Der Quran im Islam
Die Bedeutung der Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit aus der
Sicht der Exegeten und Gelehrten [ulama]
Die Ansichten der islamischen Gelehrten [ulama]
über die Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit der Quran-Verse
gehen erstaunlich weit auseinander. Es können nahezu zwanzig
Meinungen über diese Frage festgestellt werden. Seit der
Frühzeit des Islam besteht allerdings soviel Einigkeit
darüber, dass “muhkam" ein Vers sei, der in seiner Bedeutung
so eindeutig sei, dass er mit keinem anderen verwechselt
werden könne. An diese Verse müsse man glauben und nach ihrem
Sinn handeln. “Mutaschabih“ sei ein Vers, der nicht so gemeint
sei, wie er äußerlich auszudrücken scheine, und dessen
Bedeutung, die nur Gott kenne, keinem Menschen zugänglich sei.
An diese Verse müsse man zwar auch glauben, aber nicht nach
ihrem Sinne handeln.
Diese Meinung wird sowohl von den
sunnitischen als auch von den schiitischen Gelehrten
vertreten; allerdings mit dem Unterschied, dass die
schiitischen Gelehrten außerdem noch der Ansicht sind, dass
der Prophet und die Imame aus seiner Familie
ebenfalls imstande seien, die mehrdeutigen Verse richtig zu
deuten. Die gewöhnlichen Gläubigen, die keinen Zugang zur
Bedeutung dieser Verse haben, müssen ihre Sinndeutung Gott,
dem Propheten und den rechtgeleiteten Imamen überlassen.
Diese Lehrmeinung, über die unter den
meisten Quran-Exegeten weitgehende Übereinstimmung besteht,
steht in mancherlei Hinsicht mit dem Quranischen Vers: „Er
ist es, der die Schrift auf dich herabgesandt hat. Darin gibt
es eindeutig bestimmte Verse“
usw.
und anderen Quranischen Versen nicht in Übereinstimmung,
denn: Wir kennen erstens im Quran keine Verse, deren Sinn
sich unter keinen Umständen erschließen ließe. Zumal
beschreibt sich der Quran mit den Attributen wie “das Licht“,
“die Rechtleitung“ und “die Klarlegung“, die sich mit dem
Attribut Undeutlichkeit nicht vertragen. Andererseits heißt es
im Quran:
„Machen sie sich denn keine Gedanken
über den Quran? Wenn er von jemand anderem als von Allah
wäre, würden sie in ihm viel Widerspruch finden.“ (4:82)
Wie kann das Nachdenken über den Quran
zur Aufhebung der Widersprüche beitragen, wenn sich die
Widersprüche der mehrdeutigen Verse nach der erwähnten
Lehrmeinung unter keinen Umständen auflösen?
Man könnte behaupten, dass mit den
mehrdeutigen Versen die Eröffnungskodierungen der Suren wie
z.B. Alif, Lam, Mim – Alif, Lam, Ra – Ha, Mim usw. gemeint
seien, deren wahrer Sinn nicht zu erschließen ist. Man muss
jedoch bedenken, dass in dem zitierten Vers diese Quranischen
Stellen im Gegensatz zu den eindeutig bestimmten Versen als
mehrdeutig bezeichnet worden sind. Und dies bedarf
sprachlicher Zeichen, die mehrere Sinndeutungen zulassen. Die
Eröffnungskodierungen der Suren sind jedoch keine derartigen
sprachlichen Zeichen.
Darüber hinaus geht aus diesem Vers
hervor, dass einige Abweichler die mehrdeutigen Verse dazu
benutzen, um die Menschen irre und in Versuchung zu führen.
Bislang ist nie der Fall eingetreten, dass jemand lediglich
die Eröffnungskodierungen der Suren zu diesem Zweck benutzt
hätte. Wer eine irre führende Deutung versucht hat, hat zu
diesem Zweck nicht nur die Sigel benutzt, sondern auch den
ganzen Quranischen Text.
Es wurde bisweilen behauptet, dass der
Vers auf einen bekannten Vorfall hinweist, wonach die Juden
aus den Eröffnungskodierungen der Suren die Dauer des Islam
herausrechnen wollten. Der Prophet (s.) habe die Kodierungen
eine nach der anderen rezitiert und ihre Rechnung
durcheinandergebracht. Auch diese Behauptung ist unbegründet.
Sollte sich der Vorfall tatsächlich wie berichtet ereignet
haben, haben die Juden auf ihre Spekulation die entsprechende
Antwort umgehend erhalten. So wichtig ist dieser Vorfall nun
auch nicht, dass ihm solch eine Bedeutung bei der
Interpretation mehrdeutiger Verse zukäme. Zumal beinhaltet
diese Behauptung der Juden keine Versuchung an sich, weil die
Aufhebung einer Religion ihre Rechtmäßigkeit nicht
beeinträchtigt, wie dies bei den Offenbarungsreligionen vor
dem Islam der Fall gewesen war.
Des Weiteren gilt: Wenn diese Behauptung
zuträfe, so müsste zweitens mit dem “Deuten“ in dem oben
genannten Vers die dem äußeren Ausdruck widersprechende
Bedeutung gemeint sein, die sich außerdem doch nur auf
mehrdeutige Verse beschränken würde. Dem ist jedoch nicht so.
Mit dem Deuten in der Quran-Exegese ist erstens nicht nur die
Bedeutung der Wörter gemeint, die gedeutet werden, zweitens
nicht nur die mehrdeutigen Verse, sondern auch die eindeutig
festgelegten. Drittens werden dort die eindeutig festgelegten
Verse als “die Urschrift" bezeichnet. Das bedeutet, dass diese
Verse die Hauptthemen enthalten; wobei die restlichen Verse
inhaltlich von ihnen abhängen. Und dies macht es erforderlich,
dass die mehrdeutigen Verse in ihrer Bedeutung auf die
eindeutig bestimmten Verse zurückgehen, und das meint
wiederum, dass die mehrdeutigen Verse in ihrer Sinndeutung auf
die eindeutig festgelegten Verse zurückgeführt werden müssen,
um ihren wahren Sinn zu erfahren.
Es gibt also im Quran keinen Vers,
dessen wahrer Sinn nicht zu erschließen wäre. Sie sind
entweder unmittelbar bestimmt wie die “Muhkamat“ oder
mittelbar bestimmt wie die “Mutaschabihat“. Die
Eröffnungskodierungen der Suren sind jedoch keine
sprachlich-lexikalischen Bezeichnungen und gehören daher nicht
in diese Einteilung.
Diese Erkenntnisse können auch aus
folgenden bereits erwähnten Suren gewonnen werden:
„Machen sie sich denn keine Gedanken
über den Quran? Oder sind gewisse Herzen versiegelt?“
(47:21)
„Machen sie sich denn keine Gedanken
über den Quran? Wenn er von jemand anderem als von Allah
wäre, würden sie in ihm viel Widerspruch finden.“ (4:82)