Quran im Islam
Der Quran im Islam

Mehr zum Autor siehe: Allama Sayyid Muhammad Husain Tabatabai

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Der Quran im Islam

Die Bedeutung der Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit aus der Sicht der Exegeten und Gelehrten [ulama]

Die Ansichten der islamischen Gelehrten [ulama] über die Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit der Quran-Verse gehen erstaunlich weit auseinander. Es können nahezu zwanzig Meinungen über diese Frage festgestellt werden. Seit der Frühzeit des Islam besteht allerdings soviel Einigkeit darüber, dass “muhkam" ein Vers sei, der in seiner Bedeutung so eindeutig sei, dass er mit keinem anderen verwechselt werden könne. An diese Verse müsse man glauben und nach ihrem Sinn handeln. “Mutaschabih“ sei ein Vers, der nicht so gemeint sei, wie er äußerlich auszudrücken scheine, und dessen Bedeutung, die nur Gott kenne, keinem Menschen zugänglich sei. An diese Verse müsse man zwar auch glauben, aber nicht nach ihrem Sinne handeln.

Diese Meinung wird sowohl von den sunnitischen als auch von den schiitischen Gelehrten vertreten; allerdings mit dem Unterschied, dass die schiitischen Gelehrten außerdem noch der Ansicht sind, dass der Prophet und die Imame aus seiner Familie[1] ebenfalls imstande seien, die mehrdeutigen Verse richtig zu deuten. Die gewöhnlichen Gläubigen, die keinen Zugang zur Bedeutung dieser Verse haben, müssen ihre Sinndeutung Gott, dem Propheten und den rechtgeleiteten Imamen überlassen.

Diese Lehrmeinung, über die unter den meisten Quran-Exegeten weitgehende Übereinstimmung besteht, steht in mancherlei Hinsicht mit dem Quranischen Vers: „Er ist es, der die Schrift auf dich herabgesandt hat. Darin gibt es eindeutig bestimmte Verse“ [2]usw. und anderen Quranischen Versen nicht in Übereinstimmung, denn: Wir kennen erstens im Quran keine Verse, deren Sinn sich unter keinen Umständen erschließen ließe. Zumal beschreibt sich der Quran mit den Attributen wie “das Licht“, “die Rechtleitung“ und “die Klarlegung“, die sich mit dem Attribut Undeutlichkeit nicht vertragen. Andererseits heißt es im Quran:

„Machen sie sich denn keine Gedanken über den Quran? Wenn er von jemand anderem als von Allah wäre, würden sie in ihm viel Widerspruch finden.“ (4:82)

Wie kann das Nachdenken über den Quran zur Aufhebung der Widersprüche beitragen, wenn sich die Widersprüche der mehrdeutigen Verse nach der erwähnten Lehrmeinung unter keinen Umständen auflösen?

Man könnte behaupten, dass mit den mehrdeutigen Versen die Eröffnungskodierungen der Suren wie z.B. Alif, Lam, Mim – Alif, Lam, Ra – Ha, Mim usw. gemeint seien, deren wahrer Sinn nicht zu erschließen ist. Man muss jedoch bedenken, dass in dem zitierten Vers diese Quranischen Stellen im Gegensatz zu den eindeutig bestimmten Versen als mehrdeutig bezeichnet worden sind. Und dies bedarf sprachlicher Zeichen, die mehrere Sinndeutungen zulassen. Die Eröffnungskodierungen der Suren sind jedoch keine derartigen sprachlichen Zeichen.

Darüber hinaus geht aus diesem Vers hervor, dass einige Abweichler die mehrdeutigen Verse dazu benutzen, um die Menschen irre und in Versuchung zu führen. Bislang ist nie der Fall eingetreten, dass jemand lediglich die Eröffnungskodierungen der Suren zu diesem Zweck benutzt hätte. Wer eine irre führende Deutung versucht hat, hat zu diesem Zweck nicht nur die Sigel benutzt, sondern auch den ganzen Quranischen Text.

Es wurde bisweilen behauptet, dass der Vers auf einen bekannten Vorfall hinweist, wonach die Juden aus den Eröffnungskodierungen der Suren die Dauer des Islam herausrechnen wollten. Der Prophet (s.) habe die Kodierungen eine nach der anderen rezitiert und ihre Rechnung durcheinandergebracht. Auch diese Behauptung ist unbegründet. Sollte sich der Vorfall tatsächlich wie berichtet ereignet haben, haben die Juden auf ihre Spekulation die entsprechende Antwort umgehend erhalten. So wichtig ist dieser Vorfall nun auch nicht, dass ihm solch eine Bedeutung bei der Interpretation mehrdeutiger Verse zukäme. Zumal beinhaltet diese Behauptung der Juden keine Versuchung an sich, weil die Aufhebung einer Religion ihre Rechtmäßigkeit nicht beeinträchtigt, wie dies bei den Offenbarungsreligionen vor dem Islam der Fall gewesen war.

Des Weiteren gilt: Wenn diese Behauptung zuträfe, so müsste zweitens mit dem “Deuten“ in dem oben genannten Vers die dem äußeren Ausdruck widersprechende Bedeutung gemeint sein, die sich außerdem doch nur auf mehrdeutige Verse beschränken würde. Dem ist jedoch nicht so. Mit dem Deuten in der Quran-Exegese ist erstens nicht nur die Bedeutung der Wörter gemeint, die gedeutet werden, zweitens nicht nur die mehrdeutigen Verse, sondern auch die eindeutig festgelegten. Drittens werden dort die eindeutig festgelegten Verse als “die Urschrift" bezeichnet. Das bedeutet, dass diese Verse die Hauptthemen enthalten; wobei die restlichen Verse inhaltlich von ihnen abhängen. Und dies macht es erforderlich, dass die mehrdeutigen Verse in ihrer Bedeutung auf die eindeutig bestimmten Verse zurückgehen, und das meint wiederum, dass die mehrdeutigen Verse in ihrer Sinndeutung auf die eindeutig festgelegten Verse zurückgeführt werden müssen, um ihren wahren Sinn zu erfahren.

Es gibt also im Quran keinen Vers, dessen wahrer Sinn nicht zu erschließen wäre. Sie sind entweder unmittelbar bestimmt wie die “Muhkamat“ oder mittelbar bestimmt wie die “Mutaschabihat“. Die Eröffnungskodierungen der Suren sind jedoch keine sprachlich-lexikalischen Bezeichnungen und gehören daher nicht in diese Einteilung.

Diese Erkenntnisse können auch aus folgenden bereits erwähnten Suren gewonnen werden:

„Machen sie sich denn keine Gedanken über den Quran? Oder sind gewisse Herzen versiegelt?“ (47:21)

„Machen sie sich denn keine Gedanken über den Quran? Wenn er von jemand anderem als von Allah wäre, würden sie in ihm viel Widerspruch finden.“ (4:82)

[1] Gemeint sind die 12 Imame

[2] Heiliger Quran 3:7

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