Unterwegs
Montag, 23. April.
In diese kleine, niedrige, von Rauch geschwärzte Grotte, wo
wir wie tot daliegen, sickern schon lange die Sonnenstrahlen
durch Löcher und Mauerrisse hinein, ohne daß jemand von uns
sich gerührt hätte. Wie durch einen Nebel hören wir die uns
schon vertrauten Laute: in dem Hof den Lärm der aufbrechenden
Karawanen, die mit geschlossenem Munde ausgestoßenen Rufe der
Maultiertreiber, und auf den Mauern das Morgenständchen der
Schwalben, – das diesmal unzählige kleine Kehlen in jubelnder
Lebensfreude in die Lüfte schmettern. Wir aber liegen an
derselben Stelle, auf der wir gestern niederfielen, regungslos
ausgestreckt da, eine seltsame Erstarrung hält uns gefangen.
Aber nachdem wir endlich unsere Behausung verlassen haben,
erfüllt uns der erste Anblick, der sich uns bietet, mit
Bestürzung und Schwindel. Wir waren ja mitten in der Nacht
angekommen, und konnten deshalb etwas Derartiges nicht
vermuten. Die Luftschiffer, die nach einem nächtlichen
Aufstieg früh morgens erwachen, müssen eine ähnliche
überwältigende und fast erschreckende Überraschung empfinden.
In unserer Umgebung ist nichts, was die unendliche
Ausdehnung der Dinge unseren Blicken verbergen könnte. Wir
brauchen nur die Augen zu öffnen, um uns der schwindelnden
Höhe bewußt zu werden, zu der uns unser ansteigender Ritt
durch die vielen Hohlwege, an den vielen Schlünden vorbei, und
während so vieler Nächte, geführt hat; wir haben in einem
Adlernest geschlafen, denn wir beherrschen die Erde. Zu
unseren Füßen neigen sich ungezählte Gipfel – einst wurden sie
alle von den kosmischen Stürmen nach ein und derselben
Richtung gebeugt. Ein grelles, allbeherrschendes, ein
schreckliches Licht fällt von einem Himmel herab, der sich
noch nie zuvor so tief geoffenbart hat; es überflutet die
vielen sich neigenden Berge, und mit der gleichen
Deutlichkeit, so weit das Auge auch reicht, hebt es die
einzelnen Formen der Felsen, die ungeheuren Kämme hervor.
Zusammen, und von dieser Höhe aus gesehen, scheinen die
scharfen und wie vom Winde gebeugten Gipfel in ein und
derselben Richtung zu fliehen, sie gleichen einer riesengroßen
Welle, die auf ein Meer von Steinen gehoben ist, und so
täuschend ist diese Bewegung nachgeahmt, daß man sich fast von
so viel Ruhe und Schweigen verwirrt fühlt. – Aber seit
hundert, seit hunderttausenden von Jahren weht dieser Sturm
nicht mehr, braust er nicht mehr, ist er erstarrt. – Und
nirgends sieht man ein Zeichen von Leben, keine menschliche
Spur, nichts, was Wald oder Gras verkünden könnte, einsam
stehen die Felsen hier und herrschen, und wir schauen auf den
Tod herab, aber der Tod ist voller Liebe und Glanz . . .
Jetzt liegt die Festung schweigend da, die andern Karawanen
sind aufgebrochen, und sie erscheint fast ganz verlassen. In
einem Winkel des von Mauern umgegebenen Hofes, wo nur unser
Geschirr und Gepäck liegt, sitzen die Wächter der Festung,
zwei Männer in langen Kleidern, sie rauchen schweigend ihre
Kalyan, haben die Augen zu Boden gesenkt und sind
unempfänglich für diese erhabene Aussicht, die sie nicht mehr
zu sehen vermögen. Würden die Schwalben nicht singen, man
hörte in dieser großen, schallempfindlichen Leere nicht den
geringsten Laut.
Alles in dieser hochgelegenen Karawanserei ist derb, rauh
und verwittert; die bröckelnden Mauern sind fünf bis sechs Fuß
dick, die alten gespaltenen Türen haben Eisenbeschläge und
armdicke Riegel, sie erzählen von Belagerung und
Verteidigungen. – Außerdem befindet sich hier eine seltsame
Schwalbenstadt: an allen Dächern, allen Gesimsen entlang
bilden die sich aneinanderreihenden Nester wirkliche kleine
Straßen; sie sind alle fest verschlossen und haben nur eine
winzige Tür. Und da es die Jahreszeit des Ausbesserns, des
Brütens ist, sind die kleinen Tiere sehr beschäftigt, jedes
fliegt schnurgerade, ohne sich zu täuschen, in sein eigenes
Haus, – das nicht einmal mit einer Nummer versehen ist.
