Dritter Teil
Freitag, 4. Mai
Bei kaltem, klarem Sonnenaufgang brechen wir auf und reiten
über die weißen Mohnblumen hinweg, auf denen noch der ganze
Tau der Maiennacht liegt. Zum erstenmal seit Chiraz legen
meine Perser ihren Burnus an und ziehen ihre Magiermützen tief
über die Ohren.
Nachdem die Ebene hinter uns liegt, steigen wir noch einmal
zu den großen Palästen des Schweigens hinan, um von ihnen
Abschied zu nehmen. Aber das Licht des Morgens, das niemals
verfehlt, das ganze Alter, den ganzen Verfall der Dinge
bloßzulegen, zeigt uns weit mehr als die Abendsonne es
vermochte, welcher Vernichtung die Herrlichkeiten des Darius
und des Xerxes entgegengehen, wie verfallen die wunderbaren
Treppen sind, wie traurig der Anblick der gestürzten Säulen
ist. Nur die seltsamen Basreliefs aus grauem Kiesel, dem auch
die Jahrhunderte nichts anzuhaben vermögen, können unter den
Strahlen der aufgehenden Sonne bestehen: Prinzen mit glatten
Bärten, Krieger oder Priester strahlen in dem hellen, grellen
Licht mit einem Glanz wieder, der ebenso neu erscheint wie an
dem Tage, als die mazedonischen Horden gleich einem Wirbelwind
herangebraust kamen.
Während ich über den Boden der Geheimnisse dahinschreite,
stößt mein Fuß auf ein halbverstecktes Stück Holz, das ich
herausgrabe, um es näher zu betrachten; es ist ein Teil
irgendeines riesengroßen Balkens aus den unverwüstlichen
Zedern des Libanon gehauen, und – es herrscht kein Zweifel –,
dies Stück gehört zu dem Gebälk der Gemächer des Darius. . . .
Ich hebe es auf und kehre es um. Eine der Seiten ist
geschwärzt, verkohlt und zerbröckelt unter dem Druck meiner
Finger: Das Feuer, das die Fackel Alexanders angelegt hat! . .
. Hier haben wir die Spur dieses sagenhaften Feuers, zwischen
den Händen halte ich sie jetzt nach mehr als zweitausend
Jahren! . . . Während eines Augenblickes verschwinden die
dazwischenliegenden Jahre für mich; es scheint mir, als habe
diese Feuersbrunst gestern gewütet; man könnte sagen, daß
diesem Stück Zedernholz die Kraft innewohnt, Geister
heraufzubeschwören, weit klarer als gestern, fast wie eine
Vision sehe ich den Glanz dieser Paläste, das Leuchten der
Emaillen, des Goldes und der purpurnen Teppiche, sehe ich den
Prunk dieser unausdenkbar reichen Säle, die höher waren als
das Schiff der Madeleine, und deren Säulenreihen gleich
Riesenalleen sich in einen Waldesschatten verloren. Eine
Stelle des Plutarch kehrt mir ins Gedächtnis zurück, eine
Stelle, die ich einst, in Schülertagen, unter der Fuchtel
meines Lehrers übelgelaunt und voll Langerweile übersetzte,
aber plötzlich belebt sie sich, wird sie mir verständlich; es
handelt sich um die Beschreibung einer Nacht der Orgien in der
Stadt, die sich hier um diese freien Plätze ausdehnte, auf der
Stelle, wo jetzt die wilden Blumenfelder liegen: Der
Mazedonier ist durch einen zu langen Aufenthalt inmitten des
ihm unbekannten Luxus aus dem Gleichgewicht geraten, er ist
berauscht, hat sich mit Rosen bekränzt, ihm zur Seite sitzt
die schöne Thaïs, die Beraterin in allen Ausschweifungen, und
zum Schluß des Mahles erhebt er sich mit einer Fackel in der
Hand – um eine Laune seiner Geliebten zu befriedigen – und
begeht das nie wieder gutzumachende Opfer, entfacht die
Feuersbrunst, legt das Freudenfeuer in den Gemächern der
Achämeniden an. Alsbald ertönt das laute Geschrei der
Trunkenheit und des Schreckens, steht plötzlich das
Zederngebälk in hellen Flammen, hört man das Geknatter der
Emaille an den Mauern, das Fallen der riesenhaft großen
Säulen, die übereinander zusammenstürzen und mit Donnergetös
gegen den Boden anprallen. . . . Der kleine schwärzliche Teil
des Balkenstückes, das noch übriggeblieben ist, und das meine
Hände berühren, wurde in jener Nacht zu Kohle verbrannt . . .
