Offensichtliche Bodenschätze
Was die offensichtlichen Bodenschätze –
wie etwa Salz und Erdöl – betrifft, so gehören sie nach der in
der Rechtswissenschaft [fiqh] vorherrschenden Ansicht
zum gemeinschaftlichen Besitz aller Menschen. Der Islam
gesteht keinem Einzelnen das Recht zu, sie für sich allein zu
beanspruchen und sich als Privateigentum anzueignen, denn sie
gehören nach islamischen Maßstäben zum Bereich des “Eigentums
der Gemeinschaft“ und unterliegen diesem Prinzip. Den
Einzelnen ist es nur erlaubt, ihren persönlichen Bedarf an
diesen mineralischen Reichtümern zu decken, ohne den
ausschließlichen Anspruch darauf zu erheben oder sich deren
natürliche Lagerstätte anzueignen. Auf dieser Grundlage wird
es zum alleinigen Recht des Staates – bzw. des Imam, als dem
verantwortlichen Befehlshaber
[wali-ul-amr] der Menschen, denen diese natürlichen
Reichtümer als gemeinschaftliches Eigentum gehören – sie in
dem Maße auszubeuten, wie es ihm mit den zur Verfügung
stehenden materiellen Voraussetzungen für Produktion und
Förderung möglich ist, und ihren Ertrag im Dienste der
Allgemeinheit zu verwenden. Dagegen sind private Unternehmen,
mit denen Einzelpersonen die Ausbeutung von Bodenschätzen
monopolisieren, definitiv verboten! Selbst wenn solche
Unternehmen die Ausgrabungen und sonstige Arbeiten
durchführen, um die Bodenschätze in den Tiefen der Erde zu
entdecken und zu gewinnen, haben sie nicht das Recht, sich
Lagerstätten anzueignen und aus dem Bereich des
gemeinschaftlichen Eigentums herauszunehmen, vielmehr ist es
lediglich jedem “Ein-Mann-Unternehmen“ gestattet, den
persönlichen Bedarf der jeweiligen Einzelperson an dem
mineralischen Rohstoff zu decken. Allama al-Hilli schreibt in
“Tadhkira“ zur Erläuterung dieses gesetzgeberischen Prinzips
hinsichtlich der offensichtlichen Bodenschätze, nachdem er
viele Beispiele für solche angeführt hat: „Kein Einzelner
kann sich diese Bodenschätze durch Erschließung und
Förderungsarbeit aneignen, auch wenn er die gesamte
Lagerstätte zugänglich macht.“
Mit der Lagerstätte meint er die Erdschicht, die diesen
Bodenschatz enthält. Es ist dem Einzelnen also nicht erlaubt,
sich diese Bodenschätze anzueignen, auch wenn er so tief
gräbt, bis er z.B. zu den Ölquellen, d.h. der Schicht in den
Tiefen der Erde, die den Bodenschatz enthält, vordringt. Und
er schreibt weiterhin in den “Qawa´id“ im Zusammenhang mit der
Erörterung der offensichtlichen Bodenschätze Folgendes: „Es
gibt zwei Kategorien von Bodenschätzen, offensichtliche und
verborgene. Für die offensichtliche Kategorie, d.h. solche,
die zur Nutzbarmachung keinen zusätzlichen Arbeitsaufwand
erfordern, wie Salz, Erdöl, Schwefel, Erdwachs, Antimon, Ton
Edelsteine, usw. ... ist festgesetzt, dass alle Muslime daran
Anteil haben sollen, dass sie also nicht durch Erschließung
der Lagerstätte angeeignet werden können, dass sie nicht
demjenigen, der sich an einer Lagerstätte etabliert, gehören,
dass es nicht zulässig ist, Konzessionen dafür zu vergeben,
und dass sie nicht dem Konzessionär gehören. Wer zuerst an
einem Fundort solcher Bodenschätze eintrifft, soll nicht
belästigt werden, bis er seinen Bedarf gedeckt hat, und wenn
zwei gleichzeitig eintreffen, soll gelost werden, falls sie
nicht gemeinsam arbeiten können. Es ist auch möglich, die
Plätze aufzuteilen oder dem Bedürftigeren den Vortritt zu
lassen.“
Auf das Prinzip des gemeinschaftlichen
Eigentums und die Nichtzulässigkeit des privaten Eigentums an
offensichtlichen Bodenschätzen weisen noch viele andere Werke
der Rechtswissenschaft [fiqh], wie “al-Mabsut“, “al-Muhadhdhab“,
“al-Sara´ir“, “Al-Tahrir“, “al-Durus“, “al-Lum´a“ und
“al-Rawda“ ausdrücklich hin.
