Dritter Teil
Donnerstag, 10. Mai
Um aus der großen, außerhalb der Wüste gelegenen Oase
hinauszugelangen, suchen wir uns frühmorgens mitten durch die
Höhlen und Löcher am Fuße, ja fast unterhalb der hängenden,
hohen Stadt einen Weg; der vorspringende Felsen, der sie
stützt, hüllt uns noch immer in seinen kalten Schatten ein,
während die schöne, aufgehende Sonne sonst alles erwärmt. Über
unseren Köpfen, in ihrem Adlerhorst, stehen viele Leute, am
Rande der schwindelerregenden Terrassen, oder sie neigen sich
aus den vorspringenden Fenstern heraus und sehen senkrecht auf
uns herab.
Ein schmaler Pfad führt an der oberen Felswand des Tales zu
den Einöden hinauf, einige hundert gleichgültige Eselchen
versperren uns den Weg und machen keinen Platz. Wie immer,
wenn ihnen ein Hindernis begegnet, setzen unsere Perser auch
diesmal im Galopp mit lautem Geschrei mitten durch den Schwarm
hindurch.
Schrecken und Verwirrung entsteht unter den Eseln, und mit
großem Gepolter gelangen wir dort oben in der dürren, grauen
Ebene an, erreichen wir die Höhe, im üblichen Galoppe.
Heute ist der Eselmorgen, wir kreuzen tausende von ihnen,
begegnen meilenlangen Zügen, sie kehren aus Ispahan zurück,
wohin sie Waren gebracht haben, kehren müßig zurück, auf ihrem
Rücken liegt nur die gestreifte Decke von Chiraz. Doch einige
tragen ihren Herrn, der, in einen Filzkaftan gehüllt, der
Länge nach auf dem Rücken seines guten Tieres liegt, die Arme
um dessen Hals geschlungen hat, und seinen nächtlichen Schlaf
fortsetzt. Man sieht auch Eselmamas, in einem Korbe haben sie
ihr Junges bei sich, das am Vorabend geboren wurde. Und
schließlich sind da auch kleine Esel, die schon laufen können
und schelmisch hinter ihrer Mutter herspringen.
Die Gegend ist heute nicht gar zu verlassen, die kleinen,
grünen Oasen liegen nicht gar zu weit auseinander, eine jede
hat ihren Weiler mit den krenelierten Zinnen und wird von
einigen schlanken, mächtigen Pappeln beschattet.
In dem Dorfe Makandbey machen wir um die Mittagsstunde
Rast, mehrere Gespensterdamen neigen sich über den Rand der
Mauern hinüber und sehen zwischen den Zinnen in die traurige
Ebene hinaus. Unter den Bogen der Karawanserei, im Hof, haben
viele stattliche Reisende mit Turbanen und in Kaschmirkleidern
Platz genommen; wir tauschen feierliche Begrüßungen mit ihnen
aus, auf Kissen, auf Teppichen von selten schönen Farben
sitzen sie scharenweise um Samowars und kochen ihren Tee und
rauchen ihre Kalyan.
Wir haben heute den vorletzten Tag des persischen Fastens,
und morgen ist der Todestag AlisAli, Kalif von Islam, der
vierte nach Mahomet, wurde besonders verehrt in Persien. Ali
fiel unter dem Dolch eines Mörders, seine beiden Söhne, Hassan
und Hussein, wurden niedergemetzelt.; deshalb ist die
religiöse Begeisterung in Makandbey besonders groß. Auf einem
Platz, vor der bescheidenen Moschee mit ihren Spitzbogen aus
Lehm, bilden etwa hundert Leute einen Kreis um einen Derwisch,
dieser singt, seufzt, schlägt sich in die Brust. Sie haben
alle ihre Schulter und ihre linke Brust entblößt, und schlagen
sich selbst mit einer solchen Gewalt, daß das Fleisch
anschwillt und die Haut fast blutig ist; man hört die Schläge
in ihrem breiten Brustkasten hohl widerhallen. Der alte Mann,
dem sie lauschen, erzählt ihnen, halb singend, halb sprechend,
in Versen die Leidensgeschichte ihres Propheten, und sie
unterstreichen die ergreifendsten Stellen, indem sie Schreie
der Verzweiflung ausstoßen oder lautes Schluchzen nachahmen.
