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Unsere Wirtschaft / Iqtisaduna

Muhammad Baqir al-Sadr

Auferlegung unveränderlicher Steuern

Dieses sind die Almosen [zakat] und die Fünftelabgabe [chums]. Diese beiden finanziellen Verpflichtungen des muslimischen Gläubigen wurden nicht nur vorgeschrieben, um die Grundbedürfnisse ihrer Nutznießer zu befriedigen, sondern sie wurden auch vorgeschrieben, um prinzipiell die Armut zu beheben, und die Armen auf einen Lebensstandard anzuheben, der dem der Reichen vergleichbar ist, und damit das soziale Gleichgewicht, so wie es der Islam versteht, zu verwirklichen. Als rechtlicher Beleg für den Zusammenhang dieser Steuern mit Zwecken des sozialen Ausgleichs und für die Möglichkeit ihrer Verwendung in diesem Sinn seien die folgenden Zitate angeführt:

a) Ishaq ibn Ammar überliefert: „Ich fragte Imam Dschafar ibn Muhammad al-Sadiq (a.): 'Kann ich einem Mann von den Almosen [zakat] Hundert geben?' Er sagte: 'Ja!' Ich fragte: 'Zweihundert?' Er sagte: 'Ja!' Ich fragte: 'Dreihundert?' Er sagte: 'Ja!' Ich fragte: 'Fünfhundert?' Er sagte: 'Ja, bis du ihn reich gemacht hast!'“ [1]

b) Abd ar-Rahman ibn Hadschadsch überliefert: „Ich fragte Imam Musa ibn Dschafar, ob ein Mann, den sein Vater, sein Onkel und sein Bruder ausreichend versorgen können, von den Almosen [zakat] etwas bekommen darf, so dass er reichlich versorgt ist, falls seine Verwandten ihm nicht zur Verfügung stellen, was er benötigt. Darauf sagte der Imam (a.): 'Dagegen ist nichts einzuwenden.'“ [2]

c) Sama´a überliefert: „Ich fragte Imam Dschafar ibn Muhammad al-Sadiq, ob ein Besitzer von Haus und Diener Almosen [zakat] beziehen dürfe. Darauf sagte der Imam (a.): 'Ja!'[3]

d) Abu Baschir überliefert, wie Imam Dschafar al-Sadiq (a.) von dem Fall sprach, dass jemand zur Zahlung von Almosen [zakat] verpflichtet sein kann, ohne selbst wohlhabend zu sein, und sagte: „Er sorgt damit für Nahrung und Kleidung seiner Angehörigen, und hebt etwas davon auf, um es anderen Personen zu geben. Und was er selbst als Almosen [zakat] bekommt, das soll er an seine Angehörigen verteilen, bis er ihnen Anschluss an den Lebensstandard der Allgemeinheit verschafft.[4]

e) Ishaq ibn Ammar überliefert: „Ich fragte Imam al-Sadiq: 'Kann ich einem Man von den Almosen [zakat] achtzig Dirhams geben?' Er sagte: 'Ja, und noch mehr!' Ich fragte: 'Kann ich ihm Hundert geben?' Er sagte: 'Ja, mache ihn frei von Mangel, wenn du dazu in der Lage bist!'“ [5]

f) Muawiya ibn Wahb überliefert: „Ich sagte zu Imam al-Sadiq: 'Vom Propheten Muhammad wird überliefert, er habe gesagt, dass dem Reichen und dem Leistungsfähigen der Empfang von Spenden [sadaka] nicht erlaubt sei.' Dazu sagte der Imam (a.): 'Dies ist dem Reichen nicht erlaubt.'“[6]

g) Abu Baschir überliefert: „Ich erzählte Imam Dschafar al-Sadiq von einem alten Mann von unseren Zeitgenossen namens Umar, der, weil er bedürftig war, einen gewissen Isa ibn Ayan um Almosen [zakat] gebeten hatte. Darauf hatte ihm Isa ibn Ayan gesagt: 'Ich habe zwar Almosen [zakat] in meinem Besitz, aber ich gebe dir nichts davon, denn ich habe gesehen, dass du Fleisch und Datteln gekauft hast!' Dazu hatte Umar gesagt: 'Ich erhielt einen Dirham, für ein Drittel davon kaufte ich Fleisch, für ein weiteres Drittel Datteln, und ein Drittel verwendete ich für sonstigen Bedarf.' (Und nach der Überlieferung soll der Imam (a.), nachdem er die Geschichte von Umar und Isa ibn Ayan gehört hatte, eine Stunde lang seine Hand auf die Stirn gelegt haben, dann erhob er seinen Kopf) und sagte: 'Allah der Erhabene macht Vorschriften hinsichtlich der Vermögen der Reichen, und er traf Vorsorge für den Lebensunterhalt der Armen und bestimmt von den Vermögen der Reichen einen Anteil, der für sie ausreicht. Und falls dieser nicht ausreichen sollte, soll ihnen mehr gegeben werden, nämlich genug für sie, um zu essen und zutrinken, sich zu kleiden, zu heiraten, Almosen zu geben, und die Pilgerfahrt [hadsch] zu vollziehen.'“[7]

h) Hammad ibn Isa überliefert, dass Imam Musa ibn Dschafar (a.) zum Thema des Anteils der Waisen, der Armen und des “Reisenden“ an der Fünftelabgabe [chums] gesagt hat: „Der Befehlshaber teilt ihnen nach den Vorschriften von Qur´an und Verfahrensweise [sunna] soviel davon zu, dass sie ein Jahr lang damit auskommen, und wenn dann noch etwas übrig ist, dann fällt es an die Staatskasse. Und wenn er sie nicht ausreichend versorgen kann, dann muss er aus der Staatskasse soviel aufwenden, dass sie damit auskommen.“[8]

