6. Meine Thaten als ägyptischer Beamter
Mein Amt als wissenschaftlicher Reisemarschall.
Während ich mitten in der besten Arbeit war, um meinen
Schülern die Pforten der Wissenschaft zu öffnen und sie in den
Tempel derselben eintreten zu lassen, traten fast wöchentlich
Hindernisse ein, die mich mehr, als mir lieb war, von der
Schule entfernten und mich in das Hofleben hineinwarfen. Ich
erhielt Aufträge aller Art, die mit der Schule nicht das
Geringste zu schaffen hatten, und in erster Reihe zählten dazu
die Pflichten, die ich als offizieller Begleiter fürstlicher
Personen auf ihren Reisen nach Oberägypten und Nubien und
nicht selten auch der Sinaihalbinsel zu erfüllen hatte. Drei
und mehr Wochen, ja selbst Monate lang blieb ich von Kairo
entfernt und mußte mich damit begnügen, das Schicksal meiner
Schule erprobten deutschen Lehrern anzuvertrauen. Meine Reisen
in das Oberland auf vizeköniglichen Dampfern boten mir
freilich die Gelegenheit dar, die Denkmälerwelt aufzusuchen
und wie alte Bekannte wieder begrüßen zu können, allein die
hohen und höchsten Herrschaften, denen ich als
wissenschaftlicher Wegweiser diente, konnten nicht mir zu
Liebe Stunden und Tage an einem und demselben Orte weilen, und
so mußte ich mich schon damit zufrieden geben, in stiller
Nacht oft bis über die Geisterstunde hinaus den Überresten der
Vorzeit meine Besuche abzustatten, um die mit Hilfe von Kerzen
erleuchteten Inschriften in meine Kopierbücher einzutragen.
Trotzdem war es mir vergönnt, in dieser Verborgenheit manch
schönen Fund zu machen und mein bereits im Druck befindliches
Wörterbuch seinem Umfange und seinem Inhalte nach wesentlich
zu vermehren.
Die fürstlichen Personen, die ich die Ehre hatte zu
begleiten, gehörten fast durchweg dem deutschen Stamme an, so
daß ich niemals in die Lage kam, in der Unterhaltung mich
einer anderen als meiner Muttersprache zu bedienen. Die
Expeditionen, welche ich Gelegenheit hatte zu führen, waren im
Laufe der Jahre folgenden fürstlichen Personen zur Verfügung
gestellt worden: Dem österreichischen Erzherzog Rainer und
seiner Gemahlin Marie, außerdem dem Bruder des ersteren. dem
Erzherzog Ernst; dem regierenden Großherzog von Mecklenburg
Schwerin Franz Friedrich und seiner erlauchten jugendlichen
Gemahlin Marie (unter den Begleitern der Herrschaften befand
sich damals Baron von Schack, dessen persönliche Bekanntschaft
ich hier zu machen das Glück hatte); den Erbgroßherzögen von
Mecklenburg-Schwerin und von Oldenburg; dem österreichischen
Erzherzog Johann Salvator, dem Kaiser von Brasilien Dom Pedro
d'Alcantara und seiner Gemahlin, dem Kronprinzen Rudolf von
Österreich u.s.w. Man wird es erklärlich finden, daß der
bescheidene Gelehrte im Umgange mit so hohen Persönlichkeiten
und ihren vornehmen Begleitern einen Einblick in die große
Welt erhielt, wie es nur wenig Sterblichen gestattet ist. Ich
habe aus den täglichen Berührungen mit ihnen die Erfahrung
gewonnen, daß selbst in den obersten Kreisen der menschlichen
Gesellschaft, in denen Stellung und Etikette eine so
einflußreiche Rolle spielen und das äußere Auftreten dem
Gesetze eines strengen Zeremoniels unterworfen ist, das Herz
sich an dem stillen Glück weidet, auf einem fernen schönen
Stück Erde menschlich mit allen übrigen zu fühlen und die
Gedanken in ungeschminkter Sprache auszusprechen. Ernst und
Scherz treten in ihr volles Recht und äußern sich ungezwungen,
ohne Rücksicht auf höfische Formen. Wie glücklich fühlten sich
die Großen dieser Welt, dem Parkettboden der Paläste entronnen
zu sein und an den schwarzen Ufern des Nilstromes sich frei
von allem lästigen Zwange zu wissen!