Die immer tote Mittagsstunde führt uns wilde Gesellen,
stark bewaffnete Reiter zu. Reisende, die im Vorübergehen in
der Festung haltmachen, um sich einen Augenblick im Schatten
auszuruhen und zu rauchen. Ganz in unserer Nähe unter den
Steinbogen lassen sie sich mit tiefen Verbeugungen nieder.
Schwarze Hüte, schwarze Bärte, dunkle assyrische Gesichter,
die der Wind der Berge gebräunt hat, lange, blaue Kleider, ein
Patronengürtel, der um die Hüften geschlungen ist. Sie riechen
nach wilden Tieren und nach Wüstenminze. Auf wunderbare
Teppiche, die sie unter den Sattel ihrer Pferde geschnallt
hatten, setzen oder legen sie sich; wie sie uns erzählen, sind
es die Frauen, die die Wolle also zu färben und zu weben
wissen, – die Frauen dieses hochgelegenen, ein wenig
phantastischen Chiraz, das wir wahrscheinlich morgen abend
endlich erreichen werden . . .
Und bald hüllt uns der einschläfernde Rauch der Kalyans ein
und steigt in die frischen reinen Lüfte der Gipfel. Mitten im
Hof, in dem leeren Viereck, das die Sonne überflutet,
schwirren die Schwalben hin und her, ihre kleinen schnellen
Schatten zeichnen Tausende von Hieroglyphen auf den weißen
Boden. Unter uns aber liegt immer noch der Schwindel der
Gipfel, die riesengroße, versteinerte Welle, die noch in
Bewegung zu sein, die noch zu fliehen scheint . . .
Um vier Uhr wollen wir aufbrechen, aber wo in aller Welt
ist Abbas? Er wollte unsere Tiere holen, die zwischen den
Felsen weideten, und er kommt nicht wieder zum Vorschein. Man
wird unruhig, alle meine Leute suchen in den verschiedensten
Richtungen den Berg ab; und ihre Rufe, ihre langen singenden
Rufe, die sich Antwort geben, stören das gewöhnliche Schweigen
der Gipfel. Endlich findet man ihn wieder, findet man Abbas,
den Verlorenen, wieder, er kommt von weitem heran und führt
ein Maultier, einen Flüchtling, mit sich. Um viereinhalb Uhr
wird der Aufbruch stattfinden können.
Ich hatte zu meiner Begleitung drei Soldaten verlangt, wozu
ich nach den Anordnungen des Oberhauptes von Bouchir
berechtigt war, aber da es hier in dieser Gegend keine gibt,
habe ich mich statt dessen mit drei Hirten aus der Umgegend
zufrieden erklärt, und jetzt führt man sie mir vor: Wilde
Gesichter, bis auf die Schultern herabfallendes Haar,
vollständige Räubertypen; zerlumpte Kleider aus wunderbar
stilvollen alten Stoffen, lange Steinschloßgewehre, an denen
ein Amulett hängt, der Gürtel gespickt von Hirschfängern.
Und in einer langen Reihe ziehen wir über Geröll, über
Pfade dahin, auf denen man sich den Hals brechen kann, ständig
begleitet von einer Herde Büffel, die uns fortwährend mit den
Hörnern streifen. In der seltsamen Klarheit des Raumes sieht
man auch in der Ferne alle Einzelheiten, das große Gewirr der
Berge und der Abgründe enthüllt sich unseren Blicken, breitet
sich fügsam vor uns aus. Hier und da in den Falten der großen
geologischen Risse, die die Abendsonne mit ihrem Rot sanft
färbt, schlafen die wunderbar blauen Flächen, die Seen. Wir
beherrschen alles, unsere Augen nehmen die Unendlichkeit auf,
wie es die Augen der hochkreisenden Adler tun, unsere Brust
weitet sich, um immer mehr von dieser reinen Luft einzuatmen.