In den Büchern “Dschami´al-Schara´i“ und “al-Idah“ heißt es: „Sollte
sich eine Person mehr zu nehmen versuchen, als ihrem Bedarf
entspricht, dann wird sie daran gehindert.“
Und in den Büchern “al-Mabsut“, “al-Sara´ir“, “al-Sara´i“,
“al-Irschad“ und “al-Lum´a“ finden sich Bestätigungen dieses
Verbotes, denn in den besagten Quellen heißt es: „Wer
zuerst kommt, darf sich so viel nehmen, wie er benötigt.“
Allama al-Hilli schreibt in “Tadhkira“: „Dies ist die
Meinung der meisten Anhänger unserer Rechtsschule [madhhab],
wobei sie uns nicht erläutert haben, ob es sich um den Bedarf
eines Tages oder den eines Jahres handelt.“
Damit will er sagen: Die Rechtsgelehrten verbieten die
Entnahme von mehr Bodenschätzen aus einer Lagerstätte durch
eine Person, als es dem jeweiligen persönlichen Bedarf
entspricht, wobei sie nicht definiert haben, ob mit “dem
Bedarf“, dessen Entnahme zulässig ist, der Bedarf eines Tages
oder eines Jahres gemeint ist. Mit diesen Aussagen bestätigt
das islamische Recht [scharia]
mit unmissverständlicher Deutlichkeit, dass die Ausbeutung
jener natürlichen Reichtümer in größerem Umfang durch
Einzelpersonen nicht zulässig ist. Und aus dem Buch “Nihayat
al-Muhtadsch ila Scharh al-Minhadsch“ geht hervor, dass die
offensichtlichen Bodenschätze, d.h. diejenigen, die ohne
weitere Behandlung gebrauchsfertig sind, wie Erdöl oder
Schwefel, nicht angeeignet werden dürfen, dass an diesen weder
durch Etablierung an der Lagerstätte noch durch
Konzessionierung Ansprüche begründet werden, und dass, wenn
der Fundort begrenzt ist, derjenige, der zuerst kommt,
vorgezogen wird, und sich so viel nehmen darf, wie er
benötigt; sollte er aber mehr verlangen, dann sei es am
besten, ihn daran zu hindern.
Und al-Schafi´i schreibt zur Erläuterung des Urteils des
islamischen Rechts [scharia] über
offensichtliche Bodenschätze: „Es gibt im Prinzip zwei
Klassen von Bodenschätzen: Zum einen solche, die wie das Salz
in den Bergen gebrauchsfertig vorhanden sind, so dass die
Menschen sich davon nehmen können: An diesen kann niemand
irgendwelche Konzessionen erwerben, und alle Menschen haben
legitime Rechte daran, genauso wie an dem offenen Wasser und
an den Pflanzen, die auf Land wachsen, das niemandem gehört.
So ersuchte ein gewisser al-Abyad ibn Hammal den Propheten
Muhammad (s.), ihm eine Konzession für die Salzlagerstätte von
Ma´rib zu erteilen, und der Prophet erteilte sie ihm, oder er
beabsichtigte dieses. Da wurde ihm gesagt: 'Es verhält sich
hierbei aber wie mit dem reichlich vorhandenen Wasser.' Darauf
sagte der Prophet (s.): 'Dann erteile ich die Konzession
nicht.' Weiter im Zitat von al-Schafi´i:
Das gleiche gilt für alle Lagerstätten von offensichtlichen
Bodenschätzen, wie von Erdöl oder Teer oder Schwefel oder
Erdwachs oder von offensichtlichen Gesteinen usw., sie
gleichen sich in dieser Hinsicht, denn an diesen haben alle
Menschen, wie am Wasser und am Weideland, gleich Rechte.“
Und al-Mawardi schreibt in seinem Werk “al-Ahkam al-Sultaniya“
zum Thema der offensichtlichen Bodenschätze: „Als
offensichtlich gelten solche Bodenschätze, bei denen die darin
enthaltene Substanz deutlich hervortritt, wie Antimon, Salz,
Teer und Erdöl. Bei diesen verhält es sich so wie mit dem
Wasser, dessen Konzessionierung nicht zulässig ist, und an dem
alle Menschen ein gleiches Anrecht haben, so dass sich jeder
davon nehmen darf, der an der Fundstätte eintrifft ... Selbst
wenn solche offensichtliche Bodenschätze einzelnen Personen
zugeteilt werden, ist diese Konzessionierung nicht rechtlich
relevant, so dass der Konzessionär die gleichen Rechte hat,
wie jeder andere auch, und alle an der Lagerstätte
Eintreffenden daran beteiligt werden. Wenn sie aber der
Konzessionär daran hindert, dann handelt er ungesetzlich.“
Gemäß den von uns angeführten Schriften
der Rechtswissenschaft [fiqh] unterliegen also die
offensichtlichen Bodenschätze dem Prinzip des “Eigentums der
Gemeinschaft“. Hierbei unterscheidet sich das
gemeinschaftliche Eigentum von dem an den in kultiviertem
Zustand eroberten Ländereien, welche bereits besprochen wurde,
denn das gemeinschaftliche Eigentum an solchem Land entsteht
als Folge einer politischen Handlung, welche die Umma
ausführt, nämlich der Eroberung. Es wurde für keinen anderen
Zweck erobert, daher wird es zum gemeinschaftlichen Eigentum
der islamischen Umma allein. Dagegen haben auf die besagten
Bodenschätze alle Menschen ein gleiches Anrecht, was sich aus
vielen Werken der Rechtswissenschaft [fiqh] entnehmen
lässt, in denen das Wort “Mensch“ anstelle des Wortes “Muslim“
verwendet wird, wie in den Büchern “al-Mabsut“, “al-Muhadhdhab“,
“al-Wasila“, “al-Schara´ir“ und “al-Umm“. Nach Ansicht der
Verfasser dieser Werke besteht also kein Grund, die
Bodenschätze allein den Muslimen vorzubehalten, sie sind also
gemeinschaftliches Eigentum der Muslime und aller, die unter
deren Obhut leben.