Der Mystiker im Garten
(Mesnevi,
Buch IV.)
Ein
Mystiker in einem Garten sitzt
Nach Sufi-Art, das Haupt auf Knie gestützt,
In Träumereien ganz dahin geflossen.
Da rüttelten ihn endlich die Genossen:
„Was dämmerst du dahin? Blick um dich nur,
Wie's ringsum spross und sprießt in der Natur,
Wie Bäum' und Büsche steht in Frucht und Blüte,
O sie die Zeichen doch Allahs Güte!“
Er sprach: „Die Zeichen fühlt, o Sinnenmensch!
In ihrer Tiefe nur der Innenmensch.
Das kann die Außenwelt doch nie erreichen;
Und äußre Zeichen sind nur äußre Zeichen.
Die grünen Gärten sind dem innren Blick
Wie Bilder, die das Wasser wirft zurück.
Es ist doch scheinbar nur der Wahrheit gleich
Das Bild, das widerspiegelt dieser Teich.
Im Herzendgrund sind wirklich Frucht und Baum,
Was du da draußen siehst, ist nur ein Traum.“
Und an einer
anderen Stelle führt Rumi aus, wie der Mensch, schon wegen der
Kürze seines Erdendaseins, nicht imstande ist, sich aus dem,
was er hier wahrnimmt, auch nur eine Vorstellung von dem
Weltgeschehen in den ungemessenen Äonen der Vorzeit und
Nachzeit zu machen:
„Was weiß
die Mücke wohl, wie lang' dieser Garten besteht?
Sie, die im Frühling kam und im Herbst schon wieder vergeht!“
Somit ist
also die einzige reine Quelle der Erkenntnis die Meditation (muraqiba,
bei den Indern dhyan), und auf diesem Punkte sind denn auch
die von der Mystik beherrschten Völker stehengeblieben.
14 Die weitere Entwickelung eines Erkenntnisweges ist
ihnen danach abgeschnitten. Wer den Zustand der Gottesnähe
erlangt hat, hat damit alles Wissenswerte in sich und braucht
nicht weiter zu suchen.
Um aber
diesen ersehnten Zustand zu erreichen, muss man einen weiten
und mühevollen Weg beschreiten, „aus dem man stufenweise
aufwärts steigt“, von der ersten Stufe der Entsagung (tabattul),
zur letzten der Selbstvernichtung (sena). Wir hatten bereits
gesehen, wie schon die Zeitgenossen an Rumi die Ausstellung
machten, dass er nicht, wie andere geistliche Führer, eine
genaue Stufenleiter aufgerichtet hatte, auf der man mit
Sicherheit, wenn auch nicht ohne Beschwerlichkeit, zu diesem
Ziele gelangen konnte. In dem flutenden Gewoge mystischer
Gedanken und Empfindungen vermisste der Nüchterne die
mathematischen Linien eines klar erkennbaren Systems, während
der Begeisterte seine ganze Lebensphilosophie darin fand. In
Wirklichkeit hat Rumi seinen Jüngern und Nachfolgern viel mehr
als ein solches System gegebn. Er hat sie auf dem Pfad der
göttlichen Liebe geführt, einen Pfad, den wohl keiner von den
vielen persichen, türkischen und hindustanischen Mystikern mit
gleicher Hingabe gewandelt ist. Ihm ist die große und die
kleine Welt, ist Diesseits und Jenseits nichts als die nun
einmal unvermeidliche Grundlage, auf der er seine mystische
Lehre von der Vereinigung mit der Weltseele aufbaute. Jede der
vielen Erzählungen des Mesnevi hat nur dieses eine Ziel, der
Koran und alle Religionen nur diesen einen Sinn. Alle Bilder
und Gleichnisse, welche der durch die Sinne wahrnehmbaren Welt
entlehnt sind, kranken zwar an der Unvollkommenheit, die ihr
nun einmal anhaftet,aber er bedient sich ihrer, weil der
menschliche Geist nicht vollkommen, nicht geläutert genug ist,
um ohne sie sich eine Vorstellung von dem Absoluten zu machen.
In der intensiven Leidenschaftlichkeit, mit der er in diesem
Gedanken aufgeht und auch vielfach in der Art, wie er auf den
gegebenen Heilswahrheiten seine Theorrien aufbaut, erinnert
Rumi oft an den Apostel Paulus, dessen Werk er in Ronia, dem
alten Jeonium, zweifellos kennen gelernt hat.
So sehr aber
überhaupt die Annäherung des Sufismus und speziell Rumis an
das Christentum auffällt, so weit ist doch auch wieder die
Kluft, die ihn davon trennt, zumal auf dem Gebiet der Ethik.