Eine ebenso große Ehre als Überraschung ward mir zu teil,
als eines schönen Tages mein brauner Diener einen Besuch
ankündigte, den zwei arabische Droschken nach der Hochschule
geführt hatten. Die Namen der Besucher vermochte er mir nicht
zu nennen. Indem ich ihm auftrug, dieselben in mein
Empfangszimmer zu führen, warf ich den Blick nach dem Garten
hinunter, in dessen Mitte sich ältere und jüngere Herren und
Damen in einfach bürgerlicher Tracht langsam bewegten. An
ihrer Spitze befand sich ein Herr im Vollbart von ungefähr
fünfzig Jahren, der einer älteren Dame in einfacher
Reisetoilette den Arm gereicht hatte. Wie mußte ich nicht
staunen, als in dem Empfangszimmer das würdige Paar mir mit
den Worten entgegentrat: »Der Kaiser und die Kaiserin von
Brasilien sind hierher gekommen, um Ihre Bekanntschaft zu
machen.« Sie stellten mir ihre Begleitung vor, Minister und
Hofdamen, deren Namen ich später in den Zeitungen zu lesen
häufig Gelegenheit hatte. Der Kaiser bat mich, während seines
dreiwöchigen Aufenthaltes in Ägypten ihm als Begleiter zu
dienen, er sei im New-Hotel in Kairo abgestiegen und würde mir
dankbar sein, wenn ich von morgens früh 4 Uhr an bis abends 10
Uhr mich an seiner Seite befände. Er sei gekommen, um die
Sklavenfrage in Ägypten zu studieren und nebenbei Land und
Leute und die Denkmäler der Vergangenheit kennen zu lernen.
Ich fühlte mich gezwungen, dem Kaiser die Bitte auszudrücken
den Vizekönig zu bewegen, mir den Befehl übermitteln zu
lassen, mich als offizieller Begleiter ihnen anzuschließen.
Zugleich ließ ich es durchblicken, daß ich aus mir unbekannten
Gründen in Ungnade gefallen sei und nicht wünschen könne, der
Mißstimmung des Khedive eine neue Nahrung zu bieten. »Das
überlassen Sie mir«, sagte lächelnd Dom Pedro, »ich ersuche
Sie nur, sich morgen gegen neun bei mir einzufinden; alles
Weitere wird sich von selbst ergeben.«
Am nächsten Morgen fand ich mich rechtzeitig ein. Der
Kaiser stieg mit mir die Treppe abwärts, indem er mich rechts
gehen ließ und mit seinem rechten Arm meinen linken umfaßte.
In dem vor der Freitreppe stehenden Wagen mußte ich auf seinen
weiteren ausdrücklichen Befehl die rechte Seite des Sitzes
einnehmen, während sich es der Kaiser mit der linken genügen
ließ. »Es ist meine Absicht«, so sprach er lächelnd, »dem
Khedive und dem Hofgesinde zu zeigen, in welcher Weise der
Kaiser einen König der Wissenschaft zu ehren wünscht«. Und
fort ging es durch die Straßen Kairos nach dem Palaste Abdin.
Ich war tief beschämt und gerührt und mußte mich in mein
Schicksal ergeben.
Noch an demselben Abend erschien der vizekönigliche
Zeremonienmeister in meinem Hause, um mich im Auftrage seines
Herrn zu ersuchen, den Kaiser von Brasilien zu begleiten, mit
der Bitte, mich in meinen Äußerungen über die ägyptische
Sklaverei mit Vorsicht zu bewegen und über die ägyptischen
Verhältnisse, insofern sie zum Tadel Anlaß gäben, reinen Mund
hatten zu wollen. Der Vizekönig, so fügte er hinzu, würde es
als einen ihm geleisteten besonderen Dienst betrachten, wenn
ich mich dazu verpflichte, und es mir und meinen Kindern zu
lohnen wissen.
Ich konnte nur darauf erwidern, daß ich augenblicklich im
Dienste des Vizekönigs stände und als sein Beamter von selber
die Verpflichtung in mir fühlte, die rücksichtsvollste Achtung
gegen meinen Herrn unter allen Umständen zu wahren. Ich sei
ein Preuße und meine Nation betrachte die Treue als ihr
Ehrenschild. Der Vizekönig möge sich unter allen Umständen auf
mich verlassen.
Der Verkehr mit dem Kaiser von Brasilien von morgens früh
bis abends spät gab mir Veranlassung, seine Eigenschaften auf
das genaueste kennen zu lernen und seinen wissenschaftlichen
Eifer auf allen Gebieten der menschlichen Erkenntnis zu
bewundern. Einfach und natürlich in seinem ganzen Auftreten
und beinahe in nichts unterschieden von einem bescheidenen
Privatmanne, liebte er es, sich über alles, was ihn
interessierte, zu unterrichten und sehr genaue Aufzeichnungen
von dem Gehörten in sein Buch niederzuschreiben. Es war eine
Eigentümlichkeit, die mich anfangs erschreckte, aber später
durchaus nicht mehr auffiel, daß der Kaiser mitten in seiner
Rede in einen 5–10 Minuten langen tiefen Schlaf verfiel,
plötzlich daraus erwachte und die letzte Hälfte eines
unterbrochenen Satzes mit vollständiger grammatischer
Genauigkeit zu Ende führte. Der Kaiser war nicht das, was man
einen gelehrten Mann nennen könnte, aber dagegen ein Amateur,
der auf den verschiedensten Gebieten der Wissenschaften wohl
Bescheid wußte, mit den berühmtesten Gelehrten im Verkehr
stand und ein gesundes Urteil über Menschen und Dinge besaß.