Nachdem wir etwa fünfhundert Meter hinabgestiegen sind,
sehen wir plötzlich zur Stunde des Sonnenunterganges, eine
weite, grasbewachsene Ebene vor uns liegen, die in ihrer
Einförmigkeit dem Meere gleicht, und die von den senkrechten
Wänden der Gebirgsketten eingeschlossen wird. Das grüne Gras
ist mit schwarzen Punkten übersät, man könnte fast glauben,
zahllose Mückenschwärme hätten sich hier niedergelassen: es
sind die Nomaden! Ihr Geschrei dringt zu uns herauf. Zu
Tausenden liegen sie dort mit ihren ungezählten schwarzen
Zelten, ihren ungezählten Büffelherden, mit ihren schwarzen
Rindern und ihren schwarzen Ziegen. Und wir sollen mitten
durch diesen Schwarm hindurchreiten.
Wir gebrauchen anderthalb mühevolle Stunden, um diese Ebene
zu durchkreuzen, wo die Hufe der Tiere in die weiche, fette
Erde einsinken. Das Gras ist üppig, dicht; der Boden
heimtückisch, mit Wasserlachen und Sümpfen durchzogen. Und
unaufhörlich sind wir von Nomaden umringt, die Frauen eilen
scharenweise herbei, um uns zu sehen, und die jungen Leute
galoppieren auf Pferden, die wilden Tieren ähnlich sind, neben
uns her.
So reich dieser grüne Teppich, der sich in gleicher Pracht
nach allen Richtungen hin ausdehnt, auch sein mag, wie ist er
nur imstande, so zahllose Parasiten zu ernähren, die
ausschließlich von ihm leben, und deren Kauwerkzeuge in
ungezählter Menge ihn ohne Unterbrechung scheren? Das Wasser,
das diesen Pflanzenreichtum unterhält, das überfließende und
tückische, zwischen Schilf und zarten Gräsern verborgene
Wasser, quillt unter jedem unserer Schritte auf. Und plötzlich
fällt eins der Maultiere mit seiner Last zu Boden, seine
Vorderfüße sind bis zu den Knien in dem Schlamm eingesunken;
sofort stürzt eine Schar junger Nomaden in schwarzen Tunikas,
gleich einem Schwarm schwarzer Raben, der sich auf ein
sterbendes Tier niederläßt, mit lautem Geschrei heran, – aber
sie wollen uns nur zu Hilfe kommen; sehr schnell und geschickt
lösen sie die Zügel, befreien das gefallene Tier von seiner
Last und richten es wieder auf; ich brauche mich nur bei der
ganzen Runde zu bedanken und Silbermünzen auszuteilen, die sie
nicht einmal verlangt haben, und die sie nicht ohne einen
gewissen Stolz in Empfang nehmen. Und doch hatte man
behauptet, daß diese Leute bösartig und es gefährlich sei,
ihnen zu begegnen!
Es ist fast Nacht, als wir am Ende der feuchten grünen
Ebene den Fuß der himmelhohen, überhängenden Felswand
erreichen, aus der ein schäumender Fluß hervorspringt, den wir
durchwaten müssen; das Wasser geht den Pferden bis an die
Brust. In einer Vertiefung liegt ein Dorf verborgen, eng
schmiegt es sich an den steilen Berg, ein Dorf, ganz aus
Steinen erbaut, mit Wällen, Zinnen und Türmen; alles Sachen,
die man kaum unterscheiden könnte, – so plötzlich dunkel ist
es unter dem Vorsprung dieser schreckeneinflößenden Felsen, –
wenn nicht rot aufflackernde Freudenfeuer die Häuser, die
Moschee, die Zinnen erleuchteten. Im Kreise um diese Feuer
spielen die Dudelsäcke, schlagen die Trommeln, und man hört
auch den grellen Schrei der Frauen; eine große Hochzeit wird
hier gefeiert.
Jetzt müssen wir unsere Begleiter wechseln, die drei
bewaffneten Hirten, die wir in Myan-Kotal aus dem Adlerhorst
mitgenommen haben, werden gegen drei andere Männer vertauscht;
diese aber – Leute von der Hochzeitsgesellschaft – müssen an
den Haaren herbeigeschleift werden, bevor sie sich dazu
bequemen, aufzusitzen. Und es ist schwarze Nacht, als wir uns
endlich, wenigstens für vier Stunden Weges, in einen dunklen
Wald begeben.
