Der Quran im Islam
Einwände und Antworten
Einwand:
Sie haben unter dem Vorwand, die Vernunft sei nicht imstande,
Verstöße gegen das Gesetz zu verhindern, die Pflicht der
Gesetzgebung, oder, um sich der Quranischen Ausdrucksweise zu
bedienen, das Hinführen des Menschen zu seiner artspezifischen
Glückseligkeit, der Vernunft entrissen und der Offenbarung und
der Berufung überlassen, während die Gesetze und Bestimmungen
der Offenbarung ebenfalls außerstande sind, da etwas zu
erreichen und die Verstöße zu verhindern. Im Gegenteil, die
Verstöße gegen die religiösen Bestimmungen sind noch
zahlreicher und die Neigung der Menschen, sie einzuhalten,
viel geringer.
Antwort: Die Wegweisung ist eine Sache
und deren Befolgung eine andere. Die Schöpfung hat nach dem
allgemeinen Gesetz der Rechtleitung den Zweck, die Spezies
Mensch durch irgendein Mittel zu einem Gesetz, das seine
Glückseligkeit gewährleistet, hinzuführen, jedoch nicht, ihm
den Weg der Übertretung praktisch zu verbauen oder die
Menschen zur Befolgung der Gesetze zu zwingen.
Die Tatsache, dass wir die
Gesetzesübertretungen, die keine Folgen für die
Handlungsfreiheit der Handelnden haben, als Grund für die
Unzulänglichkeit der Vernunft erachten, besagt nicht, dass die
Vernunft das Handeln nicht verhindert, sondern besagt
lediglich, dass die Vernunft in diesen Fällen überhaupt kein
Urteil fällt und zu keiner gegenseitigen Hilfe und Befolgung
des Gesetzes aufruft, denn die Vernunft entscheidet nur der
Not gehorchend, weil die Nachteile der Störungen, die die
Handlungsfreiheit schließlich doch behindern, überwiegen. Wer
nach diesem Prinzip entscheidet, wird vom Verstoß gegen das
Gesetz, der ja Handlungsfreiheit bedeutet, nicht abraten und
die Befolgung des Gesetzes, die ja im Grunde die Einschränkung
der Freiheit ist, nicht empfehlen, wo keine Störung und
Behinderung zu befürchten ist.
Da die Vernunft nicht in jedem Falle zur
Befolgung des Gesetzes rät, kann sie kein ausreichendes Mittel
zur ständigen Rechtleitung des Menschen sein. Dagegen gebietet
die Offenbarung ausnahmslos die allgemeine und ständige
Einhaltung des Gesetzes und überlässt die Entscheidung einem
allmächtigen und allwissenden Gott, der in jeder Situation die
Menschen beobachtet und ihnen ohne Diskriminierung ihre guten
Werke belohnt und ihre bösen Taten bestraft.
Gott der Erhabene sagt:
„Die Entscheidung steht Gott allein
zu.“ (12:40)
Und er sagt noch:
„Wenn dann einer (auch nur) das
Gewicht eines Stäubchens an Gutem getan hat, wird er es zu
sehen bekommen. Und wenn er (auch nur) das Gewicht eines
Stäubchens an Bösem getan hat, wird er es (ebenfalls) zu sehen
bekommen.“ (99:7-8)
Und er sagt:
„Wahrlich, Allah wird zwischen ihnen
am Tage der Auferstehung entscheiden. Er ist über alles
Zeuge.“ (22:17)
Und es heißt weiter:
„Wissen sie denn nicht, dass Allah
weiß, was sie geheim halten, und was sie bekanntgeben?“
(2:77)
und:
„Allah beobachtet alles.“ (33:52)
Daraus ergibt sich deutlich, dass eine
Offenbarungsreligion eher geeignet ist, Verstöße und
Übertretungen zu verhindern, als die normalen von Menschen
gemachten Gesetze, denn die letzten Mittel, die diese zur
Verhinderung der Gesetzesübertretungen zur Verfügung haben,
sind die Menschen selbst, die die offenen Taten ihrer
Mitmenschen beurteilen und das Strafmaß für die
Gesetzesbrecher bestimmen. Sie können jedoch erst handeln,
wenn die Exekutive stark und das Verbrechen offen kundig genug
ist.
