Gottes Attribute

Inhaltsverzeichnis

Gott und seine Attribute

Sayyid Mudschtaba Musawi Lari

Lektionen in der Islamischen Doktrin - Buch I

Frei übersetzt unter Aufsicht von Dr. Mohammad Razavi Rad - übersetzt von A. Malik

L16 – Leid, eine Ursache für das Erwachen

Jene, die von der Arroganz, der Macht und des Erfolges betrunken sind, und die aufgrund der Versuchung der Seele und der Sinne die menschliche Ethik völlig vergessen haben, werden manchmal in verschiedenen Ecken dieser Welt feststellen, dass das Auftreten von unangenehmen Ereignissen sie für fundamentale Veränderungen und Entwicklungen öffnet, ihnen die Schleier des Vergessens zerreißend. Sie können sogar auf einen Weg geführt werden, der sie zu einer gewissen moralischen Perfektion führt und zu einer Zukunft, die fruchtbarer ist als ihre Gegenwart. Sie sind Leute, in denen die Not eine tiefgreifende Transformation angeregt hat.

Wenn man die schädlichen Wirkungen der Nachlässigkeit, des Rausches und der Arroganz bedenkt, die zahlreichen moralischen Lektionen betrachtet, die schwere Krisen uns lehren und außerdem das Versagen und die Fehlschläge sieht, die insofern relativ sind, da sie großen Segen beinhalten, so tragen diese Wirkungen aktiv dazu bei, das Bewusstsein des Menschen und seinen Willen aufzubauen.

Schwernisse sind daher die Vorläufer von höheren, fortgeschrittenen Stadien des Seins. Sie bereiten den Menschen auf die Entschädigung vor, welche ihn erwartet und durch seine Antwort wird ihm klar, ob er die höheren Stufen der Hingabe und Aufrichtigkeit erreicht hat oder ob er in den Zerfall gesunken ist. Der Koran sagt: „Wahrlich, Wir haben den Menschen zu einem Stande des Kampfes erschaffen.“ (Vgl. Koran: Sure 90, Vers 4) Oder auch: „Wahrlich, Wir werden euch prüfen mit ein wenig Furcht und Hunger und Verlust an Gut und Leben und Früchten; doch gib frohe Botschaft den Geduldigen, die sagen, wenn ein Unglück sie trifft: „Wahrlich, Gottes sind wir und zu Ihm kehren wir heim.“ Sie sind es, auf die Segen und Gnade fällt von ihrem Herrn und die rechtgeleitet sind.“ (Vgl. Koran: Sure 2, Vers 155-157)

Ohne Zweifel, Gott hätte die Welt auch ohne Entbehrungen, Schmerz und Leid erschaffen können, aber das hätte bedeutet, dass Er dem Menschen die Freiheit zu wählen nimmt. Der Mensch hätte dann einfach als willenlose Kreatur in der Welt gelebt, ohne die Macht der Entscheidung zu haben, so wie jedes andere Lebewesen, dem es an Wahrnehmung und Bewusstsein mangelt, von der Natur geformt und dieser völlig ergeben. Hätte der Mensch dann den Namen „Mensch“ verdient?

Wenn er diesen hohen Preis bezahlt hätte, seine Potentiale und seine Freiheit verlierend – äußerst wertvolle Ressourcen – wäre er in die Richtung der Perfektion vorangeschritten, wäre er zerfallen oder womöglich zurückgefallen? Hätte nicht auch die Welt alles Gute und Schöne verloren, die ja nur durch ihr Gegenteil verständlich wird?

Es ist klar, dass die Macht zu unterscheiden und zu bevorzugen, die Existenz von Gut und Böse, von Schönem und Hässlichen, es möglich macht. Indem Gott dem Menschen der unschätzbare Segen der Freiheit und der Fähigkeit zu wählen gegeben hat, wünschte sich Gott, dessen Weisheit in der ganzen Schöpfung manifestiert ist, seine Fähigkeit zu Schaffen offenbar zu machen, auf dass sie Seine Weisheit und Macht bezeugt.

Er platzierte im Menschen die Möglichkeit, Gutes wie Schlechtes zu tun, und obwohl Er ihn zu keinem der beiden Dinge zwingt, erwartet Er gute Taten von ihm. Gott billigt das Üble nicht, es ist das rechtschaffene Handeln, was Sein Wohlwollen hervorruft und für das Er reichlichen, unvorstellbaren Lohn bereitstellt. Gott warnt den Menschen den Pfad des Übels zu folgen und droht ihm mit Bestrafung und mit Qual, wenn er diesen dennoch wählt.

Durch die Benutzung der Entscheidungskraft, die Gott dem Menschen erwies, kann der Mensch so agieren, wie er es sollte, sich so Gottes Führung und seinem eigenen Gewissen anpassend.

