97. Ibrahim, der Sohn Mahadi's lebte
Ibrahim, der Sohn Mahadi's lebte nach erhaltener Verzeihung
Mamuns beständig am Hofe des Chalifen. Eines Tages, als er in
den Gassen von Bagdad allein herumstrich, erblickte er an
einem halbaufgemachten Fenster eine kleine, weiße, runde,
allerliebste Hand, in die er auf der Stelle sterblich verliebt
ward. Nun sann er auf eine List, sich ins Haus hineinzustehlen.
Er fragte beim Nachbarn um den Namen des Hausherrn, und auch
um den Namen zweier Gäste, die eben ankamen, um an einem
Feste, zu dem sie geladen waren, Anteil zu nehmen.
Ibrahim grüßte sie ganz unbefangen, und, indem er um ihr
Befinden fragte, ging er mit ihnen ins Haus. Der Gastgeber
glaubte, der Fremde sei ein Freund seiner Freunde, grüßte ihn
als solchen, wies ihm den Ehrenplatz an, und überhäufte ihn
mit Bezeugungen von Aufmerksamkeit, sowohl am Tische, als im
Gesellschaftssaale, wohin man sich nach aufgehobener Tafel
begab.
Eine Sklavin, schön wie der volle Mond, kam mit einer Laute
in der Hand und sang:
Liebend hangen meine Augen
An dem schönsten Ideal,
Ach! ich fürchte, dass sie saugen
Blut aus Ihrem Schönheitsmahl.
Ohne Sie zu sehn und kennen,
Gib ich ihr mein Herz als Pfand.
Ach! um ewig zu entbrennen,
Ist genug die schöne Hand.
Ibrahim, dem diese Worte aus der Seele gesungen waren,
konnte sein Entzücken nicht bergen. Indessen war die Sängerin
keineswegs die Schönheit, deren kleine, weiße, runde,
allerliebste Hand einen so tiefen Eindruck auf sein Herz
gemacht hatte. Er dachte, dass die Sängerin ihn vermutlich
beobachtet haben müsse, als er auf der Gasse, versunken in
Liebe zur kleinen, weißen, runden, allerliebsten Hand,
unbeweglich nach dem Fenster hinstarrte, und dass sie diesen
Umstand glücklich benutzte, um die schönen Verse zu
improvisieren, welche durch den Zauber ihrer Stimme und der
Laute gehoben, alle Zuhörer zur einstimmigen Bewunderung
hinrissen. Ibrahim, der selbst ein sehr guter Tonkünstler war,
nahm die Laute, und entlockte derselben melodische Töne,
welche Seelen und Geister raubten. Der Hausherr, entzückt über
das Talent seines neuen Bekannten, bat ihn, allein
zurückzubleiben, nachdem sich die Gäste nach Hause begeben
haben würden. Als sie allein waren, fragte ihn der Hausherr um
seinen Namen, und hörte nicht auf, in ihn zu dringen, bis er
sich ihm zu erkennen gegeben. Träume ich, oder wache ich, rief
der Hausherr; welches unerwartete Glück für mich, mein Prinz!
Wenn Sie mich würdigen, den Rest der Nacht mit mir
zuzubringen, so will ich Alles aufbieten, Ihnen dieselbe so
angenehm zu machen, als in meinen Kräften steht. – Ibrahim
dankte ihm für seine Güte, und in der Folge der Unterredung
erzählte er ihm die Begebenheit mit der kleinen, weißen,
runden, allerliebsten Hand. Der Hausherr klatschte dreimal in
die Hände, wandte sich dann gegen die Seite, wo der Vorhang
des Harems war, und rief: Kleidet Euch an, und kommt heraus. –
Alsbald erschienen vierzig Schönen, in dem reichsten Schmucke.
Eine nach der andern ließ ein Paar Hände sehen, je eines
schöner als das andere, und deren natürliche Schönheit durch
den Glanz der Diamanten, Smaragden, und Rubinen, womit sie
beringet waren, ungemein erhöhet ward. Aber die kleine, weiße,
runde, allerliebste Hand, die das Herz Ibrahims erobert hatte,
war nicht darunter. Er teilte diese für ihn so traurige
Entdeckung dem Herrn des Hauses mit. – Mein ganzes Harem,
sprach er, hat die Musterung[206] passiert, nur meine
Schwester ist zurückgeblieben; sie soll aber also gleich
kommen. Sie kam, das war die Schönheit mit der kleinen,
weißen, runden, allerliebsten Hand, in die Ibrahim sich so
sterblich verliebt hatte. Sogleich wurden zehn Zeugen gerufen,
in deren Gegenwart der Hausherr seine Schwester als Frau
verschrieb an Ibrahim, den Sohn Mahadi's, mit einem
Heiratsgüte von zwanzigtausend Dirhems.
Diese von Ibrahim dem Chalifen Mamun zu rechter Zeit
erzählte Geschichte rettete einem jungen Menschen das Leben,
der ein mit zehn Passagieren bemanntes Schiff in der Meinung
bestiegen hatte, dass sie zu irgend einem Feste führen, an dem
er ungeladen Teil zu nehmen hoffte. Diese Leute waren Räuber,
welche gefangen vor den Chalifen gebracht und zum Tode
verurteilt wurden. Der junge Mensch, der sich als Parasite
angab, hätte keinen Glauben gefunden, wenn nicht Ibrahim dem
Chalifen aus eigener Erfahrung erzählt hätte, dass solche
Stückchen nichts Ungewöhnliches seien. Der Chalife verzieh dem
jungen Menschen, und es fand sich, dass es der Sohn war von
Ibrahim, und der Dame mit der kleinen, weißen, runden,
allerliebsten Hand.