Veröffentlicht am 8.7.2005 kurz nach einer Reihe von
Terroranschlägen in der Welt. Der Text gehört zu den am
meisten zitierten Texten des Autors.
Ein altes indisches Sprichwort besagt, dass man sein Gegenüber
erst dann besser verstehen kann, wenn man eine Weile in seinen
Sandalen gelaufen ist. In unterschiedlichen Variationen gibt
es jenes Sprichwort in fast allen Kulturen und ist inhaltlich
Bestandteil moderner Konfliktpräventionsstrategien. Nur, was
nützt alle Theorie, wenn wir nicht bereit sind zumindest für
eine Weile die Schuhe des vermeintlichen Feindes anzuziehen,
um ihn besser zu verstehen?
New York, Madrid, jetzt London und morgen irgendeine andere
Stadt mit großer Symbolkraft in der westlichen Welt sind hier
jedem “Westler“ bekannt. Aber weiß er auch, dass sein
Gegenüber an Deir Yassin, Balbek, Choramschahr, Halabdscha,
Falludscha, Abu Ghraib, Guantanamo und sehr viele andere Orte
mit noch viel größerer Symbolkraft denkt? Wahrscheinlich kennt
er einige der Orte nicht einmal.
Der Träger von Schuhen in der westlichen Welt macht den Islam
als Ganzes für die Terrorakte in “seiner“ Welt verantwortlich.
Die Diplomatischen unter ihnen differenzieren zwar noch
manchmal zwischen einem “Islamismus“, dessen Definition
niemand so genau kennt, und “dem Islam“, aber eigentlich
meinen sie doch jeden halbwegs sich zu seinem Glauben
bekennenden Muslim. Ist nicht der Islam eine kriegerische
Religion? Werden im Islam nicht die Frauen unterdrückt, kleine
Mädchen brutal beschnitten, Kinder mehr mit der Ohrfeige als
mit dem Buch gelehrt? Ist der Islam nicht der Inbegriff für
Steinigung, Handabhacken, Kopfabhacken, Hasspredigten und
massiven Freiheitseinschränkungen? Sind nicht Muslime die
sozial und materiell rückschrittlichsten Menschen dieser Welt?
Die Liste der Vorwürfe ließe sich wohl unbegrenzt fortsetzen,
und am Ende landet man dann in der U-Bahn in London. Sind
nicht die Terroranschläge von London die unausweichliche Folge
einer derart abartigen und unmenschlichen Religion?
Aber London birgt für den Träger von westlichen Schuhen auch
eine große Chance. An kaum einem anderen Ort Europas gibt es
so viele Moscheen, so viele Muslime neben Nichtmuslimen und so
viele Kulturen mit einer gemeinsamen Sprache. An kaum einem
anderen Ort Europas hat der Träger der westlichen Schuhe eher
die Gelegenheit, einmal in die Schuhe seines muslimischen
Gegenübers zu schlüpfen! Und plötzlich sieht die Welt ganz
anders aus, aber immer noch so erschreckend wie vorher, nur
mit anderen Vorzeichen.
Der Träger von muslimischen Schuhen macht “den Westen“ als
Ganzes für die Terrorakte in “seiner“ Welt verantwortlich. Die
Diplomatischen unter ihnen differenzieren zwar noch zwischen
echter und nur in der Theorie existierender “Demokratie und
Freiheit“ (an deren Existenz niemand glaubt) und “dem Westen“,
aber eigentlich meinen sie doch jeden sich halbwegs zu
“Freiheit und Demokratie“ bekennenden Westler. Ist nicht
“Demokratie und Freiheit“ eine kriegerische Ideologie? Werden
im Westen nicht die Frauen ausgebeutet, kleine Mädchen an
Pornoringe verscherbelt, Kinder mehr mit Sexismus als mit dem
Buch gelehrt? Ist der Westen nicht der Inbegriff für
Abtreibung, Drogenkonsums, Raubtierkapitalismus,
Morallosigkeit und massiven Freiheitseinschränkungen für
Muslime? Sind nicht Westler die familiär und spirituell
rückschrittlichsten Menschen dieser Welt? Die Liste der
Vorwürfe ließe sich wohl unbegrenzt fortsetzen, und am Ende
landet man dann in Abu Ghraib. Sind nicht die Besatzung des
Irak und anderer Orte unausweichliche Folge einer derart
abartigen und unmenschlichen Ideologie? Auch in diesen Schuhen
steuert alles auf eine Konfrontation zu. Doch wenn man diese
Schuhe schon einmal an hat, kann man ja einmal tiefer
nachfragen, wie ist es mit den Terroranschlägen in London ist?
Wie stehen die Muslime dazu?