Doch die Offenbarungsreligion hat erstens
wie die irdischen Gesetze und Regime besondere Beobachter für
die offenen Taten der Menschen. Sie hat zweitens durch die
religiöse Pflicht, „das Rechte zu gebieten und das
Verwerfliche zu verbieten“,
jeden Menschen ohne Ausnahme zum Beobachter der Taten seiner
Mitmenschen und zum Wächter über das Gesetz bestellt. Es ist
drittens ein Bestandteil des religiösen Glaubens, dass die
guten und die bösen Taten der Menschen registriert und bis zum
Tage des Gerichts aufbewahrt werden. Darüber hinaus weiß Gott
über die Menschen und ihre Taten bestens Bescheid. Er ist
immer und überall anwesend und beobachtet alles.
Zu den Strafen, die die Menschengesetze
für jedes Vergehen bestimmt haben, kommen noch diejenigen
hinzu, die nach religiösem Glauben am Tage des Gerichts
ausnahmslos und ohne Ansehen der Person verhängt werden. Der
erhabene Gott sagt:
„O ihr, die ihr glaubt, gehorchet
Allah und gehorchet dem Gesandten und den Leuten des Befehls
unter euch.“ (4:59)
Und er sagt:
„Und unter den gläubigen Männern und
Frauen sind einige Beschützer der anderen. Sie gebieten, was
recht ist, und sie verbieten, was verwerflich ist.“ (9:71)
Und er sagt:
„Über euch sind wahrlich Hüter
gesetzt: Vornehme, die alles schreiben und wissen, was ihr
tut.“ (82:10-11)
Und er sagt:
„Dein Herr wacht über alles.“
(34:21)
Ein weiterer Einwand: Nach dem bisher
Gesagten gebietet die Vernunft nicht in jedem Falle, die
Gesetze einzuhalten und Verstöße dagegen zu verhindern. Diese
Feststellung widerspricht jedoch einigen Überlieferungen, die
von den Imamen aus dem Hause des Propheten überliefert worden
sind. Nach diesen Überlieferungen hat der erhabene Gott seinem
Geschöpf zwei Beweisgründe zur Verfügung gestellt: Einen
äußeren Beweisgrund, nämlich den Propheten, und einen inneren
Beweisgrund, die Vernunft. Doch die Vernunft trifft – wie wir
oben erfuhren – nicht immer eine Entscheidung über die
Gesetzesverstöße und kann daher auch nicht als Beweisgrund in
Anspruch genommen werden.
Antwort: Die Handlung der praktischen
Vernunft besteht ausnahmslos darin, Gewinne zu erzielen und
Schäden zu vermeiden. Wenn der gewinnsüchtige Mensch, der sich
die anderen dienstbar zu machen versucht, dem Zwang der
Umstände gehorchend die gegenseitige Hilfe akzeptiert und wenn
dieser Zwang von denen herrührt, deren Aktivitäten dieser
Mensch zu seinen Gunsten ausnutzen will, oder von denen
ausgeübt wird, die die Strafgesetze anwenden, wird die
Vernunft in anderen Fällen, in denen sie keinem Zwang
unterliegt, die Notwendigkeit der Gesetzestreue nicht
verlangen und die Gesetzesverstöße nicht ablehnen.
Ist jedoch das Gebot Gottes – wie es die
Offenbarungstheorie erfordert – die Quelle dieses Zwanges, so
dass die ausnahmslose Bestrafung der Vergehen und die
Überwachung der guten und der bösen Taten dem
allgegenwärtigen, allwissenden und allmächtigen Gott
überlassen worden ist, so spielt hier die Vernunft, die sich
ja beim Fehlen des Notstandes weigert zu entscheiden, keine
Rolle und entscheidet so, wie die Offenbarung entschieden hat.
Der erhabene Gott sagt:
„Ist etwa einer, der über einen jeden
steht, (um ihn) für das (zu belangen), was er begangen hat,
wie die anderen?“ (13:33)
Und er sagt:
„Es gibt niemanden, über den nicht ein
Hüter eingesetzt wäre.“ (86:4)
Und er sagt:
„Ein jeder haftet für das, was er
begangen hat.“ (74:38)