Reise durch Persien

Reise durch Persien

1925 n.Chr.

Pierre Loti

Inhaltsverzeichnis

Fünfter Teil

Mittwoch, 23. Mai

Heute legen wir einen achtstündigen Weg durch die einsamste aller Einöden zurück. Abends wird vor einem armseligen Weiher haltgemacht; zehn kleine Lehmhäuser, denen ein heller Bach Leben zuträgt, einige winzige Kornfelder, ein Gebüsch von drei oder vier Maulbeerbäumen, über und über besät mit weißen Maulbeeren; das ist alles, soweit das Auge sieht im ganzen Umkreise, nichts als Wüste. Die Leute scheinen sehr arm zu sein, und wahrscheinlich ist der Ort ungesund, denn sie sehen leidend aus. In dem Loch, unserem Zimmer, haben die zutraulichen Schwalben mehrere Nester über dem Kamine gebaut; streckt man den Arm aus, so könnte man die Jungen erreichen, deren kleine Köpfe alle sichtbar sind.

Und wir kommen gerade an dem Tage an, als die Ältesten des Dorfes – etwa zehn vertrocknete alte Leute – bestimmt haben, ihre erste Maulbeerernte abzuhalten. Dies soll zur Stunde der Vesper, der Kalyan und des süßen Müßigganges vor sich gehen, zur Stunde, wo wir mit zwei oder drei Hirten in der Tür der verfallenen Herberge sitzen, und dem sanften Gemurmel des einzigen, herrlichen Flusses lauschen und die Sonne an dem weiten Horizont untertauchen sehen. Die wenigen Kinder sind alle zerlumpt und blaß, sie schließen einen Kreis um die verkrüppelten Maulbeerstämme, die man jetzt schütteln will, und diesmal leuchtet die Freude der Erwartung in ihren sonst so schwermütigen Augen auf. Bei jedem Stoß fällt ein Regen von Früchten auf den traurigen, harten Boden herab, und die Kleinen stürzen sich wie Sperlinge, denen man Körner hinstreut, darüber, während der magerste der Greise die allzugroßen Leckermäuler zurückhält und mit Strenge darüber wacht, daß die Teilung gleichmäßig geschieht. Diese Bäume sind der einzige Schatz im meilenweiten Umkreise; und höchstwahrscheinlich denkt man in dem einsamen Dorf wochenlang im voraus an die Ernte, die in der Dämmerstunde vor sich geht, die man sich für die langen Maienabende aufspart . . . Ist das Fest vorüber, so senkt sich die kalte Nacht herab, die Abgeschiedenheit macht sich noch fühlbarer. Diese kleine menschliche Ansiedlung kennt keine Mauern, wie sie die Oasen des Südens umgeben; die Tür zu unserer Herberge läßt sich nicht einmal schließen, und mit dem Revolver in der Hand schlafen wir ein.

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