Auferlegung unveränderlicher Steuern
Dieses sind die
Almosen [zakat]
und die Fünftelabgabe [chums]. Diese beiden
finanziellen Verpflichtungen des muslimischen Gläubigen wurden
nicht nur vorgeschrieben, um die Grundbedürfnisse ihrer
Nutznießer zu befriedigen, sondern sie wurden auch
vorgeschrieben, um prinzipiell die Armut zu beheben, und die
Armen auf einen Lebensstandard anzuheben, der dem der Reichen
vergleichbar ist, und damit das soziale Gleichgewicht, so wie
es der Islam versteht, zu verwirklichen. Als rechtlicher Beleg
für den Zusammenhang dieser Steuern mit Zwecken des sozialen
Ausgleichs und für die Möglichkeit ihrer Verwendung in diesem
Sinn seien die folgenden Zitate angeführt:
a) Ishaq ibn Ammar überliefert: „Ich
fragte Imam Dschafar ibn Muhammad al-Sadiq (a.): 'Kann ich
einem Mann von den
Almosen [zakat]
Hundert geben?' Er sagte: 'Ja!' Ich fragte: 'Zweihundert?' Er
sagte: 'Ja!' Ich fragte: 'Dreihundert?' Er sagte: 'Ja!' Ich
fragte: 'Fünfhundert?' Er sagte: 'Ja, bis du ihn reich gemacht
hast!'“
b) Abd ar-Rahman ibn Hadschadsch
überliefert: „Ich fragte Imam Musa ibn Dschafar, ob ein
Mann, den sein Vater, sein Onkel und sein Bruder ausreichend
versorgen können, von den
Almosen [zakat]
etwas bekommen darf, so dass er reichlich versorgt ist, falls
seine Verwandten ihm nicht zur Verfügung stellen, was er
benötigt. Darauf sagte der Imam (a.): 'Dagegen ist nichts
einzuwenden.'“
c) Sama´a überliefert: „Ich fragte
Imam Dschafar ibn Muhammad al-Sadiq, ob ein Besitzer von Haus
und Diener
Almosen [zakat] beziehen dürfe. Darauf sagte der Imam (a.):
'Ja!'“
d) Abu Baschir überliefert, wie Imam
Dschafar al-Sadiq (a.) von dem Fall sprach, dass jemand zur
Zahlung von
Almosen [zakat] verpflichtet sein kann, ohne selbst
wohlhabend zu sein, und sagte: „Er sorgt damit für Nahrung
und Kleidung seiner Angehörigen, und hebt etwas davon auf, um
es anderen Personen zu geben. Und was er selbst als Almosen [zakat]
bekommt, das soll er an seine Angehörigen verteilen, bis er
ihnen Anschluss an den Lebensstandard der Allgemeinheit
verschafft.“
e) Ishaq ibn Ammar überliefert: „Ich
fragte Imam al-Sadiq: 'Kann ich einem Man von den
Almosen [zakat]
achtzig Dirhams geben?' Er sagte: 'Ja, und noch mehr!' Ich
fragte: 'Kann ich ihm Hundert geben?' Er sagte: 'Ja, mache ihn
frei von Mangel, wenn du dazu in der Lage bist!'“
f) Muawiya ibn Wahb überliefert: „Ich
sagte zu Imam al-Sadiq: 'Vom Propheten Muhammad wird
überliefert, er habe gesagt, dass dem Reichen und dem
Leistungsfähigen der Empfang von
Spenden [sadaka]
nicht erlaubt sei.' Dazu sagte der Imam (a.): 'Dies ist dem
Reichen nicht erlaubt.'“
g) Abu Baschir überliefert: „Ich
erzählte Imam Dschafar al-Sadiq von einem alten Mann von
unseren Zeitgenossen namens Umar, der, weil er bedürftig war,
einen gewissen Isa ibn Ayan um Almosen [zakat] gebeten hatte.
