152. Es lebte einmal
Es lebte einmal, gleichviel wann und wo, ein tugendhafter
Mann, der ob des geduldigen Ausharrens in Unglücksfällen
allgemein unter dem Namen Geduldvater bekannt war. Er klagte
nie über sein Schicksal, und hatte beständig die zwei Worte im
Munde: Die Geduld siegt, und die Geduld ist der Schlüssel des
Vergnügens. Einmal richtete ein Löwe gewaltiges Unheil unter
den Herden an. Die Einwohner des Orts kamen zu Geduldvater,
sich Raths zu erholen. Lass uns ausziehen, sprachen sie, den
Löwen zu erschlagen. Habt Geduld, sprach er, der Herr wird uns
von selbst davon befreien. Nach einigen Tagen zog die Jagd des
Königs durch das Land, und erlegte den Löwen.
Statt des Löwen bedrängte das Land nun ein tyrannischer
Statthalter, dem Gut und Blut des Volks ein Spiel war. Er ward
von einigen Verschwornen umgebracht. Die andern Einwohner
gingen zu Geduldvater, und baten ihn, sich mit ihnen beim
König zu verwenden, damit er ihnen zur Strafe keine Truppen
einlege, welche das Land verheeren würden. Tut, was ihr wollt,
sprach Geduldvater, ich meines Teils warte ruhig die Dinge ab,
die da kommen werden. Die Truppen kamen, die Schuldigen
flohen, die Unschuldigen wurden eingefangen; Geduldvater ward
mit Vorwürfen überhäuft, die ihn jedoch nicht bewegen konnten,
das Geringste in seinem angenommenen Systeme zu ändern. Die
Eingebrachten verteidigten vor dem König ihre Unschuld. – Aber
warum seid ihr nicht eher gekommen, wenn ihr unschuldig wart?
– Weil ein tugendhafter Mann, Namens Geduldvater, uns
ermahnte, ruhig zu bleiben, und unsere Beschwerde nicht
vorzubringen. – Dieser Geduldvater scheint ein Narr zu sein,
sprach der König. Geht nach Hause, und verbannt ihn aus dem
Dorfe, damit er Gelegenheit habe, seine Geduld zu bewähren.
Geduldvater musste seinen Herd verlassen mit Weib und Kinder.
Die letzten wurden ihm auf dem Wege von Räubern entführt. Die
Mutter weinte; was nützt Weinen und Klagen? Alles wird
leichter durch Geduld; Geduld bringt Rosen, sagte Geduldvater.
Das Weib setzte sich nieder; Geduldvater ging ins Dorf, ein
Mittagsmahl zu besorgen. In diesem Augenblicke kam ein Reiter,
der sein Weib davon führte. Sie bat und weinte, es war
umsonst. Nur so viel hatte sie damit gewonnen, dass sie, was
ihr begegnet, mit dem Finger in den Sand schreiben konnte.
Geduldvater kam zurück, und las die Sandzeitung. Er hätte
verzweifeln mögen; allein er ermannte sich, indem er Geduld!
Geduld! ausrief. Duld, duld, antwortete der Widerhall. In der
nächsten Stadt, wohin er kam, herrschte ein despotischer
Fürst, der sein Land schwer mit Fronen drückte, und alle
Fremde zu Bauarbeiten anhielt.
Geduldvater wurde, gleich andern, zum Mörteltragen, und
Lehmschlagen verwendet. Ein armer Gefangener fiel vor seinen
Augen von einer Leiter herunter. – Großer Gott! schrie er,
befreie mich vom Übermaße meines Leidens. Habe Geduld! und der
Herr wird dich befreien, sprach Geduldvater. Der König, der
das Gespräch angehört hatte, ward darüber erbost. – Ich will
dir zeigen, sprach er, wer der Befreier ist, der Himmel oder
ich, und ob deine Geduld dir nützen wird. Er schenkte dem
Gefangenen auf der Stelle die Freiheit, Geduldvater ward statt
seiner in Fesseln geschlagen, und in den Kerker geworfen.
Nicht lange hernach fiel der Tyrann, ein Opfer der
öffentlichen Rache. Er hatte einen Bruder gehabt, von der
Natur mit herrlichen Gaben ausgestattet. Er hatte ihn längst
aus dem Wege geräumt, und das Gerücht unter das Volk gebracht,
dass er ihn im Kerker bewahre. Geduldvater hatte in den Augen
der Gefängniswärter seine Stelle vertreten müssen. Das Volk
zerschlug die Pforten des Gefängnisses, und Geduldvater, der
für den Prinzen gehalten ward, musste den Thron besteigen. Er
fand sein Weib und seine Kinder wieder, bestrafte die
Schuldigen, und bewährte auf diese Art die Vortrefflichkeit
der Geduld.