Zwar geht Rumi, im Gegensatz zu vielen seiner muhammedanischen
Zeitgenossen, von der Voraussetzung eines in gewissen Grenzen
freien Willens aus, der dem Menschen hinreichende
Verantwortung lässt, um ihm noch die Tugend zu ermöglichen;
dabei herscht aber doch bei ihm so sehr die Ergebung in das
Schicksal oder in den Willen einer höheren Macht vor, dass
seine Sittenlehre sich nie zu der Höhe und Wertigkeit der
christlichen Ethik emporschwingt. „Islam“ heißt „Hingebung“,
und über Hingebung kommt auch Rumis Ethik nicht hinaus.
Indessen ist
die sufische Ethik ein weites Feld und ein langes, bisher noch
fast ungeschriebenes Kapitel, auf das hier, so wichtig es auch
ist, nicht näher eingegangen werden kann. Ihre Darlegung würde
den Rahmen dieser kurzen Skizze weit überschreiten. Der Leser
wird darüber aus dem Werke Georg Rosens ein ziemlich
vollständiges Bild gewinnen. Meine Absicht war auch, nur in
Ergänzung dessen, was Georg Rosen aus dem ersten Buche des
Mesnevi gebracht hatte, unter Benutzung des übrigen fünf
Bücher des Mesnevi und des Diwans einen Einblick zu eröffnen
auf die Zusammenhänge der Weltanschauung Rumis mit der
griechischen Philosophie, speziell mit der platonischen und
neuplatonischen Lehre. 15 Es sollte damit der Blick
des Philosophen, des Religionsforschers, des Kulturhistorikers
auf diese interessanten Zusammenhänge gelenkt werden. Und es
handelte sich darum, das uns vielfach so seltsam und
befremdend anmutende Werk des großen orientalischen Mystikers
einzureihen in das ununterbrochene Kettengewebe der
menschlichen Geistesarbeit aller der Völker, welche von der
Bildung des klassischen Altertums beherrscht waren. Ich habe
dabei absichtlich darauf verzichtet, auf parallele
Entwicklung, wie sie das Christentum und auch die indischen
Religionen in ihrer Mystik bieten, hinzuweisen. Vielleicht
wird dies von berufener Seite noch geschehen. Ich möchte hier
nur noch ein Wort über die Bedeutung sagen, die das Studium
eines für die ganze Geistesrichtung großer Völkergruppen
bezeichnenden und maßgebenden Werkes für die tiefere Kenntnis
ihrer geschichtlichen Entwicklung besitzt. Wenn jemals der
Geschichtsforscher – und mit ihm der Staatsmann – sich
daranmachen sollte, die Geschichte des Orients aus seinem
inneren Leben zu verstehen, dann wird ihm das Studium solcher
Zersetzungselemente wie die Mystik, das er jetzt meist kaum
beachtet, unentbehrlich sein zur Beurteilung der Vergangenheit
und auch der tieferen Grundlage der Gegenwart. Er wird in
derartigen geistigen Strömungen und in deren
jahrhundertelangen Kulturkämpfen das Band finden, das die
anscheinend losen und unzusammenhängenden Ereignisse aufreiht
und verbindet. Er wird damit den Prüfstein gewinnen, an dem er
erkennt, welche sozialen und politischen Veränderungen
organisch entwickelt oder assimiliert werden können und
welche, nur äußerlich eingesetzt, von der Volksseele als
Fremdkörper empfunden und im natürlichen Verlauf der
Geschichte wieder ausgestoßen werden müssen. Genug, er wird
einigermaßen dahin gelangen, die Frage zu beantworten, welche
staatlichen und sozialen Organismen im modernen Völkerleben
lebens- und entwicklungsfähig sind und welche nicht. Die
äußere Geschichte der islamischen Staaten wird dann für ihn
weniger Überraschung bieten. Wer aber diese in den islamischen
Gemeinwesen treibenden oder hemmenden Ideen und Kräfte nicht
kennt, der hat noch nicht seinen Fuß in den Pfad gesetzt, der
zum Verständnis der Geschichte wie der Politik des Orients
führt.
Aber darauf
beschränkt sich der Wert dieser Studien nicht: Auch für uns
selbst können wir vielen daraus lernen, selbst wenn wir uns
ganz frei fühlen sollten von allen Schwächesymptomen alternder
Kulturformen. Am kranken Organismus erkennen wir oft erst die
Gesetzte des gesunden.
Cintra, den
24. September 1912.
Friedrich Rosen.