Klar, inzwischen gibt es nicht eine halbwegs bekannt
Organisation, die sich nicht davon distanziert hätte, und das
in aller Deutlichkeit! Fast reflexartig hatten sich die
meisten schon distanziert, noch bevor sie dieses Mal dazu
aufgefordert wurden. Aber gibt das wirklich die Gemütslage
wieder, welche die einfachen Träger dieser Schuhe hat? Sind
nicht einige Füße darunter, die sich insgeheim teilweise auch
gefreut haben, das endlich auch einmal die Engländer eins
übergebraten bekommen haben? Wie viele seiner Schwestern und
Brüder, Mütter und Väter, Töchter und Söhne sind schon Opfer
britischer Imperialgelüste geworden, und wie viele unzählige
Familien leiden und trauern aufgrund britischen Terrors schon
seit Jahren? Ist es da nicht nur rechtens, wenn auch einige
englische Familien leiden? Klar, er wird das jetzt nicht
sagen, weder in der westlichen Welt, wo man ihn dafür verbal
verprügeln würde, noch in der islamischen Welt, wo ihn die
großen Gelehrten aller Rechtsschulen verdammen würden für so
viel unislamisches Gedankengut (bis auf eine von den USA
geschützte und gestützte Richtung), aber sein Hass sitzt so
tief, dass er eine gewisse Schadenfreude zumindest sich selbst
gegenüber nicht verhehlen kann. Sollen doch die echten
Gelehrten denken und predigen, was sie wollen; Hass kennt
keine Vernunft und folgt nicht der Rechtleitung. Hass
verdunkelt vor allem zuerst das eigene Herz.
Diese Schuhe sind nicht zu ertragen, ziehen wir sie schnell
aus und schlüpfen wieder in die westlichen Schuhe. Puh, jetzt
sind wir wieder frei! Diese hasserfüllten Leute haben es nicht
besser verdient. Klar ist es nicht gut, dass wir jetzt einige
von ihnen besonders die Schwachen in Westend verprügeln
wollen, aber ein wenig Angst täte denen doch ganz gut. Und
sicher sind wir nicht dafür, dass arme Frauen und Kinder bei
Bombenangriffen getötet werden, aber haben die nicht irgendwie
auch mit dem Islam zu tun, und muss man das nicht in Kauf
nehmen im Kampf gegen den Terror? Und sind nicht schließlich
wir die Guten und sie die Bösen? Muss man nicht unterscheiden
zwischen dem versehentlichen Töten durch einen Guten gegenüber
dem absichtlichen Morden durch einen Bösen?
Und der Träger jener Schuhe, ob der einen oder der anderen
Sorte, merkt nicht, dass er nur ein kleiner unbedeutender
Statist ist, der seine Rolle allerdings meisterhaft spielt;
ein Statist der großen Inszenierung namens “Clash of Cultures“.
Und Millionen von Statisten spielen das Spiel mit, und es ist
wie im richtigen Theater, der Statist bekommt einen
Hungerlohn, und der Regisseur und der Drehbuchautor werden
berühmt und kassieren das Geld. Weder die Londoner Schuhträger
noch diejenigen in Falludscha oder Abu Ghraib haben etwas
anderes bekommen als den Hungerlohn der Angst. Und den tragen
sie mit sich, teilweise ein Leben lang. Er beherrscht ihr
Denken und Handeln und nährt den Hass in ihren Herzen gegen
diejenigen, die in ihren Augen die Ursache für ihre Angst
sind. Und die Angst versperrt den Blick auf die eigentliche
Inszenierung. Man kennt weder den Regisseur noch den
Drehbuchautor. Jeder Einzelne weiß nicht, wer davon
profitiert, dass er Angst hat und hasst, und er merkt auch
nicht, dass sein Gegenüber in der gleichen Lage ist, und es
interessiert ihn auch nicht!
Als der große Prophet Moses nach langer Suche und einem
mühsamen und sehr beschwerlichen Aufstieg auf einen Berg,
angezogen von der Fackel Gottes, zum brennenden und dennoch
nicht verbrennenden Dornenbusch gelangte, bekam er den Befehl
seine Schuhe auszuziehen, denn er betrat heilige Erde. Er
betrat den Boden der wahren Freiheit und der Verkündigung von
Freiheit, erleuchtet von der Glut der wunderbarsten
Sehnsüchte. Er betrat den Boden, in dem die Niederwerfung vor
dem einzigen Schöpfer die Faszination und Liebe zu Ihm und
seine Schöpfung aufleben ließ! Aber um diese Liebe deutlich
spüren zu können, musste er seine Schuhe ausziehen! Nicht das,
was die Schuhe gesehen hatten, nicht die Orte, an die jene
Schuhe uns schon getragen hatten, waren der Maßstab, sondern
die Ehrfurcht und Liebe zu Gott und Seiner Schöpfung! Nur wer
die belastenden Schuhe der Vergangenheit abstreift, kann
reinen Herzens in die Zukunft sehen und Liebe empfangen und
weitergeben!