Darauf hatte ihm Isa ibn Ayan gesagt: 'Ich habe zwar Almosen [zakat]
in meinem Besitz, aber ich gebe dir nichts davon, denn ich
habe gesehen, dass du Fleisch und Datteln gekauft hast!' Dazu
hatte Umar gesagt: 'Ich erhielt einen Dirham, für ein Drittel
davon kaufte ich Fleisch, für ein weiteres Drittel Datteln,
und ein Drittel verwendete ich für sonstigen Bedarf.' (Und
nach der Überlieferung soll der Imam (a.), nachdem er die
Geschichte von Umar und Isa ibn Ayan gehört hatte, eine Stunde
lang seine Hand auf die Stirn gelegt haben, dann erhob er
seinen Kopf) und sagte: 'Allah der Erhabene macht
Vorschriften hinsichtlich der Vermögen der Reichen, und er
traf Vorsorge für den Lebensunterhalt der Armen und bestimmt
von den Vermögen der Reichen einen Anteil, der für sie
ausreicht. Und falls dieser nicht ausreichen sollte, soll
ihnen mehr gegeben werden, nämlich genug für sie, um zu essen
und zutrinken, sich zu kleiden, zu heiraten, Almosen zu geben,
und die Pilgerfahrt [hadsch] zu vollziehen.'“
h) Hammad ibn Isa überliefert, dass Imam
Musa ibn Dschafar (a.) zum Thema des Anteils der Waisen, der
Armen und des “Reisenden“ an der
Fünftelabgabe [chums]
gesagt hat: „Der
Befehlshaber
teilt ihnen nach den Vorschriften von Qur´an und
Verfahrensweise [sunna] soviel davon zu, dass sie ein Jahr
lang damit auskommen, und wenn dann noch etwas übrig ist, dann
fällt es an die Staatskasse. Und wenn er sie nicht ausreichend
versorgen kann, dann muss er aus der Staatskasse soviel
aufwenden, dass sie damit auskommen.“
Ibn Qudama zitiert al-Maymuni mit den
Worten: „Ich fragte Abu Abdullah (Imam al-Sadiq), ob ein
Mann, dem Kamele und Schafe gehören, für die er selbst die
Almosen [zakat] zahlen muss, möglicherweise als “arm“ gelten
könne, und ob jemand, dem vierzig Schafe und ein Stück Land
gehören, ohne dass es für seinen Lebensunterhalt ausreicht,
die Spende [sadaka] zugeteilt werden könne. Er bejahte, und
zitierte den Ausspruch des Kalifen Umar: 'Gebt ihnen von den
Almosen, selbst wenn da und dort Kamele von ihnen wandern!'
Und er sagte, nach der Überlieferung des Muhammad ibn al-Hakam
kann jemand Land besitzen und verpachten, oder ein Stück Land
besitzen, das Zehntausend oder weniger oder mehr wert ist, und
dennoch etwas von den Almosen zugeteilt bekommen, falls es
nicht für seinen Lebensunterhalt ausreicht. Dies ist auch die
Auffassung von al-Schafi´i.“
Ibn Qudama selbst erklärt dieses Zitat
mit den Worten: „ ... denn 'Armut' bedeutet Bedürftigkeit
und 'Reichtum' deren Gegenteil. Wer also bedürftig ist, gilt
als 'arm', und für ihn gilt diese Textquelle. Und wer genug
hat, für den gelten solche Textquellen, die die Zuteilung von
Almosen [zakat]
an 'Reiche' verbieten.“
Die zitierten Texte ordnen jeweils an,
dem Einzelnen Empfänger so lange die
Almosen [zakat]
oder dergleichen zuzuteilen, bis er Anschluss an den
Lebensstandard der Allgemeinheit findet, bzw. bis er nach
islamischem Verständnis “reich“ wird, oder um seine primären
und sekundären Bedürfnisse, wie Essen und Trinken, Kleidung,
Heirat, Almosengeben und die Möglichkeit zur Pilgerfahrt [hadsch]
zu befriedigen, wenn es in den Textquellen auch
unterschiedlich formuliert wird. Sie alle propagieren ein
gemeinsames Ziel, nämlich die Verbreitung von “Reichtum“, so
wie ihn der Islam versteht, und die Schaffung einer sozialen
Ausgeglichenheit im Lebensstandard. In diesem Sinne können wir
den jeweiligen Begriffsinhalt von “reich“ und “arm“ im Islam
in allgemeiner Form definieren: “Arm“ ist derjenige, der sich
nicht selbst einen Lebensstandard verschafft, welches es ihm
ermöglicht, seine dringenden und seine weitergehenden
Bedürfnisse in einer Weise zu befriedigen, wie es der Reichtum
des Landes normalerweise jedem Einzelnen erlauben würde. Oder
mit anderen Worten: “Arm“ ist derjenige, dessen Lebensstandard
sich wesentlich von dem Lebensstandard der Reichen in der
islamischen Gesellschaft unterscheidet, und “reich“ ist
derjenige, dessen Lebensstandard diesem nicht wesentlich
nachsteht, und der ohne Schwierigkeiten seine dringenden und
seine weitergehenden Bedürfnisse in einer Weise befriedigen
kann, die dem Reichtum des Landes und dem Grad seiner
