8. Edris oder Enoch
Zu seiner Zeit verehrten die Menschen schon das Feuer, und
er ward gesandt als Prophet, dieselben zum wahren Dienste
Gottes zu belehren. Er las ihnen die Bücher vor, welche Adam
und Seth vom Himmel erhalten hatten, und schrieb selbst mehr
als dreißig zusammen. Bis auf ihn hatten sich die Menschen in
Tierhäute gekleidet, er lehrte sie zuerst wollene Kleider
weben, und nähen. Er verfertigte für die ganze Welt Röcke, und
Kaftane, und betete bei alledem Tag und Nacht ohn' Unterlass,
ja einmal brach er sich zehn Jahre lang den Schlaf ab.
Deswegen liebten ihn die Engel Gottes, und sogar Israel, der
Todesengel, verliebte sich in ihn, und wohnte lange Zeit
unerkannt mit ihm.
Als er sich nun zu erkennen gab, sagte Edris: Bist du
gekommen, meine Seele zu fordern? – Nein – nimm sie immer –
das darf ich nicht ohne Befehl des Herrn. – Lieber Todesengel,
so erwirke mir die Gnade vom Herrn, daß ich sterben, und
wieder lebendig werden möge. Meines ersten Lebens bin ich
satt, vielleicht wird mirs im zweiten besser. Israfel trug des
treuen Dieners Bitte dem Herrn vor, er starb, und wachte
wieder zum Leben auf, und die innige Freundschaft mit Israel
ging ihren Gang fort. Lieber Todesengel, du hast mir Muth zum
Bitten eingeflößt, tu mir die Freundschaft, und lass mir das
Paradies sehen. – Dazu muss ich die Erlaubnis vom Herrn
einholen, und Gott der Herr erteilte die Erlaubnis. Sie kamen
miteinander an die Thore des Paradieses, vor denen der
Cherubim Riswan die Wache hält. Kein Einlass hier für[31]
sterbliche Menschen vor dem Tode, rief er ihnen entgegen; sie
beriefen sich auf die Erlaubnis des Herrn aber Riswan hatte
noch kein Einlassbillet erhalten, Auch dieses kam, und Edris
lustwandelte nach Gefallen zwischen den Lauben des Paradieses.
Der Hüter des Paradieses, wiewohl ein Cherubim, ist doch nicht
weniger lässig, als die Hüter anderer Gärten. Hinaus, hinaus,
rief er, die Zeit ist längst vorbei, und zog den Propheten
beim Kleide über die Schwelle des Paradieses fort. Noch Eines
hab ich darin vergessen, rief Edris, und sprang zurück, denn
in der Tat hatte es ihm darin so gut gefallen, dass er nicht
mehr heraus wollte. Da legte Riswan Hand an, ihn mit Gewalt
hinauszuwerfen. Wie so? rief Edris, das mir! mir, einem
Propheten, einem Gottgesandten Seher! Wie schickt sich dies
für einen Cherubim, wie dich? Nun erscholl die Stimme des
Herrn, lass ihn, o Riswan! meinen getreuen Diener verweilen
nach Gefallen. Edris blieb im Paradiese, und ist seitdem noch
stets darinnen. So hat er durch Andacht und Fleiß Gnade vor
dem Herrn gefunden, durch Freundschaft dem Todesengel das
Leben, und durch Beharrlichkeit dem Cherubim des Paradieses
den Aufenthalt darinnen abgewonnen.