In immer größere Aufregung gerät der alte Derwisch mit dem
wilden Blick; jetzt singt er wie die Gebetsausrufer mit
schwacher, meckernder Stimme, und doppelt schnell sausen die
Schläge auf die nackten Schultern hernieder. Alle
Gespensterdamen kommen auf den umliegenden Dächern zum
Vorschein; sie schmücken die Terrassen und die schwankenden
Mauern. Der Kreis der Männer schließt sich, und es beginnt ein
furchtbarer Tanz, sie tanzen und springen im Wahnsinn an ein
und demselben Platz umher, sie reihen sich enger aneinander
an, bilden eine dichte, runde Kette, schlingen den linken Arm
um ihren nächsten Nachbar, aber schlagen noch immer in
steigendem Schmerzenseifer mit der rechten Hand wie wütend auf
sich ein. Einige werden durch diesen Rausch so sehr entstellt,
daß sie Mitleid erregen, andere erlangen den höchsten Grad
menschlicher Schönheit. Alle Muskeln sind gewaltsam
angespannt, und in den Augen leuchtet es wider von Sehnsucht
nach einem Blutbad, nach dem Märtyrertod. Gellende Schreie und
rauhes, tierisches Gebrüll steigen aus diesem Knäuel
menschlicher Gestalten empor; der Schweiß und die Blutstropfen
rollen über die braunroten Körper herab. Der Staub wird vom
Boden aufgewirbelt und hüllt den Ort, auf den die brennende
Sonne ihre sengenden Strahlen wirft, in eine dichte Wolke ein.
Auf den Mauern dieses kleinen wilden Platzes stehen die Frauen
mit ihren Masken wie versteinert da. Und über dem allen ragen
die Gipfel der Berge, die Schneegefilde zu dem wunderbar
blauen Himmel hinauf.
Nachmittags reiten wir durch eine Gegend, die immer
belebter wird, wir stoßen auf Städte, auf Kornfelder, auf
eingefriedigte Obstgärten. Abends sehen wir schließlich eine
große Stadt mit ihrer trügerisch drohenden Mauer vor uns
liegen; es ist Koumichah, und von dort bis nach Ispahan sind
es nur noch acht bis neun Meilen.
In Persien sind die Zugänge zu den Städten weit schwieriger
und gefährlicher für die Pferde als das platte Land. Bevor wir
das Tor der Wälle erreichen, mühen wir uns deshalb auf Pfaden
ab, auf denen man sich den Hals brechen kann, wo die Gebeine
der Kamele und Maultiere überall den Weg versperren; mitten
durch die Ruinen, Trümmer und Erdhaufen führt der Weg
hindurch, und immer müssen wir zur Rechten und Linken nach den
klaffenden Löchern spähen, aus denen man die Bauerde für die
Festungen, Häuser und Moscheen geholt hat.