Ibn Qudama zitiert al-Maymuni mit den Worten: „Ich fragte Abu Abdullah (Imam al-Sadiq), ob ein Mann, dem Kamele und Schafe gehören, für die er selbst die Almosen [zakat] zahlen muss, möglicherweise als “arm“ gelten könne, und ob jemand, dem vierzig Schafe und ein Stück Land gehören, ohne dass es für seinen Lebensunterhalt ausreicht, die Spende [sadaka] zugeteilt werden könne. Er bejahte, und zitierte den Ausspruch des Kalifen Umar: 'Gebt ihnen von den Almosen, selbst wenn da und dort Kamele von ihnen wandern!' Und er sagte, nach der Überlieferung des Muhammad ibn al-Hakam kann jemand Land besitzen und verpachten, oder ein Stück Land besitzen, das Zehntausend oder weniger oder mehr wert ist, und dennoch etwas von den Almosen zugeteilt bekommen, falls es nicht für seinen Lebensunterhalt ausreicht. Dies ist auch die Auffassung von al-Schafi´i.“ [9]

Ibn Qudama selbst erklärt dieses Zitat mit den Worten: „ ... denn 'Armut' bedeutet Bedürftigkeit und 'Reichtum' deren Gegenteil. Wer also bedürftig ist, gilt als 'arm', und für ihn gilt diese Textquelle. Und wer genug hat, für den gelten solche Textquellen, die die Zuteilung von Almosen [zakat] an 'Reiche' verbieten.“ [10]

Die zitierten Texte ordnen jeweils an, dem Einzelnen Empfänger so lange die Almosen [zakat] oder dergleichen zuzuteilen, bis er Anschluss an den Lebensstandard der Allgemeinheit findet, bzw. bis er nach islamischem Verständnis “reich“ wird, oder um seine primären und sekundären Bedürfnisse, wie Essen und Trinken, Kleidung, Heirat, Almosengeben und die Möglichkeit zur Pilgerfahrt [hadsch] zu befriedigen, wenn es in den Textquellen auch unterschiedlich formuliert wird. Sie alle propagieren ein gemeinsames Ziel, nämlich die Verbreitung von “Reichtum“, so wie ihn der Islam versteht, und die Schaffung einer sozialen Ausgeglichenheit im Lebensstandard. In diesem Sinne können wir den jeweiligen Begriffsinhalt von “reich“ und “arm“ im Islam in allgemeiner Form definieren: “Arm“ ist derjenige, der sich nicht selbst einen Lebensstandard verschafft, welches es ihm ermöglicht, seine dringenden und seine weitergehenden Bedürfnisse in einer Weise zu befriedigen, wie es der Reichtum des Landes normalerweise jedem Einzelnen erlauben würde. Oder mit anderen Worten: “Arm“ ist derjenige, dessen Lebensstandard sich wesentlich von dem Lebensstandard der Reichen in der islamischen Gesellschaft unterscheidet, und “reich“ ist derjenige, dessen Lebensstandard diesem nicht wesentlich nachsteht, und der ohne Schwierigkeiten seine dringenden und seine weitergehenden Bedürfnisse in einer Weise befriedigen kann, die dem Reichtum des Landes und dem Grad seiner materiellen Fortgeschrittenheit angemessen ist, ob ihm nun große Reichtümer gehören, oder nicht. Damit erkennen wir, dass der Islam der “Armut“ keinen absoluten Begriffsinhalt gibt, der unter allen Umständen und Bedingungen unverändert bleiben würde. Er sagt z.B. nicht, Armut sei die Unfähigkeit, die eigenen Grundbedürfnisse auf einfache Weise zu befriedigen, sondern er gibt der Armut die Bedeutung des Zurückbleibens hinter dem Lebensstandard der Allgemeinheit, wie es in einem der zitierten Texte heißt. Und in dem Maße, wie sich der allgemeine Lebensstandard erhöht, erweitert sich die reale Bedeutung von “Armut“, denn das Zurückbleiben hinter der Erhöhung des allgemeinen Lebensstandards gilt dann als “Armut“. Wenn es z.B. als Ergebnis der Verbreitung von Zivilisation in einem Land üblich geworden ist, dass jede Familie ein eigenes Haus bewohnt, dann ist es eine Art von Armut, wenn eine Familie kein eigenes Haus bewohnt, während dies nicht als Armut zu gelten hätte, wenn das Land nicht diesen Grad von Wohlstand und Prosperität erreicht hat. Diese Flexibilität des Begriffes von Armut steht im Zusammenhang mit dem Konzept des sozialen Gleichgewichtes. Denn wenn der Islam – stattdessen – der “Armut“ einen unveränderlichen Begriffsinhalt gegeben hätte, etwa den der Unfähigkeit, die eigenen Grundbedürfnisse auf einfache Weise zu befriedigen, und die Almosen [zakat] und vergleichbare Abgaben dafür vorgesehen hätte, die in diesem unveränderlichen Sinn verstandene Armut zu beheben, dann ließe sich mit diesem Mittel nicht auf seine soziale Ausgeglichenheit im Lebensstandard hinarbeiten, und die Kluft zwischen dem Lebensstandard der vor der Almosen [zakat] abhängigen Person und dem allgemeinen Lebensstandard der Reichen, welcher sich zusammen mit der zivilisatorischen Entwicklung eines Landes und der Vermehrung von dessen Gesamtreichtum kontinuierlich erhöht, würde sich vertiefen. Mithin wird dadurch, dass der “Armut“ und dem “Reichtum“ jeweils flexible Begriffsinhalte gegeben werden, und das System der Almosenabgabe [zakat] und ähnlichen Abgaben sich an diesem flexiblen Begriffsinhalt orientiert, gewährleistet, dass die Almosenabgaben [zakat] und dergleichen im Sinne des allgemeinen sozialen Gleichgewichts verwendet werden kann. Es ist auch nicht befremdlich, dass einem Begriff, von dem eine gesetzliche Bestimmung abhängt, ein flexibler Inhalt gegeben wird, wie das bei der “Armut“, mit der die Almosenabgabe [zakat] zusammenhängt, der Fall ist, und es bedeutet keine jeweilige Veränderung der gesetzlichen Bestimmung, sondern es handelt sich um eine unveränderliche Bestimmung im Zusammenhang mit einem bestimmten Begriffsinhalt, und die Veränderung betrifft in Wirklichkeit nur diesen Begriff, entsprechend den jeweiligen Umständen.

