59. Harun Raschid befahl
Harun Raschid befahl einst zu ungewöhnlicher Stunde die
Pferde vorzuführen. Wo willst du hin, Herr, zu dieser Stunde?
fragte ihn Mesrur, der[96] Vorsteher des Harems. – In die
Wohnung Ibrahim's von Moßul. – Herr, rief Ibrahim, der zu
seinem Empfange herbeieilte, was führet dich zu dieser Stunde
in die Wohnung deines Sklaven? – Die Sehnsucht nach deiner
Gesellschaft, antwortete Harun. – Herr, befiehlst du Speise
und Trank, Musik und Sang? Soll ich singen, oder meine
Sklavinnen? – Setze uns auf, was du hast, und dein Harem soll
Musik machen. – Wie befiehlst du Herr, in Chören oder einzeln?
– Je zwei und zwei sollen spielen, und eine dazu singen. Es
spielten also zwei Mädchen auf der Laute, und die dritte sang:
Wenn Sie, wie ich, mit Innbrunst liebte,
Und ich, wie Sie, gleichgültig bliebe,
Wir wären Beide Ungeübte:
Im Kaltsinn Ich, Sie in der Liebe.
Hierauf sang eine Andere:
Meinst du die Straße zu ermessen,
Die in das Land der Liebe führt?
Du musst zuerst dich selbst vergessen,
Eh' dir Genuss zum Lohne wird.
Eine Dritte endlich sang ein Paar Verse des Dichters Ebinuwas.
Harun Raschid gefiel sich ungemein in ihrem Gesange, und
trank während des Anhörens so manchen Rotl Wein. Er ließ die
Sklavin kommen, deren Gesang ihm am meisten gefallen hatte,
und unterhielt sich mit ihr einige Zeit lang. Dann rief er
Ibrahim von Moßul, und fragte ihn, womit er ihm diese
Unterhaltung belohnen könne? Wenig fehlte, dass der Chalife
sich vor seinem Künstler verbeugt hätte aus Erkenntlichkeit
und Vergnügen. Er machte ihm eine seiner besten Sängerinnen,
Ulia, die Tochter Mahadis, zum Geschenke; Ebi Nuwas sang von
dieser:
Es dunkelt die Nacht; hoch wie die Tanne
Steht Allia vor mir mit goldner Kanne.
Aus ihrem Munde fließt Speichel, rein
Wie aus der Kanne perlenheller Wein.
Der Liebe ist's gegönnet aufzutischen,
Was Mund und Kanne süß und lieblich mischen.
Der Glanz, der aus des Weines Fluten bricht,
Wird abgespiegelt in dem Angesicht,
Das Wasser sammelt sich in hellen Tränen,
Doch löscht es nicht die Glut des heißen Sehnen.
Es mische denn der seligste Verein
Im Hochgenuss das Wasser zu dem Wein.