Wir müssen die Schuhe, die uns zu Sklaven einer uns
aufgezwungen Rolle machen wollen, abstreifen! Wir müssen
ausbrechen aus dem Teufelskreis der von Verbrechern
detailliert durchdachten Inszenierung, denn das Drehbuch hat
kein gutes Ende, für keinen von uns! Wir müssen den uns vom
Schöpfer für eine Zeit anvertrauten Geist befragen, unseren
Verstand mehr als je zuvor anstrengen und die Phantasie
bemühen, um Wege aus der Sackgasse zu finden!
Blumen vor der Botschaft Englands, niedergelegt von Muslimen,
sind ein Symbol mit großem Wert. Distanzierungen,
Verurteilungen, Demonstrationen unterschiedlichster Art für
Frieden und gegen Terror oder Besatzung von allen Seiten sind
hilfreich. Aber all das ist wie wir inzwischen sehen nicht
genug! Es hat in der muslimischen Welt genau so häufig
Demonstrationen gegen Terror gegeben wie in der westlichen
Welt gegen Besatzung, auch wenn von beiden Ereignissen
vergleichsweise wenig berichtet wurde und beide Seiten
einander wenig wahrnahmen.
Um den unaufhaltsam erscheinenden Fahrplan des “Clash of
Cultures“ zu durchbrechen, bedarf es einer inneren Revolution!
Es bedarf einer Revolution der bestehenden Kultur auf allen
Seiten, aber vor allem in unseren Herzen. Wir müssen unsere
Herzen befreien von den automatischen Hass, zu dem wir
getrieben werden sollen. Wir müssen unsere Herzen davor
befreien, Hass gegen jene zu spüren, gegen die man uns
aufhetzen will, hüben wie drüben! Gehen wir aufeinander zu und
reden wir miteinander, mehr noch als zuvor!
Ziehen wir
also unsere so belastenden Schuhe aus und schreiten Hand in
Hand als Barfüßige. Jesus lehrt auch die andere Wange
hinzuhalten. Das bedarf enormer Anstrengungen im Herzen!
Mohammed lehrt, sich nicht durch die eigene widerspenstige
Seele unterdrücken zu lassen. Das bedarf enormer Anstrengungen
im Herzen. Halten wir also die andere Wange hin und entwaffnen
wir dadurch diejenigen, die uns mit Waffen aufeinander jagen
wollen! Bekämpfen wir Hand in Hand diejenigen, die die
Schwächen unserer Seele ausbeuten wollen, um den Geist Gottes
nicht in uns wirken zu lassen.
Der Islam lehrt: Blut ist mächtiger als das Schwert. Die
Hassprediger und bewussten wie unbewussten Diener des “Clash“
haben daraus das Blut der Feinde und das eigene Schwert
gemacht. Aber es ist das eigene Blut, das mächtiger ist als
jedes menschenverachtende gegnerische Schwert, jede Bombe,
jeder Terroranschlag, und das war auch die Lehre Jesu!
Wehrhaftigkeit spiegelt sich darin wieder, dass wir ertragen
können, aufrichtig, standhaft, aber ohne Hass, ohne
Feindschaft, durchdrungen von der Liebe zur Wahrheit und
Wahrhaftigkeit. Das ist wahrer Widerstand gegen Unterdrückung.
Die Bomben von Falludscha und London wollen uns gegeneinander
jagen mit den Stiefeln des Hasses. Die Bombenleger von London
hassen alle Menschen. Sie unterscheiden nicht zwischen West
und Ost, zwischen Muslim und Christ (statistisch ist jedes
vierte Opfer in London ein Muslim). Sie wollen nur Hass
verbreiten!
Aber Liebe ist stärker als Hass, und wenn es dem Einzelnen von
uns gelingt, diese Liebe im eigenen Herzen wachsen zu lassen,
können diese Einzelnen ganze Armeen und ganze weltweit
agierende Terror verbreitende Organisationen überwinden und
sogar besiegen.
Das Ziel des “Clash of Cultures“ ist, dass Christen ihre
wahrhaftige Christlichkeit genau so verlieren, wie Muslime
ihren Islam und alle zusammen ihre ihnen angeborene
menschliche Natur und damit Menschlichkeit. Christen sollen im
missbrauchten Namen des Kreuzes und Muslime im missbrauchten
Namen des Dschihads aufeinender losschlagen! Dabei lehrt das
Kreuz die Selbstaufopferung und der große Dschihad den Kampf
gegen das Böse im eigenen Herzen!
Lassen wir
nicht zu, dass wir aufeinander gejagt werden, und stellen wir
uns dem entgegen, barfuß, aber mit Aufrichtigkeit,
Wahrhaftigkeit und einer unerschütterlichen Liebe!