Die Etappe heute wird neun Stunden dauern und wir
verlängern sie noch, indem wir einen Umweg machen, um den
braunen Berg in nächster Nähe sehen zu können. Hinter
Persepolis ragt dieser Berg gleich einer Mauer aus Kupfer auf,
und schwarze Löcher, die Begräbnisstätten der
Achämeniden-Könige, führen in sein Inneres hinein.
Um an den Fuß dieses Felsens zu gelangen, muß man über die
endlosen Schutthaufen ausgehauener Steinblöcke, eingestürzter
Mauerreste klettern; die gewaltige Vergangenheit hat diesen
Boden befruchtet, in dem viele Schätze, viele Totengebeine
ruhen müssen.
Drei ungeheuer große Begräbnisstätten liegen im Schoße des
Berges voneinander getrennt, aber in einer Reihe; um die
Gräber des Darius und der Prinzen seines Hauses unzugänglich
zu machen, wurden die Öffnungen zu diesen Gewölben in halber
Höhe der steilen Felswand gelegt, und wir können nur mit
Leitern, Stricken, mit einem ganzen Belagerungs- und
Einbruchsmaterial dort hinauf gelangen. Der monumentale
Eingang zu jeder einzelnen dieser Stätten ist von Säulen
umgeben und von figürlichen Basreliefs überragt; die alle in
den Felsen selbst hineingehauen sind; die Verzierungen
scheinen von den Ägyptern und den Griechen zugleich beeinflußt
zu sein; die Säulen, das Gesims sind jonisch, aber der
Gesamteindruck erinnert doch mehr an die schwere Pracht der
Portale Thebens.
Unterhalb der Gräber, am Fuße des als Begräbnisstätte
dienenden Berges, sieht man hier und dort, ohne irgendwelchen
Zusammenhang, andere riesengroße Basreliefs in vertiefte
Vierecke ausgehauen, sie gleichen eingerahmten Gemälden.
Übrigens sind sie älter als die Begräbnisstätten, sie stammen
aus der Zeit der Sassaniden-Könige; fast alle Gesichter der
fünfzehn bis zwanzig Fuß hohen Figuren haben die Mohammedaner
verstümmelt, aber trotzdem wirken verschiedene Kampfes- oder
Siegesdarstellungen noch immer. Besonders ins Auge fallend ist
ein Sassaniden-König, der in stolzer Haltung auf einem
Kriegsroß sitzt, vor ihm kniet und demütigt sich
wahrscheinlich ein Besiegter, ein römischer Kaiser, an seiner
Toga erkenntlich, dies ist die ergreifendste und zugleich die
größte aller Gruppen, die von dem roten Felsen eingerahmt
werden.
Die Sieger alter Zeiten verstanden zu zerstören! Man ist
bestürzt, wenn man heute dem Nichts gegenübersteht, in das so
viele alte ruhmreiche Städte durch einen einzigen Stoß
getaucht werden konnten, Karthago zum Beispiel und auch hier
am Fuße dieser Paläste, dies Istakhar, das solange gestanden
hatte, das einer der herrlichsten Plätze der Welt gewesen, und
das im VII. Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung unter dem
letzten Sassaniden-König noch immer eine große Hauptstadt war:
eines Tages aber zog der Kalif Omar vorbei, er befahl sie zu
unterjochen und ihre Einwohner nach Chiraz zu verpflanzen;
sein Befehl wurde ausgeführt, und nichts ist von der Stadt
zurückgeblieben, kaum ein Haufen Steine unter dem Gras; man
zögert, an diesem ihre Spur zu erkennen.
