2. Meine Studentenjahre
In Holland.
Meinen älteren Freund und Gönner, den Museumsdirektor
Passalacqua fand ich nach meiner Rückkehr in Berlin in
höchster Verstimmung wieder. Sein Ärger, daß seine Pläne zu
der Anlage und Aufstellung der seiner Obhut anvertrauten
Ägyptischen Sammlung in dem eben vollendeten Neuen Museum
höheren Ortes unberücksichtigt geblieben waren, verleiteten
ihn zu einer offiziell eingereichten Klage gegen den damaligen
Generaldirektor Herrn von Olfers und den Prof. Lepsius, die
handschriftlich nicht weniger als 270 Bogenseiten umfaßte. Der
vielbeschäftigte Verfasser des Kosmos lehnte es ab, das ihm
übersandte umfangreiche Opus durchzulesen und überhaupt sich
mit der heiklen Angelegenheit zu befassen. Jupiter tonans
zürnte, aber seine Blitze fielen ins Wasser. Mich selber traf
sein geheimer Groll, da ich mich entschieden weigerte,
wissenschaftliche Angriffe gegen Lepsius vom Stapel gehen zu
lassen, und im Gegenteil, auf Humboldts mündlich und
schriftlich ausgesprochene weise Ratschläge, darauf bedacht
war, in Zukunft eine freundlichere Stimmung des offiziellen
Gelehrten gegen mich zu erwecken. Passalacqua hatte mich
einmal als Trumpf in der bedauerlichen Angelegenheit
ausgespielt und in allen gesellschaftlichen Kreisen Berlins
das lärmende Tamtam geschlagen, ein anderes Mal riet mir die
einfachste Lebensklugheit, mich nicht als Mittel zu anderen
Zwecken mißbrauchen zu lassen. Ich fühlte mich genugsam
gewitzigt und widerstand allen Versuchungen, die an mich
herantraten. Eine rätselhafte, nie aufgeklärte
Klatschgeschichte trug hauptsächlich dazu bei, mich bei Zeiten
zu warnen. Herr de Saulcy sollte sich während eines
Aufenthaltes in Frankfurt a. M. abfällig über Alex. v.
Humboldt und meine Wenigkeit geäußert und es ausgesprochen
haben, er wolle nach Berlin kommen, um Rechenschaft (über
was?) zu fordern. Mein hoher Gönner zog es vor, an ihn eine
offene Anfrage zu richten. Die Erwiderung darauf giebt
inhaltlich das folgende Schreiben wieder:
»Ich eile Ihnen zu sagen, daß in einem Briefe vom 19.
Oktober, schon als Antwort auf meine Vorwürfe, Mr. de Saulcy
auf die liebenswürdigste Weise meldet: daß er in den Pyrenäen
war, nicht daran gedacht habe, jetzt nach Berlin zu kommen;
daß er eben erfahren, »nach Fremdenbüchern in Mainz reife ein
Mensch unter seinem Namen!!« Da der Brief die größten
Lobsprüche von Ihnen enthält (Mr Brugsch est un jeune homme du
plus brillant avenir, entre ses mains, je vous l'affirme, la p
hilologie égyptienne fera des progrès admirables. Il a débuté
par un coup de maître et certes il ne s'arrêtera pas en aussi
beau chemin), so will ich ihn (ehe ich Ihnen diesen schenke)
dem König zeigen. Ich würde Ihnen diese Lobsprüche nicht
mitteilen, wenn Ihr Betragen mir nicht die Sicherheit gäbe,
frühes und so lebhaft ausgedrücktes Lob ertragen zu können.