Ähnlich verhält es sich z.B. mit dem Begriff der “Medizin“. So bestimmt das islamische Recht [scharia], dass die Muslime kollektiv verpflichtet sind, sich Kenntnisse “der Medizin“ anzueignen, und diese Verpflichtung ist eine unveränderliche Bestimmung im Zusammenhang mit einem bestimmten Begriff, nämlich der Medizin. Was aber ist genau unter “Medizin“ zu verstehen, und was bedeutet das “Erlernen der Medizin?“. Das “Erlernen der Medizin“ bedeutet, sich diejenigen speziellen Kenntnisse über die Krankheiten und die Methoden ihrer Behandlung anzueignen, die unter den gegebenen Voraussetzungen zur Verfügung stehen, wobei diese speziellen Kenntnisse im Laufe der Zeit zunehmen, entsprechend der Weiterentwicklung der Wissenschaft und der vermehrten Erfahrung. So gilt das Fachwissen von einst heute nicht mehr als besonderes Wissen, und es genügt für einen heutigen Arzt nicht, die Kenntnisse der Ärzte zur Zeit des Propheten Muhammad (s.) zu beherrschen, um Allahs Gebot, die Medizin zu erlernen, gerecht zu werden. Die Wandelbarkeit des Begriffsinhaltes bedeutet also keine Veränderung der gesetzlichen Bestimmungen, und wenn ein heutiger Arzt sich von einem Arzt zur Zeit des Propheten (s.) unterscheidet, so ist es nur natürlich, dass auch ein heutiger “Armer“ nach dem Verständnis des Islam etwas anderes ist, als ein “Armer“ im Zeitalter des Propheten (s.).

[1] “Al-Wasa´il“ des al-Hurr al-Amili, Band 6, Seite 180

[2] “Al-Wasa´il“ des al-Hurr al-Amili, Band 6, Seite 163

[3] “Al-Wasa´il“ des al-Hurr al-Amili, Band 6, Seite 161

[4] “Al-Wasa´il“ des al-Hurr al-Amili, Band 6, Seite 159

[5] “Al-Wasa´il“ des al-Hurr al-Amili, Band 6, Seite 179

[6] “Al-Wasa´il“ des al-Hurr al-Amili, Band 6, Seite 159

[7] “Al-Wasa´il“ des al-Hurr al-Amili, Band 6, Seite 201 – Es ist anzunehmen, dass diese Texte so zu verstehen sind, dass sie die Zuteilung der Almosen [zakat] an eine Person innerhalb des Rahmens zu erlauben beabsichtigt, in welchem er als “arm“ gelten kann, und nicht als Zuteilung des “Anteils für den Reisenden“. Daher können sie uns den islamischen Begriffsinhalt von “dem Armen“ vermitteln (Fußnote des Autors).

[8] “Usul“ des “al-Kafi“ von Muhammad ibn Yakup al-Kulaini, Band 1, Seite 540

[9] “Al-Mugni“ von ibn Qudama, Band 2, Seite 554

[10] “Al-Mugni“ von ibn Qudama, Band 2, Seite 553

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