75. Zur Zeit, als Harun Raschid ...
Zur Zeit, als Harun Raschid seine Pilgerschaft zu Mekka
verrichtete, gab er den Befehl, dass zur Stunde, wo er
siebenmal den Umgang ums heilige Haus verrichten würde, die
Thore geschlossen, und Jedermann entfernt bleiben sollte.
Ungeachtet der Wachsamkeit des Türhüters hatte sich doch ein
Araber hinein gestohlen, und ging unmittelbar vor dem Chalifen
einher. Dieser erzürnte sich, und befahl dem Türhüter, diesen
Mann hinaus zu schaffen. Aber der Araber fragte: mit welchem
Recht? – Vor den Augen des Herrn find Fürst und Diener gleich,
so steht's im heiligen Buche geschrieben. Der Chalife, der
dies in Acht genommen, sagte zum Türhüter: lass ihn gehen; und
so ging er denn ungestört vor dem Chalifen her, verrichtete
vor ihm den siebenmaligen Umgang, küsste vor ihm den heiligen
Stein, verrichtete vor ihm das Pilgergebet.
Nachdem der Chalife seine Andacht vollendet hatte, befahl
er dem Türhüter, ihm den Araber vorzuführen. Der Türhüter ging
den Araber an, und dieser sprach: Wie so! ich bedarf des
Chalifen nicht, wenn er meiner bedarf, so steht ihm der Weg
offen. Der Chalife stand auf, ging auf ihn zu, und sprach:
Bruder Araber! erlaubest du mir, mich hier neben dich
niederzusetzen? – Ich habe nichts zu erlauben, antwortete er,
dies ist nicht mein, sondern Gottes Haus. Der Chalife, der
sich einer solchen Antwort nicht versehen hatte, setzte sich
neben ihm nieder und sprach: Bruder Araber, ich will dich über
deine Religionspflichten ausfragen; kannst du mir darüber Red'
und Antwort geben, so bist du ein wackerer Mann, wenn nicht,
so habe ich wahrlich keine große Meinung von dir. Schon gut,
antwortete der Araber, nur sage mir vorerst: fragst du mich,
um zu lernen, oder mich zu belehren? – Um zu lernen. – Nun, so
fetze dich zuerst in die Stellung eines lernenden Schülers.
Der Chalife bequemte sich dazu, kniete auf seine Beine nieder
und sprach; Was ist deine Religionspflicht? Der Araber
entgegnete: um welche fragst du? um die eine, um die fünf, um
die vierzig? Harun lächelte und sprach: ich habe dir eine
einzige Frage gestellt, und du kömmst mir mit einer Rechnung
angezogen, ohne doch meine Frage zu beantworten. – Auf
Rechnung kömmt alles an, sagte der Araber. Hast du nie auf die
Rechnung gedacht, die du deinem Herrn am Tage des Gerichts
ablegen wirst? Weißt du nicht, dass an jenem Tage auch jedes
Senfkörnlein guter und böser Werke in den fürchterlichen
Schalen der Gerichtswaage gewogen wird? – Der Chalife geriet
in Zorn, aber er fühlte, dass Gottes Schutz über dem Araber
walte; dennoch sprach er: Höre, Araber, wenn du mir, was du da
sagtest, kommentierest, so kömmst du mit heiler Haut davon,
sonst lass ich dir den Kopf abschlagen. Als der Türhüter
dieses Wort des Zornes hörte, fing er an, den Chalifen zu
flehen, dass er das Leben dieses Mannes, der Heiligkeit des
Ortes wegen, schonen möge. Da lachte der Araber so stark auf,
dass er sich auf den Rücken bäumte: Bey Gott, ihr seid ein
wunderbares Paar, und es ist schwer zu entscheiden, wer von
euch Beiden der Unvernünftigere ist; der Türhüter, der die
Stunde des von Ewigkeit her bestimmten Todes verschieben will,
wenn sie gekommen, oder du, der du dir einbildest, dass dein
Befehl sie beschleunigen könne, wenn sie noch nicht gekommen.
Dem Chalifen ward es ruhiger um's Herz, und er sagte:
Erkläre mir denn die Rechnung der Religionspflichten. Der
Araber sprach: Fragst du nur um eine, so ist's die Bekenntnis
des Islam's. Um fünf: das fünfmalige Gebet in vier und zwanzig
Stunden. Um siebzehn: die siebzehn Beugungen und Stellungen
des Körpers bei jedem Gebet. Um vier und dreißig: die vier und
dreißig Anbetungen jedes Gebetes. Um fünf und achtzig: die
fünf und achtzigmalige Wiederholung des Allah Ekber. Um eins
von vierzig: das gesetzmäßige Almosen. Harun's Geringschätzung
ward durch diese Antworten in wahre Hochachtung für den Araber
verwandelt. Der Araber fuhr fort: Du hast mich ausgefragt, nun
ist die Reihe an mir. Löse mir diese Aufgabe auf: Ein Mann
schaut ein Weib mit Sonnenaufgang an, und das Anschauen ist
ihm dann gesetzlich verboten. Um Mittag schaut er sie wieder,
und das Anschaun ist ihm dann gesetzlich erlaubt. Am selben
Nachmittag ist ihm das Anschaun gesetzlich verboten, und mit
Sonnenuntergang wieder erlaubt. In der Nacht verbietet ihm das
Gesetz, das Weib zu beschauen, und am Morgen erteilt es hierzu
die Erlaubnis. Um Mittag ist's abermals verboten, Nachmittags
wieder erlaubt. Mit Sonnenuntergang erneuet sich der Verbot,
und um Mitternacht die Erlaubnis.
Bey Gott! antwortete der Chalife, auf diesem Meere kann
mich nur deine Weisheit steuern. Löse selbst deine Aufgabe. –
Mit vielem Vergnügen. Ein Mann schaut mit Sonnenaufgang eines
andern Sklavin; dann ist ihm das Anschaun derselben gesetzlich
verboten. Um Mittag kauft er sie, dann ist ihm das Anschaun
gesetzlich erlaubt. Nachmittags spricht er sie frei, da darf
er sie nach dem Gesetze nicht anschauen, was er mit
Sonnenuntergang tun mag, wo er sich mit ihr vermählet. In der
Nacht scheidet er sich von ihr, und hat also kein Recht mehr,
seine Augen auf sie zu heften, bis er sie mit Sonnenaufgang
wieder als sein gesetzmäßiges Weib anerkennet. Um Mittag zankt
er sich mit ihr, und trennt sich von ihr mit Groll in dem
Herzen. In diesem Falle verbietet das Gesetz, sie anzuschauen,
erlaubt es ihm aber wieder, sobald er sich Nachmittags mit ihr
ausgesöhnt hat. Mit Sonnenuntergang verleugnet er den Islam,
und darf sein rechtgläubiges Weib nach dem Gesetze nicht
anschauen; aber um Mitternacht, wo er den Glauben wieder
annimmt, tritt er auch in seine vorigen Rechte wieder ein.
Dem Chalifen gefiel diese Auflösung unendlich. Er befahl,
dem Araber tausend Dukaten auszuzahlen. Dieser aber nahm sie
nicht an, sondern gab sich dem Chalifen zu erkennen. Es war
Mußa Rasi, der Sohn Dschafer Sadiks, Sohn Mohammed's, Sohn
Hasan's, Sohn Alis, des vierten Chalifen.