Ich suchte zwischen den Trümmerhaufen nach einem älteren
Denkmal, nach einem Denkmal, das mehr in die Augen fällt und
das die Zoroaster, die Emigranten in Indien, mir als noch
erhalten bezeichnet hatten. Und jetzt liegt es ganz in der
Nähe, wild und schweigend auf dem Postament eines Felsblockes
vor mir. Nach der Beschreibung erkannte ich es sofort wieder,
außerdem wurde mir seine Identität durch die Bezeichnung des
Tcharvadaren »Ateuchka!« bestätigt – in der ich das türkische
Wort ateuch wiederfinde, das Feuer bedeutet. Zwei schwere,
einfache, abgestumpfte Pyramiden, von grobem Zackenwerk
gekrönt, zwei Zwillingsaltäre für den Kultus des Feuers
bestimmt, aus der Zeit der ersten Magier stammend, die mehrere
Jahrhunderte vor Beginn des großen Baues der Persepolis und
des ausgehauenen Berges lebten; sie waren schon sehr alt und
ehrwürdig, als die Achämeniden diesen Ort erwählten, um hier
ihre Paläste, ihre Stadt und ihre Gräber zu errichten, sie
standen schon da in den dunkelsten Zeiten, wo die zur
Begräbnisstätte dienenden Berge noch unberührt und
jungfräulich waren, und wo die ruhige Ebene sich an Stelle so
vieler ungeheurer Vorhallen und steinerner Plätze ausdehnte;
sie haben die gesteigerten Zivilisationen anwachsen und
verschwinden sehen, und immer sind sie auf ihrem Postament
fast dieselben, die beiden Ateuchkas geblieben, unverwüstlich
und gleichsam ewig in ihrer derben Herbheit. Wie man weiß,
verschwinden die Feueranbeter immer mehr aus ihrem Heimatland,
ja sogar von der Erde; die Übriggebliebenen sind, ähnlich wie
das Volk Israels, in alle Winde verstreut; aber in Yezd, der
Wüstenstadt, die ich auf meinem Wege rechts liegen ließ, gibt
es eine noch ziemlich große Gemeinde, man findet auch einige
in Arabien, andere in Teheran, und schließlich bilden sie eine
wichtige, reine Kolonie in Bombay, wo sie ihre großen
Begräbnistürme errichtet haben. Aber von allen Punkten der
Erde, wohin sie ihr Schicksal auch geführt haben mag, kehren
sie doch immer wieder als Pilger zu diesen beiden erschreckend
alten Pyramiden zurück, die ihre heiligsten Altäre sind.
In dem Maße, wie wir uns entfernen, scheinen die schwarzen
Löcher der Grabstätten uns gleich dem Auge des Todes zu
verfolgen. Indem die Könige ihren Begräbnisplatz so hoch
legten, wollten sie zweifellos bezwecken, daß ihr Schatten,
noch von der Schwelle der dunklen Pforte aus, mit
Herrscheraugen über das Land dahinschweben und immer von neuem
den Betenden Furcht einflößen könnte.
Um weiter vorzudringen, folgen wir zuerst einem schmalen
Bach, der eingeschachtelt und tief über Kieselsteine, durch
Schilf und Weiden dahinfließt; ein Streifen Grün liegt
halbversteckt in einem Spalt des Bodens, umgeben von den
dunklen Steinregionen. Und bald, nachdem wir die Grabstätte
alter Herrlichkeiten, nachdem wir auch das schattige kleine
Tal aus dem Auge verlieren, umgibt uns von neuem die gewohnte,
gleichmäßige Eintönigkeit: die baumlose Ebene, mit kurzen
Gräsern und blassen Blumen bewachsen, dehnt sich, zweitausend
Meter hoch gelegen, ruhig wie das Wasser eines Flusses
zwischen zwei Bergketten aus, die eine aschgraue, oder
vielmehr eine lederbraune Farbe, die Farbe des toten Tieres
zeigen.
Und in dieser Ebene reiten wir dahin, bis zur Stunde der
Dämmerung, bis es plötzlich ganz kalt wird.
Aber während die Sonne noch hoch am Himmel steht und ihre
sengenden Strahlen auf uns herniederwirft, sehen wir schon am
Ende der grünen Fläche das Dorf Ali-Abad liegen, wo wir zu
übernachten gedenken. Doch zahllose tückische Spalten
durchschneiden hier und dort die Ebene, die so leicht
erschien, gefährliche Risse im Boden, über die der Reiter
nicht hinwegsetzen kann, zwingen uns immer wieder, neue Umwege
zu machen; wir sind wie in einem Labyrinth gefangen, kommen
nicht von von der Stelle, und in diesen Schluchten liegen die
Leichnahme der Pferde, Esel oder Maultiere, wie sie der ewige
Durchzug der Karawanen dort hingesät hat, und bilden den
Sammelplatz der schwarzen Vögel. Ali-Abad sehen wir noch immer
sich in der gleichen Entfernung vor uns erheben, man könnte
sagen, es sei ein befestigtes Schloß aus dem Mittelalter:
dreißig Fuß hohe, mit Schießscharten und Türmen versehene
Mauern bilden den Schutzwall gegen die Nomaden und Panther.