Anderen als Ihnen, mein teurer Br., könnte es verderblich
werden. A. v. Humboldt. Mittwoch.«
Meine Pariser Reise lag längst hinter mir, als auch durch
königliche Großmut mein Wunsch in Erfüllung ging, die reichen
Museen in Leyden und in Turin besuchen zu können. um in deren
berühmten Sammlungen nach demotischen Schätzen zu fahnden,
gleichzeitig aber der hieroglyphischen Grammatik und ihrem
Wörtervorrat meine ganze Aufmerksamkeit zuzuwenden. Im Laufe
meiner eigenen Forschungen hatte sich mir die Überzeugung
aufgedrängt, daß Champollions unsterbliche Arbeiten, noch dazu
in ihrer nach seinem Tode von ziemlich unkundigen Händen
veröffentlichten Gestalt, durchaus nicht mehr ausreichten, um
altägyptischen Texten ihr wirklich philologisch begründetes
Verständnis abzugewinnen. Der große Meister hatte das erste
Licht in tausendjährige Dunkelheiten hineingetragen, aber es
glich dem schwachen Morgenrot, das mit seinem
Dämmerungsscheine das künftig zu erobernde Gebiet nur matt zu
erleuchten vermochte. Das vorliegende ungeheure Material aus
den Zeiten der schreibseligen alten Ägypter mußte gesichtet,
das Jüngere und Jüngste von dem Älteren und Ältesten getrennt
und die Unterschiede der einzelnen Schriftzeichen und der
sprachlichen Ausdrücke von dem Grammatischen an streng
gesondert werden. Die Entwicklung der Schriftzeichen selber
bis zum kurrentesten Demotischen hin mußte im Laufe eines mehr
als 3000jährigen Bestehens der altägyptischen Litteratur von
Jahrhundert zu Jahrhundert an Beispielen nachgewiesen und
desgleichen die Entwicklung der Sprache bis zum modernen
Koptischen hinein in der grammatischen und lexikalischen
Wortbildung mit aller notwendigen Gründlichkeit verfolgt
werden. Das alles war eine Riesenaufgabe, an deren Lösung noch
das heutige Geschlecht arbeitet. Selbst die koptische Sprache,
deren Wörtervorrat in dem bekannten Lexikon des gelehrten
italienischen Abbés Amadeo Peyron noch lange nicht erschöpft
oder vom heutigen wissenschaftlichen Standpunkte aus genügend
behandelt worden ist, bedurfte einer vollständigen Umarbeitung
und erforderte die eingehendsten Untersuchungen. Mit einem
Worte: es blieb noch alles zu thun übrig, um den aufgehäuften
rohen Blöcken Form und Gestalt zum Aufbau eines gewaltigen
Gebäudes zu geben, dessen Fundamente der Meister eben nur
flüchtig in seinem Grundplane skizziert hatte.
Mir schwebte der Gedanke vor, zunächst den Wortschatz in
alphabetischer Anordnung zusammenzustellen, mich von der
Bedeutung der gefundenen Wörter durch klare Beispiele zu
überzeugen und damit mir selber und meinen Nachfolgern eine
feste Grundlage unserer Studien zu schaffen. In Holland kam
dieser Gedanke zu seiner Reise und ich begann eine Arbeit, die
in den Jahren 1868 bis 1880 der Öffentlichkeit übergeben
worden ist, mein siebenbändiges hieroglyphisch-demotisches
Wörterbuch, das heutzutage Gemeingut der Wissenschaft geworden
ist, denn wie man mich versichert, bildet es bis zur Stunde
die viel benutzte Quelle aller altägyptischen Entzifferungen.
Meine Reise nach Holland ging bei der Bescheidenheit meiner
Mittel natürlich dritter Klasse mit der Eisenbahn und auf der
Post vor sich. Über Wesel und Amsterdam gelangte ich glücklich
nach Leyden. Es gewährte mir einen außerordentlichen Reiz, in
dem weiten, von gradlinigen Kanälen durchfurchten, aber
überall wohlbebauten und mit sauberen, buntbemalten Dörfern
und Ansiedlungen bedeckten Ebenen meine Straße dahinzuziehen
und mit ebenso sauberen als biedermännischen Mitreisenden
holländischer Abkunft in den sonderbarsten Wagenkasten der
Eisenbahn zusammenzusitzen. Die dritte Wagenklasse entbehrte
damals der Fenster, und wie bei unseren Berliner
Pferdeeisenbahnen in sommerlicher Jahreszeit dienten farblose
Leinwandtücher um alle vier Seiten des Kastens als einziges
Schutzmittel gegen Sonnenschein und Regengüsse. Mit der
Sprache kam ich nicht weit, denn außer Myn Her verstand ich so
gut wie nichts, und mein Erstaunen, während meines kurzen
Aufenthaltes in dem holländischen Venedig, der alten
Handelsstadt Amsterdam, die Anwesenheit so vieler Cantore an
den blanken Schildern der schwarz angestrichenen Hausthüren
entdeckt zu haben, legte sich erst, nachdem mir die Bedeutung
des holländischen Cantor im Sinne des französischen Comptoir
erklärt wurde.
