76. Harun Raschid ging einst ...
Harun Raschid ging einst mit seinem Wesir Dschafer, dem
Sohne Barmeks, spazieren. Sie begegneten einer Schaar von
Mädchen, die Wasser trugen. Die Mädchen wichen ihnen aus. Der
Chalife aber mit seinem Begleiter gieng auf sie zu, und
begehrte einen Trunk Wasser. Da improvisierte eine von ihnen
die folgenden Verse:
Höre mein Wort: es kam mein Lieber,
(Freundlich blinkten die Sternelein)
Dass er Kühlung auf mich gösse,
Dass er lösche mein heiß Gebein.
Wie von Sinnen sprach sein Liebchen
Aus dem Bette voll Liebespein:
Einstens werd' ich dies erfahren,
Dir verkünden im Herzverein.
Der Chalife bewunderte diesen Ausbruch leidenschaftlicher
Beredsamkeit, und fragte das Mädchen: Sind die Worte dein,
oder gehören sie einem andern Dichter? – Sie sind mein. –
Wenn's so ist, so singe mir dieselben noch einmal, mit
veränderten Reimen; und sie sang:
Höre mein Wort: es kam mein Lieber
An mein Lager in stiller Nacht,
Dass er Ruhe auf mich gösse,
Dass er lösche der Flammen Macht.
Wie von Sinnen, sprach sein Liebchen
Auf dem Bette, von Schmerz umwacht:
Einstens werd' ich dies erfahren,
Wenn du Liebe mir zugedacht.
Harun fragte: ist der letzte Vers dein, oder gestohlen? –
Herr! er ist mein. – Wenn es so ist, bring' mir denselben
Gedanken in andere Reime; sie sang:
Höre mein Wort: es kam mein Lieber,
Als auf Erden die Nacht gefußt,
Dass er Labung auf mich gösse,
Dass er lösche die Glut der Brust.
Wie von Sinnen, sprach sein Liebchen
Aus dem Bette, des Grams bewusst:
Einstens werd' ich dies erfahren,
Und genießen der Liebe Lust.
Harun sagte: der letzte Vers ist gestohlen. Er ist mein,
Herr, erwiderte das Mädchen. – Wenn es so ist, lass mich
dasselbe in andern Reimen hören, und sie sang:
Höre mein Wort: es war mein Lieber
In der Nacht ans Bett gelehnt,
Dass er Lindrung auf mich gösse,
Gluthenkühlung, so heiß ersehnt.
Wie von Sinnen, sprach sein Liebchen
Aus dem Bette, das Aug' betränt:
Einstens werd' ich dies erfahren,
Des Genusses mit dir gewöhnt.
Woher bist du? fragte der Chalife. Aus dem Stamme, dessen
Zelten weit, und dessen Säulen hoch stehn. Harun verstand,
dass sie einem der edelsten Stämme angehöre. Dann fragte das
Mädchen: welche Herde er weide? Harun antwortete: die Herde
der Wolken. Da küsste das Mädchen die Erde, und grüßte ihn als
Fürst der Rechtgläubigen. Er kehrte nach dem Palaste, hatte
aber keine Ruhe, bis er sie zur Gemahlin genommen hatte.