materiellen Fortgeschrittenheit angemessen ist, ob ihm nun
große Reichtümer gehören, oder nicht. Damit erkennen wir, dass
der Islam der “Armut“ keinen absoluten Begriffsinhalt gibt,
der unter allen Umständen und Bedingungen unverändert bleiben
würde. Er sagt z.B. nicht, Armut sei die Unfähigkeit, die
eigenen Grundbedürfnisse auf einfache Weise zu befriedigen,
sondern er gibt der Armut die Bedeutung des Zurückbleibens
hinter dem Lebensstandard der Allgemeinheit, wie es in einem
der zitierten Texte heißt. Und in dem Maße, wie sich der
allgemeine Lebensstandard erhöht, erweitert sich die reale
Bedeutung von “Armut“, denn das Zurückbleiben hinter der
Erhöhung des allgemeinen Lebensstandards gilt dann als
“Armut“. Wenn es z.B. als Ergebnis der Verbreitung von
Zivilisation in einem Land üblich geworden ist, dass jede
Familie ein eigenes Haus bewohnt, dann ist es eine Art von
Armut, wenn eine Familie kein eigenes Haus bewohnt, während
dies nicht als Armut zu gelten hätte, wenn das Land nicht
diesen Grad von Wohlstand und Prosperität erreicht hat. Diese
Flexibilität des Begriffes von Armut steht im Zusammenhang mit
dem Konzept des sozialen Gleichgewichtes. Denn wenn der Islam
– stattdessen – der “Armut“ einen unveränderlichen
Begriffsinhalt gegeben hätte, etwa den der Unfähigkeit, die
eigenen Grundbedürfnisse auf einfache Weise zu befriedigen,
und die Almosen [zakat] und vergleichbare Abgaben dafür
vorgesehen hätte, die in diesem unveränderlichen Sinn
verstandene Armut zu beheben, dann ließe sich mit diesem
Mittel nicht auf seine soziale Ausgeglichenheit im
Lebensstandard hinarbeiten, und die Kluft zwischen dem
Lebensstandard der vor der Almosen [zakat] abhängigen
Person und dem allgemeinen Lebensstandard der Reichen, welcher
sich zusammen mit der zivilisatorischen Entwicklung eines
Landes und der Vermehrung von dessen Gesamtreichtum
kontinuierlich erhöht, würde sich vertiefen. Mithin wird
dadurch, dass der “Armut“ und dem “Reichtum“ jeweils flexible
Begriffsinhalte gegeben werden, und das System der
Almosenabgabe [zakat] und ähnlichen Abgaben sich an
diesem flexiblen Begriffsinhalt orientiert, gewährleistet,
dass die Almosenabgaben [zakat] und dergleichen im
Sinne des allgemeinen sozialen Gleichgewichts verwendet werden
kann. Es ist auch nicht befremdlich, dass einem Begriff, von
dem eine gesetzliche Bestimmung abhängt, ein flexibler Inhalt
gegeben wird, wie das bei der “Armut“, mit der die
Almosenabgabe [zakat] zusammenhängt, der Fall ist, und
es bedeutet keine jeweilige Veränderung der gesetzlichen
Bestimmung, sondern es handelt sich um eine unveränderliche
Bestimmung im Zusammenhang mit einem bestimmten
Begriffsinhalt, und die Veränderung betrifft in Wirklichkeit
nur diesen Begriff, entsprechend den jeweiligen Umständen.
Ähnlich verhält
es sich z.B. mit dem Begriff der “Medizin“. So bestimmt das
islamische Recht [scharia], dass die Muslime kollektiv
verpflichtet sind, sich Kenntnisse “der Medizin“ anzueignen,
und diese Verpflichtung ist eine unveränderliche Bestimmung im
Zusammenhang mit einem bestimmten Begriff, nämlich der
Medizin. Was aber ist genau unter “Medizin“ zu verstehen, und
was bedeutet das “Erlernen der Medizin?“. Das “Erlernen der
Medizin“ bedeutet, sich diejenigen speziellen Kenntnisse über
die Krankheiten und die Methoden ihrer Behandlung anzueignen,
die unter den gegebenen Voraussetzungen zur Verfügung stehen,
wobei diese speziellen Kenntnisse im Laufe der Zeit zunehmen,
entsprechend der Weiterentwicklung der Wissenschaft und der
vermehrten Erfahrung. So gilt das Fachwissen von einst heute
nicht mehr als besonderes Wissen, und es genügt für einen
heutigen Arzt nicht, die Kenntnisse der Ärzte zur Zeit des
Propheten Muhammad (s.) zu beherrschen, um Allahs Gebot, die
Medizin zu erlernen, gerecht zu werden. Die Wandelbarkeit des
Begriffsinhaltes bedeutet also keine Veränderung der
gesetzlichen Bestimmungen, und wenn ein heutiger Arzt sich von
einem Arzt zur Zeit des Propheten (s.) unterscheidet, so ist
es nur natürlich, dass auch ein heutiger “Armer“ nach dem
Verständnis des Islam etwas anderes ist, als ein “Armer“ im
Zeitalter des Propheten (s.).