Wenn aber zuweilen sein Fuß ausrutscht und er sich versündigt, bleibt der Weg mit Gottes Wohlgefallen und Vergebung offen, zur Reinheit und zum Licht umzukehren. Das ist an sich eine weitere Manifestation von Gottes Großzügigkeit und Seiner allumfassenden Gerechtigkeit, ein weiterer Segen, die Er Seinen Dienern erweist.

Würde Gott den Tugendhaften für ihr rechtschaffenes Verhalten und Handeln sofortigen Lohn geben, sie würden nicht in irgendeiner Weise besser sein, als die korrupten und sündhaften. Und wenn das Üble in den Gedanken und in den Handlungen immer mit einer augenblicklichen Bestrafung und Vergeltung verbunden wäre, das Tugendhafte und Reine hätte in dieser Welt keinen Vorzug gegenüber dem Laster und der Unreinheit.

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Das Prinzip des Widerspruchs ist tatsächlich die Basis der geschaffenen Welt. Es ist das, was die Materie in die Lage versetzt, sich zu bewegen und sich zu entwickeln, so dass Gottes Gunst durch die Welt fließen kann. Würde die Materie als Ergebnis verschiedener Begegnungen mit verschiedenen Existenzen nicht unterschiedliche Formen annehmen und wäre das Sein nicht fähig neue Existenzformen unterzubringen, die Differenzierung und der Aufstieg wäre nicht möglich. Eine stabile und unveränderliche Welt würde stagnierendem Kapital gleichen, welches keinen Profit erbringt. Für die Schöpfung ist die Veränderung das Kapital, das den Profit bringt. Es ist natürlich möglich, dass die Investition einer bestimmten Summe des Kapitals Verluste mit sich bringt, aber die ständige Bewegung der Materie als Ganzes bringt definitiv Profit. Die Widersprüchlichkeiten, die in den Formen der Materie stattfinden, enden in der Höherentwicklung der Ordnung des Seins bis hin zur Perfektion.

Es gibt die Frage, ob denn das Böse im wortwörtlichen Sinne in der Welt existiert. Wenn wir es genau betrachten, so werden wir sehen, dass das Übel in Dingen nicht ein wirkliches Attribut ist, sondern vielmehr nur relativ existiert.

Schusswaffen in den Händen des Feindes mag vielleicht ein Übel für eine Person sein und Schusswaffen in den Händen dieser Person ist ein Übel für ihren Feind. Vergisst man den Feind und die Person, so sind Schusswaffen an sich weder gut noch böse.

Der Kurs der Natur kann man als mathematisch bezeichnen, da sein System in einer Weise etabliert wurde, dass es nicht alle unsere Wünsche erfüllt. Wir jedoch wünschen uns, dass all unsere unzählbaren Wünsche erfüllt werden und dass ohne auf das kleinste Hindernis zu stoßen. Die Kräfte der Natur antworten nicht den grenzenlosen Wünschen, denen wir uns hingeben, Wünsche, die aus der Sicht unserer wahren Natur in jederlei Weise wertlos sind. Die Natur zollt unseren Wünschen keine Beachtung und weigert sich diesen gerecht zu werden. Wenn wir etwas Unangenehmes in unserem Leben erleben, werden wir zu Unrecht bestürzt und wir bezeichnen die Ursachen für unsere Beschwerden als ein „Übel“.

Wenn jemand seine Öllampe anzünden will, und sie kein Öl mehr hat, so wird er auch nicht seufzen und klagen oder das ganze Universum verfluchen!

Die Schöpfung ist ständig dabei durch unaufhörliches Bemühen und Streben ihrem klaren Ziel näher zu kommen. Spezifische Ursachen bestimmen jeden Schritt den sie macht und die Veränderungen und Entwicklungen die sie unterläuft sind nicht dazu entworfen, die Zustimmung des Menschen zu bekommen oder seine Wünsche zu befriedigen.

Es sollte akzeptiert werden, dass einige der Vorkommnisse dieser Welt nicht mit unseren Wünschen korrespondieren, und wir sollten daher nicht Dinge als ungerecht erachten, die für uns unerfreulich sind.

Ali (Friede sei mit ihm), der Führer der Gläubigen, beschreibt die Welt als einen Aufenthaltsort der Härte, aber als einen guten Ort für diejenigen, die diesen Platz gut kennen. Obwohl er in seinem Leben viel Leid und Unerfreuliches erfuhr, hat er doch ständig die Aufmerksamkeit des Menschen auf die absolute Gerechtigkeit Gottes gelenkt.[38]

Ein weiterer Punkt, der nicht übersehen werden darf, ist, dass Gut und Böse nicht zwei sich gegenseitig ausschließende Kategorien oder Serien in der Ordnung der Schöpfung sind. Das Gute ist identisch mit dem Sein und das Böse, Üble ist identisch mit dem Nicht-Sein. Wo immer Sein erscheint, wird Nicht-Existenz ebenso mit impliziert.