Die Sonne geht unter, als wir durch das spitzbogige Tor
reiten, das sich immer wieder vor uns zu verbergen wußte. Die
Stadt lag fast ganz versteckt hinter den Mauern da, jetzt aber
bietet sie uns einen bezaubernden Anblick. Sie ist von
demselben rosenroten Grau, wie wir es in Chiraz, in Abadeh, in
jedem Dorf am Wege sahen, denn überall bedient man sich beim
Bau derselben tonartigen Erde, aber hier breitet sie sich auf
dem hügeligen Boden aus, entfaltet sich in der Art einer
prächtigen Dekoration. Wie kann man es nur wagen, so viele
kleine Kuppeln aus Lehm zu errichten, sie miteinander zu
verbinden, sie in Pyramiden übereinander aufzutürmen? Wie
können die vielen Arkaden, die großen, eleganten Spitzbogen,
die nur aus getrocknetem Lehm bestehen, wie können die vielen
Minaretts, deren Galerien mit Stakalit verbrämt zu sein
scheinen, wie können sie alle sich aufrecht halten und den
Regengüssen widerstehen? Das Ganze zeigt, wohlverstanden,
keine scharfen Linien, keine bestimmten Umrisse; der Schatten
und das Licht laufen zwischen den immer weichen, runden Formen
unmerklich ineinander über. Auf den Denkmälern sieht man keine
blauen Fayencen, in den Gärten keine Bäume, nichts, was den
eintönigen Farbenton dieser Gebäude, die alle von einem
silbernen Tau durchtränkt zu sein scheinen, unterbrechen
könnte. Aber dort unten in den belebten Straßen geht das
Farbenspiel vor sich. Männer in blauen Kleidern, Männer in
grünen Kleidern; Scharen von verschleierten Frauen, tief
schwarze Scharen mit grellen, weißen Flecken; das Weiß der
Masken, die das Gesicht verbergen. Vor allem aber herrscht
dort oben ein prächtiges Spiel; oberhalb der grauen Kuppeln,
der grauen Arkaden, stoßen die Farben aufeinander: in der
Dämmerung breiten die nicht zu erklimmenden Berge der Umgegend
das kostbare Violett des Bischofsgewandes aus, ihr Violett,
durch das die Schneegefilde lange, silberne Streifen ziehen;
und an dem grünlichen Himmel scheinen die rot-gelben Wölkchen
in Brand zu geraten, sie leuchten wie Flammen auf . . . Wir
befinden uns noch immer etwa zweitausend Meter über dem
Meeresspiegel, in der reinen Luft der Berge, und die
Nachbarschaft der wasserlosen Wüste steigert noch mehr die
Durchsichtigkeit, belebt noch mehr den zauberhaften Glanz der
Abende.
Heute begeht man das große religiöse Fest der Perser, den
Jahrestag des Martyriums ihres Kalifen. In den Moscheen
stöhnen tausende von Menschen vereint; man hört von weitem
ihre Stimmen, ein unverständliches Murmeln, das dem Rauschen
des Meeres gleicht.
Sobald wir in der Karawanserei angelangt sind, eile ich
nach dem heiligen Ort, um noch ein wenig von dem Fest zu
sehen, das vor Hereinbruch der Nacht beendet sein wird. Zuerst
will keiner mich dorthin begleiten. Schließlich aber willigen
zwei Leute mit energischen Gesichtern und starken Schultern
nach langem Zögern ein, gegen hohe Bezahlung mich an den Ort
zu führen. Der eine von ihnen behauptet, ich müsse eins seiner
Gewänder anlegen und seinen Astrachanhut aufsetzen, der andere
erklärt, dies sei noch weit gefährlicher, und ich solle nur
tapfer meine europäische Kleidung anbehalten. Schließlich
bleibe ich, wie ich bin, und wir eilen im Sturmschritt nach
der großen Moschee, denn es ist schon spät. Kurz vor Anbruch
der Nacht befinden wir uns in dem dunklen Labyrinth, das ich
schon im voraus zu kennen glaubte: Mauern ohne Fenster, hohe
Gefängnismauern, in großen Abständen nur einige
eisenbeschlagene Türen, Mauern, die von Zeit zu Zeit oben
zusammenstoßen und uns in die in den persischen Städten so
beliebte Dunkelheit eines Kellers hüllen. Aufstiege, Abstiege,
Brunnen ohne Schutzwand, Höhlen und Löcher. Zuerst begegnen
wir niemandem, und fast könnte man glauben, man eilte durch
die düsteren, verlassenen Katakomben. Dann aber, als wir uns
einem jener lärmenden Plätze nähern, an denen die Stadt heute
abend reich ist, und von wo aus das Stimmengewirr wie
Wogenrauschen an unser Ohr schlägt, treffen wir Scharen von
Männern, alle kommen sie von derselben Seite, und fast ist
diese Begegnung schrecklich. Sie haben die große Moschee, den
Mittelpunkt des Geschreies und der Klagen verlassen, denn die
Trauerfeier ist gleich beendet; haufenweise, zu zehn, zwanzig,
dreißig eilen sie vorwärts, halten sich eng umschlungen, ihr
Kopf fällt zurück, sie blicken nicht um sich; man sieht das
Weiße in ihren Augen, die unnatürlich weit geöffnet sind, und
deren gen Himmel gewandter Augapfel fast in die Stirn
einzudringen scheint. Auch der Mund ist geöffnet, und
unaufhörlich stoßen sie ein lautes Gebrüll aus; die rechten
Hände fallen mit harten Schlägen auf die blutende Brust.
