150. Ein Juwelenhändler
Ein Juwelenhändler hatte für einen König einen kostbaren
Edelstein im Auslande erkauft, und reiste nun damit der
Residenz zu. Vier andere Reisende gesellten sich auf dem Wege
zu ihm, und einer davon stahl das Kleinod. Der Juwelenhändler
gab sogleich bei seiner Ankunft dem Wesir hievon Kunde, und
dieser ließ die vier Reisenden auf die Folter spannen, ohne
dass er hierdurch den Täter entdecken konnte. Im Hareme des
Königs war ein Mädchen von großem Geist und vieler
Beurteilungskraft. Sie sah den König traurig an, ob des
Kleinods Verlust, und erbot sich, den Täter aufzufinden, wenn
man ihr die vier Reisenden überlassen wollte. Dies geschah.
Sie ließ ihnen die Ketten abnehmen, gab ihnen zu essen und zu
trinken, und hieß sie guter Dinge sein. Als ihnen der Wein ein
wenig zu Kopfe gestiegen, und die Zunge gelöst war, sprach
sie: Ich will euch eine Geschichte erzählen, über die ich mir
euer Urteil erbitte. Der Fall ist verwickelt und schwierig.
In einem alten Königreiche bestand ein altes Gesetz, dass,
wer einer Prinzessin eine Rose darbrachte, von ihr begehren
konnte, was er wollte. Ob die Seltenheit der Rosen, oder ein
anderer verborgener Grund zu diesem Gesetze Anlass gegeben,
weiß ich nicht zu sagen; genug es bestand. Einem Gärtnerjungen
wollte das Glück, dass er eine Rose brach, und dieselbe der
Prinzessin, die sich eben im Garten befand, darbringen konnte.
Die Prinzessin war von gutherziger Natur, was ihr am Kopfe
abging, ersetzte das Herz. Sie war zu gut, als dass sie eine
Bitte hätte abschlagen, zu gewissenhaft, als dass sie eine
Zusage hätte unerfüllt lassen sollen.
Der Gärtnerjunge begehrte von der Prinzessin dasjenige,
was, wie die arabische Redensart sagt, die Männer insgemein
begehren von den Frauen, und was diese niemals abschlagen,
wenn sie lieben. – Vielleicht liebte die Prinzessin den
schönen Gärtnerjungen; aber wenn auch nicht, so verbot ihr das
Gesetz, dem Darbringer einer Rose seine Bitte abzuschlagen.
Kurz, sie versprach ihm die Gewährung derselben, sobald sie
verehliget sein würde; und wenige Monate nach ihrer Ehe
entdeckte sie ihrem Gemahle, zu was sie sich gegen den
Gärtnerjungen verpflichtet hätte. Der Gemahl war großmütig
oder gewissenhaft genug, seiner Frau die Erlaubnis zu geben,
ihre Zusage zu erfüllen. Sie machte sich auf den Weg, und fand
denselben bald versperrt durch einen Löwen. Sie grüßte ihn,
und erzählte ihm umständlich den Beweggrund ihrer Reise. Der
Löwe hatte ein viel zu zartes Gewissen, als die Schuld der
Nichterfüllung eines feierlichen Versprechens auf sich zu
laden; er ließ sie gehen. – Sie war nicht weit fortgegangen,
als ihr eine Stimme: Halt! wohin? – entgegen donnerte. Es war
ein Räuber; der, von dem Glanze ihrer Edelsteine angelockt,
sie ausziehen wollte. Die Prinzessin erzählte ihm ebenfalls,
wie sie nur in jenen Garten hinginge, um dem Gärtnerjungen
Wort zu halten; wenn sie ihr Versprechen erfüllt, möge er sie
ausziehen, nur nicht zuvor. Der Räuber ließ sie ziehen, aus
Achtung für's gegebene Wort. Nun kam sie zum Gärtnerjungen,
der ganz erstaunt war, sie zu sehen, denn er hatte schon
längst sein Begehren und ihr Versprechen vergessen. Er fiel
ihr zu Füßen, bat um seine vormalige Unverschämtheit um
Verzeihung, und schwor, er kenne zu gut die Schranken seiner
Pflicht, als dass er die Güte der Prinzessin missbrauchen
wolle. Sie ging und kam zum Räuber, dem sie erzählte, was ihr
geschehen, und sich seiner Diskretion überließ. Der Räuber,
erbaut durch das großmütige Beispiel des Gärtnerjungen, machte
sich ein Gewissen daraus, die Prinzessin zu berühren, und hieß
sie weiter geben. Sie ging und kam zum Löwen, dem sie
ebenfalls getreuen Bericht abstattete. Ich will nicht, sprach
der Löwe, vom Gärtnerjungen und vom Räuber übertroffen werden
an Hoheit der Gesinnungen; ziehe freien Weges.
Nun frag' ich euch: wer war der großmütigste von diesen
vieren? Der Mann, der so gelassen die Erlaubnis gab, zur
Erfüllung eines so sonderbaren Versprechens, oder der Gärtner,
der sich freiwillig seiner Rechte begab, oder der Räuber, oder
der Löwe, so die Prinzessin ungehindert passieren ließen?
Jeder von den vier Reisenden entschied für einen andern.
Das Mädchen hinterbrachte dem König den Erfolg ihrer
Untersuchung und sprach: Wer dem Manne den Vorzug gibt, kennt
nicht was Eifersucht ist; wer sich für den Gärtner
entscheidet, liebt gewiss etwas anders als Mädchen; der
Verteidiger des Löwen ist von harter, wilder Natur, und wer
dem Räuber den Kranz zuwarf, hat gewiss das Kleinod gestohlen.
Die Sache ward näher untersucht, und der scharfsinnige
Ausspruch des Mädchens bewährt.