Jetzt müssen wir einen Gießbach überschreiten, der durch
eine Schlucht dahinbraust. Bauern eilen zu unserer Hilfe
herbei, um uns die Furt zu zeigen, sie heben ihre blauen,
baumwollenen Kleider bis über den Gürtel auf, steigen in das
schäumende Wasser und wir folgen ihnen, auch unsere Pferde
werden bis an den Bauch durchnäßt. Endlich nähern wir uns
Ali-Abad; noch eine halbe Meile reiten wir an Friedhöfen,
eingestürzten Gräbern entlang; dann geht's an den Umzäunungen,
den Gärten, den Lehmmauern vorbei, über die das zitternde Laub
unserer heimatlichen Bäume herabhängt, Kirschen-, Aprikosen-,
Maulbeerbäume, alle schon tragen sie kleine grüne Früchte; und
schließlich erreichen wir das Eingangstor der Wälle, unter
dessen großen Spitzbogen alle Frauen sich aufgestellt haben,
um uns vorüberziehen zu sehen. Diese Warten, Mauern, diese
Zinnen, dieser ganze furchteinflößende Verteidigungsapparat,
dieses alles macht, in der Nähe besehen, den Eindruck eines
bloßen Festungsschattens, dies alles besteht nur aus Lehm,
hält sich nur wie durch ein Wunder aufrecht, genügt vielleicht
als Schutz gegen das Gewehrfeuer der Nomaden, wird aber bei
dem ersten Kanonenschuß wie ein Kartenhaus zusammenstürzen.
Die Frauen stehen dicht gegen die mit großen eisernen
Nägeln beschlagenen Türflügel gelehnt und beobachten uns, wie
wir im bunten Durcheinander mit einer Herde Ochsen an ihnen
vorüber zum Tor hineinziehen. Hier gibt es keine schwarzen
Gespenster mit weißen Masken mehr, die die Straßen Chiraz'
verdunkelten, die langen Schleier sind aus klarem Stoff, mit
Palmenzweigen oder altmodischen Blumen übersät, und bilden mit
ihren verblaßten Farben ein harmonisches Ganzes; man hält sie
mit der Hand gegen den Mund, um nur die Augen zu zeigen, aber
der Abendwind, der sich mit uns unter den Spitzbogengewölben
verliert, hebt ihn in die Höhe und mehr als ein Antlitz, mehr
als ein naives Lächeln können wir überraschen.
Die Karawanserei befindet sich an dem Tor selbst, und diese
fast ganz gleichmäßigen Löcher, unterhalb der Zinnen, mit
denen der Spitzbogen gekrönt ist, sind die Fenster unserer
Schlafräume. Wir klettern auf Lehmtreppen dort hinauf, gefolgt
von dem gefälligen Volk, man trägt uns unser Gepäck, schleppt
uns Krüge mit Wasser, Näpfe mit Milch herbei, bringt uns
Reisigbündel, um Feuer machen zu können. Und bald dürfen wir
uns an den hellflammenden Scheiten erwärmen, die den ganzen
Raum mit ihrem süßen Wohlgeruch erfüllen.
Zwischen den Wällen liegen zahllose Lehmdächer
nebeneinander gedrängt, sie bilden die innere Terrasse, von wo
aus man einen Überblick über das Dorf hat. Und auf diesen
Dächern treten jetzt alle Frauen, all die bescheidenen,
geblümten, verblaßten Schleier ihren gewohnten Spaziergang an;
sie können nicht in die Ferne sehen, die Damen Ali-Abads, denn
die sehr hohen Festungsmauern halten sie hier wie in einem
Gefängnis gefangen, aber sie betrachten sich gegenseitig und
unterhalten sich von einem Haus zum andern; in diesem
eingeschlossenen und verlorenen Dorf müßte die abendliche
Stunde im Freien besonders süß und reizvoll sein, und man
würde dieselbe noch länger ausdehnen, wenn es weniger kalt
wäre.
Der Gebetsausrufer singt. Und jetzt kehren die Herden heim.
So oft haben wir diesen dicht gedrängten, blökenden Einzug
gesehen, daß wir wirklich nicht wieder von neuem Gefallen
daran zu finden brauchten, aber hier an diesem engen Ort ist
er wirklich noch ganz besonders eigenartig: Durch das
spitzbogige Eingangstor bricht die lebende, schwarze Flut
herein, wie ein Fluß nach heftigen Regengüssen überschwemmt
sie das Land. Und sofort teilt sie sich in verschiedene kleine
Zweige, in kleine Bäche, die durch die engen Gäßchen laufen:
Jede Herde kennt ihr Haus, trennt sich von selbst und zögert
nicht; die Zicklein, die Lämmlein folgen ihrer Mama, die weiß,
wohin sie zu gehen hat, niemand täuscht sich, und sehr schnell
ist die Sache erledigt, das Geblöke schweigt, der Fluß der
schwarzen Schafe hat sich aufgelöst und läßt nur in der Luft
den Duft der Weiden zurück, all die kleinen artigen Tiere sind
heimgekehrt.
Und auch wir sehnen uns nach unserem Lager, nach dem Schlaf
unter dem eisigen Wind, der durch die Löcher unserer Mauern
streicht, und lenken deshalb unsere Schritte dem Hause zu.