Vergebens drückt man sich gegen die Mauern oder in die Türen,
wenn man zufällig eine findet, man wird doch sehr empfindlich
gestreift. Sie riechen nach Schweiß, nach Blut; blind, in
unaufhaltbarem Lauf rollen sie wie eine große Welle vorüber.
Nach den engen Straßen gelangen wir durch einen großen
Spitzbogen in den Hof der Moschee, und dieser Ort erscheint
uns jetzt unendlich weit. Zwei- bis dreitausend Menschen
stehen dort dicht nebeneinander gedrängt und rufen mit lauter
Stimme, mit einem schreckeneinflößenden Rhythmus: »Hassan,
Hussein! Hassan, Hussein!«Hassan, Hussein, die beiden Söhne
des Kalifen Ali. Im Hintergrunde führt ein zweiter,
riesengroßer Spitzbogen, der alles beherrscht und der mit den
unvermeidlichen blauen Fayencen verziert ist, in das dunkle
Heiligtum ein. Auf den Zinnen der Mauern, am Rande aller
Terrassen der Umgegend, stehen die Frauen unbeweglich und
stumm, sie gleichen einem Schwarm schwarzer Vögel, der sich
auf die Stadt herabgelassen hat. In einem Winkel, gegen den
menschlichen Strom, durch den Stamm eines hundertjährigen
Maulbeerbaumes geschützt, sitzt ein Greis und schlägt wie
besessen auf eine gewaltige Trommel: im Dreitakt sausen die
ohrenbetäubenden Schläge so schnell herab, als wollten sie
irgendeinem Ungetüm zum Tanzen aufspielen; – das Ding nämlich,
das zum Takt der Trommel tanzt, ist ein Haus, am Ende langer
Stangen wird es von mehreren hundert Armen hochgehalten und
trotz seines großen Gewichtes wahnsinnig schnell hin und her
bewegt. Das tanzende Haus ist mit altem, gemusterten Samt, mit
alten seidenen Stickereien bedeckt, es schwebt zehn Fuß über
der Menge, über den erhobenen Köpfen, den wildblickenden
Augen, und zuweilen dreht es sich herum, die Getreuen, die es
tragen, laufen im Kreise mitten durch den dichten Haufen, es
dreht sich, es wirbelt herum. Drinnen sitzt ein verzückter
Derwisch, um nicht zu fallen, klammert er sich fest, seine
gellenden Schreie durchdringen den Lärm dort unten; und
jedesmal, wenn er den Namen eines iranischen Propheten
ausstößt, dringt ein noch lauterer Schrei aus allen Kehlen,
und die grausamen Fäuste fallen so schwer auf die Brust herab,
daß der dumpfe Widerhall das Schlagen der Trommel übertönt.
Einige Männer haben ihre Mützen von sich geworfen und bringen
sich blutige Wunden auf dem Schädel bei; der Schweiß und die
Blutstropfen rollen über die Schultern herab; neben mir gibt
ein junger Mensch, der sich zu heftig geschlagen hat, einen
roten Auswurf von sich, und auch ich werde damit bespritzt.