Hier ist es kalt, wirklich kalt, was wir nicht genügend
vorgesehen hatten, und bei unserer leichten Bekleidung wird
uns frieren. Zwei unserer neuen Hüter benutzen dies dunkle
Dickicht, um kehrtzumachen und zu verschwinden. Ein einziger
bleibt bei uns, er reitet neben mir und wird uns sicher treu
bis zu der Etappe begleiten. Dieser Wald ist unheimlich,
übrigens auch übel berüchtigt; unsere Leute sprechen kein Wort
und sehen sich oft um: die alten, zu dieser Stunde ganz
schwarzen Bäume, mit ihren verkümmerten, verkrüppelten Formen,
bilden zwischen den Felsen seltsame Gruppen; bei dem
unbestimmten Licht der Sterne folgen wir den schwankenden
Pfaden, die sich weißlich auf dem grauen Boden abzeichnen: wir
reiten durch traurige Lichtungen, und tauchen wir von neuem im
Walde unter, so erscheint uns dies noch furchterweckender;
überall gibt es Schlupfwinkel und manch einen günstigen
Hinterhalt.
Um zehn Uhr hören wir plötzlich ein Geräusch: Reiter, die
nicht zu uns gehören, traben hinter uns her und scheinen uns
zu verfolgen. Wir halten an, wir fassen sie ins Auge. Und dann
erkennen wir sie an der Stimme; es sind dieselben Reisenden,
die gestern abend unsere Gefährten waren. Warum hatten sie
sich den ganzen Tag unsichtbar gemacht, und woher tauchen sie
jetzt auf? Trotzdem nehmen wir wie gestern ihre Begleitung an.
Um Mitternacht verlassen wir den Wald und reiten in eine
Steppe hinein, die endlos zu sein scheint, und wo ein eisiger
Wind uns entgegenweht. Etwas sehr Weißes liegt auf dem Boden
ausgebreitet. Sind es steinerne Tafeln, sind es große Tücher?
– Ach, es ist Schnee, überall weiß beschneite Flächen.
Endlich haben wir die Hochländer Asiens erreicht, seit
sieben Tagen klettern wir zu ihnen hinan. Diese Steppe scheint
in den Himmel überzugehen, der wie ein schwarzer Ballen Seide
aussieht, und auf dem die großen Sterne fast ohne Strahlen
glänzen, als läge zwischen ihnen und uns kaum jenes sehr
luftförmige, sehr durchsichtige Etwas. Unsere Füße und Hände
sind vor Kälte erstarrt, trotzdem überfällt uns nach all den
vielen Anstrengungen der letzten Nächte ein unbezwingbares
Schlafbedürfnis, zum erstenmal seit unserer Abreise haben wir
wirkliche Leiden zu ertragen, jeden Augenblick entfallen die
Zügel den erstarrten Fingern, die sich, gegen unseren Willen,
als seien sie abgestorben, von selbst öffnen.
Ein Uhr morgens. Ganz empfindungslos und fast erfroren,
müssen wir wohl zu Pferde geschlafen haben, denn wir sahen die
Karawanserei nicht auftauchen, und trotzdem ist sie ganz nahe,
ragt unmittelbar vor uns auf, ein befestigtes Schloß könnte
man sie nennen, mit Türmen geschmückte Mauern, ganz verlassen
in dieser öden Einsamkeit gelegen, ruft sie den Eindruck von
etwas riesenhaft Phantastischem hervor. Rings umher auf der
Steppe liegen Hunderte von grauen Gestalten, sie gleichen
einem Wald großer Steine, aber unbestimmt hört man das
Geräusch des Atmens, riecht das Leben: es sind schlafende
Kamele und Kamelhüter, die sich, in Decken eingehüllt,
zwischen den unzähligen Warenballen ausgestreckt haben. Zwei
oder drei Karawanenstraßen kreuzen sich am Fuße dieser
befestigten Karawanserei; hier ist scheinbar ein ewiges Kommen
und Gehen; im Innern wird alles überfüllt sein. Indessen
öffnet man uns die eisenbeschlagenen Türen, die unter den
Schlägen des schweren Klopfers laut widerhallen: wir treten in
den Hof ein, wo Tiere und Leute durcheinander, wie auf dem
Schlachtfelde nach einer Niederlage zusammengewürfelt liegen;
und noch schneller als gestern fallen wir dem Schlaf in die
Arme, strecken uns ohne Rangunterschied im Hintergründe einer
Lehmhütte aus, unbekümmert um das Gewühl, den Schmutz, um das
sehr wahrscheinliche Ungeziefer.