Mein Einzug in Leyden, der Universitätsstadt der
Niederlande, fand in der Frühe des Morgens bei starkem
Regenwetter statt. Ein Trupp Soldaten marschierte in Reih und
Glied an mir vorüber. Offiziere und Mannschaften hatten
Regenschirme aufgespannt, ohne ahnen zu können, wie sehr mich,
das Soldatenkind, ein solcher Anblick belustigte. Aber die
Holländer schienen mir außerordentlich praktische Leute zu
sein, die sich wenig um Äußerlichkeiten kümmerten. Daß, wie
ich es später häufig zu beobachten Gelegenheit fand, die Mägde
den halben gepflasterten Straßendamm und die steinernen Stufen
der Hausthürtreppe mit Bürsten und Wasser sorgfältig säuberten
und förmlich bügelten, fiel mir zuletzt gar nicht mehr auf. Es
mußte eben bis zu den leuchtenden Fensterscheiben hin alles
blitzblank gewaschen erscheinen, und wenn ich später die
schmutzigsten ägyptischen Fellachendörfer durchwanderte, so
gedachte ich fast jedesmal mit heimlicher Sehnsucht der
holländischen Reinlichkeit.
Den verehrten Direktor der ägyptischen Sammlungen des
Museums in Leyden, Herrn Dr. Leemans, hatte ich die Freude zum
erstenmale persönlich kennen und in dem Herausgeber der
Denkmäler seines überreichen Schatzes einen ebenso gelehrten
als kritisch hervorragenden Mann schätzen zu lernen. Er zog
mich nach kurzer Bekanntschaft in sein gastliches Haus und ich
hatte die Gelegenheit, bei ihm, wie bei allen übrigen
Bekannten, die mich durch Einladungen beehrten, die
Gediegenheit und die Gemütlichkeit des holländischen
Familienlebens zu bewundern. Kein Abend verging, ohne daß sich
der Hausvater mit den Seinigen vereinigt fand und der Gesang
oder die Musik der Söhne und Töchter die Stunden in
angenehmster Weise verschönte. Die junge Holländerin erschien
mir wie der Typus der jugendfrischen Heiterkeit. Ihr offenes,
ehrliches Wesen, fern von jedem Zimperlichen oder Gezierten,
ihr liebliches Lächeln in dem ehrlichen, frischen, hübschen
Gesicht hinterließ einen unwiderstehlichen Eindruck und
entzückte mich in höchstem Maße. In dem Hause des Professors
Juynboll hätte ich um ein Haar mein Herz verloren, wenn sie
mich eben nur gewollt hätte. Auch das studentische Leben, wie
es in Leyden äußerlich nach englischem Klubwesen eingerichtet
ist, fesselte meine Aufmerksamkeit. Das Kameradschaftliche
bildete den Grundton und das gemeinschaftliche Zusammenleben
in den stattlichen Sälen eines eigenen Gebäudes verfehlte
seines Eindruckes nicht. Freilich konnten, meiner Meinung
nach, nur Söhne reicherer Eltern an den Vorzügen eines solchen
stattlichen Heims teilnehmen, denn die Kosten des Unterhalts
mußten ganz beträchtlich sein.
Die Tage im Leydener Museum und die Abende im Hause meines
holländischen Gastfreundes flossen wie Minuten dahin, und ich
war selber erstaunt, als die Stunde des Abschiedes genaht war.
Aber volle sechs Wochen waren seit meiner Ankunft verflossen
und an der Fülle meiner wissenschaftlichen Ernte sah ich am
besten, daß ich meine anderthalb Monate wohl ausgenutzt hatte.
In dem vortrefflichen Dr. Leemans hatte ich für das Leben
einen stets hilfreichen Freund gewonnen, mit dem ich viele
Jahre hindurch in brieflicher Verbindung stand und dessen
weisen Ratschlägen ich stets mein Ohr öffnete. Er erfreut sich
noch heute eines glücklichen Daseins auf Erden, wenn auch sein
Alter sich bis in die Achtziger hinein vorgeschoben hat.
Ich verließ das holländische Gebiet mit allen
Segenswünschen gegen seine gastfreundlichen Stätten und konnte
die Zeit meiner Rückkehr nach Berlin kaum erwarten, um meine
wissenschaftliche Ausbeute zu durchmustern und schließlich
meinem hohen Gönner A. von Humboldt eine schriftliche
Abhandlung zu überreichen, die eine Frucht meiner Leydener
Studien in sich schloß. Sie betraf die Bekanntschaft der Alten
mit dem Hypnotismus (mindestens schon im zweiten Jahrhundert)
und dessen Ausbeutung durch magischen Charlatanismus auf Grund
der demotisch abgefaßten sogenannten gnostischen Papyri des
Leydener Museums. Ich erweiterte später meine Arbeiten,
insoweit sie demotische Funde in Holland betrafen, durch den
Nachweis, daß die äsopischen Fabeln zweifelsohne alle Zeichen
einer ägyptisch-äthiopischen Herkunft an sich tragen.