Der Quran im Islam
Die Bedeutung des Ta´wil im Quran
Aus der Verwendungsweise des Wortes
Ta´wil in den Quranischen Versen, von denen einige in den
vorausgegangenen Kapiteln zitiert wurden, geht hervor, dass
mit Ta´wil keine wörtliche Bedeutung gemeint ist. Es ist
offenkundig, dass in den Traumdeutungen der Geschichte von
Joseph (a.), in der dieser Ausdruck vorkommt, die Beschreibung
der Träume mit deren Deutung keine wörtliche Übereinstimmung
aufweist. Auch in den Geschichten von Moses (a.) und Chidr
(a.) ist keine wörtliche Übereinstimmung zwischen der
Beschreibung der Geschichten und deren Deutung, die Moses (a.)
von Chidr (a.) erfährt, festzustellen. Ebenfalls weisen in dem
(bereits zitierten) Vers: „Und gebt, wenn ihr zumeßt,
volles Maß und wägt mit der richtigen Waage“ diese Sätze
nicht unmittelbar auf eine bestimmte wirtschaftliche Lage hin,
welche die Deutung der Angelegenheit ist.
In gleicher Weise weist der Wortlaut des
(bereits zitierten) Verses: „Und wenn ihr über eine Sache
streitet, dann bringt sie vor Allah und den Gesandten“
nicht auf dessen Deutung, d.h. auf die islamische Einheit,
hin. Bei näherer Betrachtung stellen wir fest, dass es sich
bei den anderen diesbezüglichen Versen ebenso verhält. Bei der
Traumdeutung handelt es sich um die Feststellung einer
Realität der Außenwelt, die dem Träumenden in einer bestimmten
Weise erscheint. In den Geschichten von Moses und Chidr ist
die von Chidr vorgebrachte Deutung eine Realität, von der
seine Handlungsweise bestimmt wird, eine Handlungsweise, deren
Deutung in ihr selbst beinhaltet ist. Und die Deutung des
Verses, in dem befohlen wird, richtig zuzumessen und zu
wiegen, führt uns zu einer allgemeinen Wahrheit, auf die sich
dieses Gebot stützt und die es verwirklicht. Mit dem Vers über
das Bringen der Streitigkeiten vor Gott und seinen Gesandten
verhält es sich ebenso.
Die Deutung eines Sachverhaltes ist also
die Feststellung einer Wahrheit, aus der dieser Sachverhalt
hervorgeht, welcher die Wahrheit in einem gewissen Sinne
trägt, symbolisiert und verwirklicht. Der Gegenstand der
Deutung wird durch das Deuten ins Leben gerufen, und die
Deutung verdankt ihre Entstehung diesem Gegenstand.
Die Feststellung trifft auch auf den
Quran zu, denn diese heilige Schrift geht auf Wahrheiten
zurück, die frei von der Materie sind, über den sinnlich
wahrnehmbaren Dingen stehen und den engen Rahmen der Worte,
die das Produkt unseres materiellen Lebens sind, sprengen.
Diese Wahrheiten lassen sich nicht in
Worte kleiden. Mit den Worten aus dem Reiche des
Übersinnlichen ist der Menschheit lediglich die Ermahnung
gekommen, sich durch das Festhalten am rechten Glauben und dem
gerechten Handeln zur Wahrnehmung einer Glückseligkeit zu
befähigen, die sie erleben werden. Erst am Tage der
Auferstehung und der Begegnung mit Gott werden diese
Wahrheiten völlig offenkundig. Die aus den Suren “Die Höhen“
und “Jonas“ zitierten Verse deuten – wie schon festgestellt –
auf diesen Umstand hin.
Gott der Erhabene sagt in diesem
Zusammenhang:
„Bei der deutlichen Schrift! Wir haben
sie zu einem arabischen Quran gemacht. Vielleicht würdet ihr
verständig sein. Sie steht bei uns in der Urschrift erhaben
(die der gewöhnliche Verstand nicht erreicht) und ist
festgefügt (zu der er keinen Zugang findet).“ (43:3-4)
Es ist ersichtlich, dass der letzte Teil
dieses Verses auf die Deutung in dem erwähnten Sinne hinweist,
zumal hier gesagt wird: „Vielleicht würdet ihr verständig“
und nicht „vielleicht versteht ihr sie“, denn das
Wissen um die Deutung, wie es in dem Vers über die
Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit gemeint ist, steht nur dem
erhabenen Gott zu („Aber niemand weiß es wirklich zu deuten
außer Allah.“).
Aus diesem Grunde, wenn er dort
diejenigen, die vom rechten Weg abgewichen sind, tadelt, weil
sie den mehrdeutigen Versen folgen, sagt er, dass sie darauf
aus sind, diese zu deuten. Sagt aber nicht, dass sie es auch
wirklich können. Bei der Deutung des Quran handelt es sich
also um eine Wahrheit oder um Wahrheiten, die sich in der
Urschrift bei Gott befinden und in der übersinnlichen Welt
angesiedelt sind. An einer anderen Stelle heißt es in diesem
Sinne:
„Nein, doch! Ich schwöre bei den
Orten, an denen die Sterne herabfallen. Das ist – wenn ihr es
nur wüsstet – ein gewaltiger Schwur. Es ist ein vortrefflicher
Quran, in einer wohlverwahrten Schrift (Urschrift), die nur
von Reinen berührt wird, vom Herrn der Menschen in aller Welt
herabgesandt.“ (56:75-80)
Aus diesen Versen ist ersichtlich, dass
der Quran zwei Stellenwerte aufweist: Den Stellenwert einer
wohlverwahrten Schrift, die nur von Reinen berührt wird, und
den Stellenwert einer Schrift, die für alle Welt herabgesandt,
also für alle verständlich ist.
Aus den bislang aus anderen Versen
gewonnenen Erkenntnissen geht hier noch hervor, dass nur die
Reinen die Wahrheit und die Deutung des Quran erfahren
können. Dies steht jedoch nicht im Widerspruch zu der
Feststellung, dass nur Gott wisse, wie sie zu deuten sei. Denn
die beiden Verse zusammengenommen führen zu der
Schlussfolgerung, dass der erhabene Gott in seinem Wissen um
diese Wahrheiten autonom ist, und dass außer ihm keiner sie
wissen wird, es sei denn mit seiner Erlaubnis.
Auch das Wissen über das Verborgene wird
laut zahlreichen Versen nur dem erhabenen Gott zugeschrieben
und keinem anderen. Wobei auch hier die Menschen, die ihm
genehm sind, ausgenommen werden:
„Er ist es, der das Verborgene weiß.
Er klärt niemanden darüber auf, außer wenn ihm ein Gesandter
genehm ist.“ (72:26-27)
Aus dem gesamten Zusammenhang hat sich
die Schlussfolgerung ergeben, dass das Wissen über das
Verborgene ein autonomes Recht Gottes ist, das keinem außer
ihm zusteht, es sei denn mit seiner Erlaubnis.
In der Tat sind die Reinen aufgrund
dieser Verse berechtigt, die Wahrheit des Quran zu berühren,
wie es an einer anderen Stelle auch heißt:
„Allah will die Unreinheit von euch
entfernen, ihr Leute des Hauses, und euch wirklich rein
machen.“ (33:33)
Dieser Vers ist laut zahlreicher
Überlieferungen über die Angehörigen der Familie des Propheten
offenbart worden. Der Prophet (s.) und die Angehörigen seiner
Familie (a.) sind also die Reinen und besitzen das nötige
Wissen, den Quran zu deuten.