäten untrennbar,
die sie entstehen lassen, sie sind deren unvermeidliche
Begleiterscheinungen und nehmen daher nicht an ihrem Sein
teil. Man kann also bei bedingten Entitäten nicht vom
Geschaffenen sprechen.
Das, was real ist, muss notwendigerweise seine Existenz vom
Schöpfer bekommen. Nur jene Dinge und Attribute sind real, die
außerhalb des Verstandes existieren. Relative Attribute werden
von Verstand geschaffen und haben außerhalb von diesem keine
Existenz, so dass wir hier nicht nach dem Schöpfer suchen
brauchen.
Mehr noch, was ein Potential zur Existenz hat,
repräsentiert in der Welt als Ganzes, mit allem was in ihr ist
und mit allen Attributen, die untrennbar von ihr sind, eine
unteilbare Einheit. Wenn man die Weisheit Gottes als
Ausgangsstellung nimmt, muss entweder die Welt nach dem
Muster, welche spezifisch für sie ist, existieren oder aber
sie existiert gar nicht.
Eine Welt ohne Ordnung oder der es an Kausalität fehlt,
eine Welt, in der das Gute und das Böse nicht voneinander
getrennt sind, wäre eine Unmöglichkeit und eine Fantasie. Es
ist nicht möglich anzunehmen, dass ein Teil der Welt existiert
und ein anderer nicht. Schöpfung ist ein Ganzes, wie die Form
und die Figur eines Menschen und dessen Einzelteile sind
voneinander untrennbar.
Gott ist absolut frei von Bedarf. Eine Konsequenz daraus
ist, dass Er nach belieben Existenz verleihen kann, so wie ein
großzügiger Mensch für seine Freigebigkeit keinen Dank
verlangt oder ein fähiger Künstler, der ständig damit
beschäftigt ist, neue Formen zu schaffen. Solch eine reiche
Großzügigkeit und Kreativität definiert die Essenz des Herrn,
dessen Zeichen in jedem Phänomen evident und manifestiert
sind.
[38] „Nahj Al-Balaghah” (Ed. Subhi Salih)