Zuerst hatte keiner meine Gegenwart beachtet, und ich
drückte mich hinter meinen beiden besorgten Führern eng an die
Wand. Aber zufällig fällt das Auge eines Kindes auf mich, es
errät, daß ich ein Fremder bin und schlägt Lärm, alsbald
kehren sich andere Gesichter mir zu, einen Augenblick herrscht
Schweigen, Todesstille . . . »Kommt!« rufen mir meine beiden
Leute zu, sie schlingen ihre Arme um mich, wollen mich mit
sich ziehen, und rückwärts gehend, wie die Tierbändiger, die
den Tieren ins Auge blicken, wenn sie den Käfig verlassen,
wenden wir der Menge das Gesicht zu und erreichen glücklich
den Ausgang . . . In der Straße verfolgt man uns nicht mehr .
. .
Abends gegen neun Uhr, nachdem ein großes Schweigen sich
über die Stadt herabgesenkt hat, die von dem vielen Geschrei,
von all dem Klagen erschöpft ist, verlasse ich von neuem die
Karawanserei und begebe mich zu einem vornehmen Bürger, wo ich
zu einer ganz geschlossenen, religiösen Feier eingeladen bin.
Einsam liegt Koumichah unter dem Mond in seinem rosenroten
Gewande da, so ernst und feierlich ist es hier, wie in einem
großen Grabgewölbe. Nirgends eine menschliche Seele; der Mond
allein beherrscht diese Stadt aus getrocknetem Lehm, der Mond
beherrscht die ungezählten kleinen Kuppeln mit ihren weichen
Umrissen, das Labyrinth mit seinen engen Gängen, die
Trümmerhaufen und die Spalten.
Aber wenn auch die Straßen verlassen sind, so wacht man
doch in allen Häusern, hinter den doppelt verschlossenen
Türen; man wacht, man klagt, man betet.
Nach einer langen, schweigenden Wanderung zwischen meinen
beiden Laternenträgern erreiche ich die geheimnisvolle Tür
meines Wirtes. In dem von Mauern umgebenen kleinen Garten,
beim Schein des Mondes und einiger Lampen, die an
Jasminzweigen oder Weinlauben hängen, findet die Trauerfeier
statt. Vor dem versteckt liegenden Hause hat man Teppiche auf
die Erde gebreitet, und dort sitzen zwanzig bis dreißig Männer
im Kreise, sie tragen hohe, schwarze Hüte und rauchen ihre
Kalyan; mitten zwischen ihnen liegt ein Brett, mit einem Berg
stengelloser Rosen – persische Rosen, die immer wunderbar
duftenden Rosen, steht auch ein Samovar, auf dem man Tee
kocht, und diesen schenken die Diener immer von neuem in die
winzig kleinen Tassen ein. In Anbetracht des religiösen
Charakters dieses Abends würde meine Gegenwart im Garten
selbst unzulässig sein; deshalb bringt man mich allein mit
meiner Kalyan in dem Ehrenzimmer unter, von wo aus ich durch
die offen stehende Tür alles sehen und hören kann.
Einer der Gäste steigt auf eine steinerne Bank, zwischen
den übervoll blühenden Rosen, er erzählt mit tränenerstickter
Stimme von dem Tod des Ali, des Kalifen, den die Perser so
sehr verehren, und zu dessen Andenken wir hier versammelt
sind. Die Zuhörer unterstreichen selbstverständlich seine
Beschreibung durch Klagen und Schluchzen, hauptsächlich aber
durch Ausrufe, die ihren ganzen Zweifel ausdrücken sollen, sie
haben diese Geschichte tausendmal gehört, und doch scheinen
sie zu fragen: »Darf ich meinen Ohren trauen? Ist eine solche
Schandtat überhaupt möglich?« Nachdem der Erzähler geendet
hat, setzt er sich neben dem Samovar nieder, und während man
ihm seine Kalyan anzündet, betritt ein anderer die Kanzel, um
von neuem alle die Einzelheiten dieses unvergeßlichen
Verbrechens auszumalen.