Sein Ideal schien das Stillleben eines für alles Schöne und
Gute begeisterten Mannes zu sein, den des Daseins Plage und
Sorge nicht allzu sehr drückt, und er versicherte mich, daß er
den Kaiser Napoleon fast beneide, nicht um seine fürchterliche
Niederlage, nicht um seinen schmählichen Sturz, sondern um die
Annehmlichkeit seines Privatlebens in stiller
Zurückgezogenheit. »Ginge es an«, so bemerkte er mir, »so
legte ich gern meine Krone nieder, um als erster Bürger selbst
in einer Republik mein Dasein zu führen und meine ganze Zeit
den Wissenschaften und schönen Künsten zu leben.« Bei unserer
Trennung machte mir der Kaiser das rührende Geständnis, daß er
mir keinen Orden verleihe, da man die Dienste eines
aufrichtigen Freundes nicht mit einem Orden ablohnen könne.
Kurz vor seiner Abreise teilte er mir auf dem Bahnhofe noch
mit, daß der Vizekönig ihm bei seinem Abschiedsbesuche die
Frage vorgelegt habe, was er, ein großer und weiser Kaiser,
ihm anrate, um sein ägyptisches Volk glücklich zu machen. »Ich
antwortete ihm«, sprach der Kaiser, »leben und handeln Sie
nach den Worten des Koran und Sie werden Ihr Volk unstreitig
glücklich machen.« An demselben Tage meldete ich mich beim
Khedive. Er erzählte mir dieselbe Geschichte, bestätigte seine
Frage, aber nach seiner Erzählung habe ihm der Kaiser
geantwortet: »Wollen Sie Ihr Volk glücklich machen, so werden
Sie samt ihren Unterthanen katholisch.«
Nach der Abreise des Kaisers hatte ich die Ehre im Laufe
der Jahre briefliche Mitteilungen von seiner Hand zu erhalten,
die sich auf neueste wissenschaftliche Arbeiten und
Entdeckungen bezogen und die volle Teilnahme eines Kenners auf
dem Gebiete der Kunst und Wissenschaft durch ihren Inhalt
bezeugten.
Dom Pedro d'Alcantara stellte den Typus eines edlen
Menschen dar, der, wie ich es bereits bemerkte, durch seine
Einfachheit im Auftreten und durch sein leutseliges Wesen die
Herzen für sich gewinnen mußte. Ich habe ihn später nur noch
ein einziges Mal wiedergesehen zur Zeit, als ich mich als
ägyptischer Generalkommissar zur Weltausstellung nach
Philadelphia begeben hatte (1876). Wenige Tage vor Eröffnung
derselben teilte mir der Kaiser durch den Draht seine Ankunft
in New-York mit, wohin ich mich begab, um ihn und seine hohe
Gemahlin zu begrüßen und in seiner Begleitung die Rückreise
nach Philadelphia anzutreten. Bei der feierlichen Eröffnung
der »CentenniaI Exhibition« bildete die stattliche Figur des
Kaisers in einfachem Gesellschaftsanzug einen Anziehungspunkt
der Aufmerksamkeit aller und die amerikanische Republik schien
stolz darauf zu sein, den Kaiser als Vertreter des mächtigsten
Reiches auf der südlichen Hälfte des amerikanischen Weltteils
in ihrer Mitte erscheinen zu sehen. Was mir in seinem
Charakter vor allem auffiel, war die unbeschreibliche Ruhe und
Geduld, mit welcher er gleichsam alles über sich ergehen ließ.
Sein feierlicher Durchgang durch die weitläufigen Galerien des
Ausstellungsgebäudes unter Führung des amerikanischen
Generalkommissars Mr. Goshorn, verbunden mit der Vorstellung
von Hunderten von Personen, an ihrer Spitze die
Generalkommissäre der Regierungen, durfte billigerweise als
eine außerordentliche Leistung betrachtet werden.
Die Tage und Wochen, die ich als Begleiter des
brasilianischen Kaiserpaares in seiner unmittelbaren Nähe in
Ägypten verlebte, haben für mich den Wert lieber Erinnerungen.
Ich habe es bitter beklagt, als die Tagesblätter seiner Zeit
die Abdankung des Kaisers meldeten, denn entsprach sie auch
seinen eigenen Wünschen, so verstieß sie in ihrer Form gegen
das Gefühl der Dankbarkeit, welche das brasilianische Volk
seinem Kaiser schuldete, der nur der erste Bürger in seinem
Staate sein wollte. Sanft ruhe die Asche des Unvergeßlichen!