Wenn wir von Armut, Ignoranz oder Krankheit sprechen, sollten wir sie uns nicht als separate Realitäten vorstellen. Armut bedeutet einfach nur, keinen Reichtum zu besitzen, Ignoranz ist die Abwesenheit von Wissen und die Krankheit ist der Verlust der Gesundheit. Reichtum und Wissen sind Realitäten, aber Armut ist nichts anderes als die leere in der Hand und der Tasche. So haben Armut und Ignoranz keine fassbare Realität, sie werden definiert durch die Nicht-Existenz anderer Dinge.

Das Gleiche gilt für das Unglück und den Härten des Lebens, die wir für schlecht und für den Ursprung unseres Leidens halten. Auch sie sind eine Art des Verlustes oder eine Form des Nicht-Seins und sie sind in diesem Sinne übel, weil sie in Destruktion oder Nicht-Existenz von etwas Anderem resultieren. Abgesehen davon kann nichts, sofern es existiert, als böse oder hässlich bezeichnet werden.

Wenn Unglück nicht Krankheit und Tod mit sich bringen würde, so wäre der Verlust und der Untergang von bestimmten Lebensformen - was verhindert, dass sich deren Kapazitäten entfalten - nicht schlecht. Es ist der Verlust und der Ruin, der aus Fehlschlägen hervorkommt, der inhärent schlecht ist. Was immer in der Welt existiert, ist gut. Das Böse betrifft das Nicht-Sein und da Nicht-Sein keine Kategorie ist, die unabhängig vom Sein bestehen kann, wurde sie nicht geschaffen und existiert daher nicht.

Sein und Nicht-Sein sind wie die Sonne und ihr Schatten. Wenn man einen Körper zur Sonne dreht, fällt ein Schatten. Was ist ein Schatten? Der Schatten wurde durch nichts erschaffen, er besteht nur aus dem Bereich, wo die Sonnenstrahlen nicht hinfallen, weil ein Hindernis dazwischen steht. Es hat keine eigene Quelle.

Die Dinge haben eine wirkliche Existenz, weil sie ohne auf andere Dinge bezugnehmend erschaffen wurden, in diesem Sinne sind sie nicht böse. Denn in dem Weltbild, welches aus dem Glauben an Gott abgeleitet wird, ist die Welt äquivalent zum Guten. Alles ist gut und wenn etwas schlecht ist, dann nur im relativen Sinne, in Verbindung mit Dingen, die etwas anderes sind als sie selbst. Die Existenz von Allem ist unreal, außer der Existenz selbst und sie ist unberührt von der Schöpfung.

Der Moskito ist zum Beispiel an sich kein Übel. Wenn er als solches beschrieben wird, dann nur, weil er dem Menschen schaden kann und dieser durch ihn krank wird. Das, was da geschaffen ist, existiert als Sache in sich selbst und durch sich selbst, es ist wirkliches Sein. Spekulatives oder bedingtes Sein hat keinen Platz in der Ordnung der Existenzen und ist nicht real. Wir können daher nicht fragen, warum Gott das relative und bedingte geschaffen hat. Bedingte oder abstrakte Entitäten sind von den realen Entitäten untrennbar, die sie entstehen lassen, sie sind deren unvermeidliche Begleiterscheinungen und nehmen daher nicht an ihrem Sein teil. Man kann also bei bedingten Entitäten nicht vom Geschaffenen sprechen.

Das, was real ist, muss notwendigerweise seine Existenz vom Schöpfer bekommen. Nur jene Dinge und Attribute sind real, die außerhalb des Verstandes existieren. Relative Attribute werden von Verstand geschaffen und haben außerhalb von diesem keine Existenz, so dass wir hier nicht nach dem Schöpfer suchen brauchen.

Mehr noch, was ein Potential zur Existenz hat, repräsentiert in der Welt als Ganzes, mit allem was in ihr ist und mit allen Attributen, die untrennbar von ihr sind, eine unteilbare Einheit. Wenn man die Weisheit Gottes als Ausgangsstellung nimmt, muss entweder die Welt nach dem Muster, welche spezifisch für sie ist, existieren oder aber sie existiert gar nicht.

Eine Welt ohne Ordnung oder der es an Kausalität fehlt, eine Welt, in der das Gute und das Böse nicht voneinander getrennt sind, wäre eine Unmöglichkeit und eine Fantasie. Es ist nicht möglich anzunehmen, dass ein Teil der Welt existiert und ein anderer nicht. Schöpfung ist ein Ganzes, wie die Form und die Figur eines Menschen und dessen Einzelteile sind voneinander untrennbar.

Gott ist absolut frei von Bedarf. Eine Konsequenz daraus ist, dass Er nach belieben Existenz verleihen kann, so wie ein großzügiger Mensch für seine Freigebigkeit keinen Dank verlangt oder ein fähiger Künstler, der ständig damit beschäftigt ist, neue Formen zu schaffen. Solch eine reiche Großzügigkeit und Kreativität definiert die Essenz des Herrn, dessen Zeichen in jedem Phänomen evident und manifestiert sind.

[38] „Nahj Al-Balaghah” (Ed. Subhi Salih)

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