Der kleine Salon, wo ich, getrennt von den anderen, wache,
zeigt eine wunderbare, nicht gewollte Altertümlichkeit; wenn
man ihn auf diese Weise eingerichtet hat, wie man es auch
schon vor fünfhundert Jahren hätte machen können, so liegt es
daran, daß es in Koumichah keine neuere Mode gibt, daß bis
jetzt noch keiner unserer westlichen Schundgegenstände in
diese Wohnung eingedrungen ist, nirgends sieht man hier Spur
von den bedruckten Baumwollstoffen, mit denen England jetzt
Asien überflutet; die Augen können zum Zeitvertreib alle diese
Dinge genau betrachten, ohne daß sie auch nur ein einziges
Merkmal unserer Zeit darunter fänden. Auf der Erde liegen die
alten persischen Teppiche; als Möbel dienen Kissen und große
Zederntruhen, mit Kupfer oder Perlmutter eingelegt. In die
dicken weißgekalkten Mauern hat man kleine Nischen, kleine
spitzbogige oder ausgezackte Grotten eingelassen, sie ersetzen
in diesen Ländern die Schränke, und werden mit kleinen,
silbernen Kästen, mit Karaffen und Schalen verziert; dies
alles ist alt, dies alles steht auf viereckigen, altertümlich
gestickten Atlasdeckchen. Vor den inneren Türen, durch die mir
der Zutritt verweigert ist, hat man Vorhänge aus seltsam
reichen, harmonischen Seidenstoffen herabgelassen, die
absichtlich verwischten Zeichnungen dieser Vorhänge zeigen ein
buntes Gewirr von Linien, sie gleichen zuerst nur großen
phantastischen Flecken, aber nach Art der Impressionisten
enthüllen sie mir schließlich die Umrisse dunkler Zypressen.
In dem Garten, wo das Fest seinen Lauf nimmt, folgen die
immer geschickter oder immer aufgeregter werdenden Erzähler
einander auf der steinernen Bank. Die Redner, die jetzt
sprechen, bringen durch Stellung und Bewegung einen wirklichen
Schmerz zum Ausdruck. Bei gewissen Sätzen stoßen die Zuhörer
einen verzweifelten Schrei aus, werfen den Körper nach vorne
und schlagen mit der Stirn gegen den Boden; oder sie entblößen
alle die Brust, die schon in der Moschee zerschlagen ist, und
rufen mit angsterfüllter Stimme immer wieder die beiden Namen:
»Hassan, Hussein! . . . Hassan, Hussein!« Einige bleiben ganz
auf der Erde liegen, In der Allee des Hintergrundes unter dem
vorspringenden Jasmingebüsch der Mauer stehen die schwarzen,
gespensterhaften Frauen, man sieht sie kaum, sie treten auch
nicht näher, aber man weiß, daß sie da sind, und ihre Klagen
verlängern das Echo dieses traurigen Konzerts. Wie für die
Sänger des Gartens, so hat man auch mir auf einem Brett Rosen
gebracht, und diese fallen auf die alten, kostbaren Teppiche
herunter. Auch der Jasmin da draußen durchflutet trotz der
Kälte die klare, sternenglänzende Maiennacht mit seinem
Wohlgeruch. Dies ist eine Szenerie aus der ganz alten
orientalischen Vergangenheit mit ihrer unberührten
Ausschmückung, die durch die vielen Mauern, die jetzt
verriegelten Tore beschützt wird: doppelte, sich windende
Mauern umgeben dies Haus; hohe Mauern schließen, das Viertel
ein und sondern es ab, noch höhere Mauern beschirmen diese
Stadt mit ihrer hundertjährigen Unvergänglichkeit – und dies
alles liegt inmitten der einsamen Umgebung, auf die sich in
diesem Augenblick das unendliche Schweigen herabsenkt, und
deren Schneegefilde unter den Strahlen des Mondes bläulich
leuchten...