Die Islamische Wirtschaftslehre ist keine Wissenschaft
Jede einzelne Wirtschaftslehre, die wir
dargestellt haben, bildet einen Teil einer vollständigen
Ideologie, die jeweils verschiedene Bereiche und Aspekte des
Lebens behandelt. So ist die islamische Wirtschaftslehre ein
Teil der islamischen Ideologie, welche die verschiedensten
Bereiche des Lebens umfasst, und die kapitalistische
Wirtschaft ist ein Teil der kapitalistischen Demokratie, die
in ihre Ordnungsprinzipien die ganze Gesellschaft einbezieht,
wie auch die marxistische Wirtschaftstheorie ein Teil der
marxistischen Ideologie ist, in deren besonderen Rahmen das
ganze gesellschaftliche Leben gestaltet werden soll. Diese
Ideologien unterscheiden sich in ihren geistigen Ursprüngen
und ihren hauptsächlichen Wurzeln, aus denen sie ihre geistige
und reale Existenz herleiten, und dementsprechend
unterscheiden sie sich in ihrem jeweiligen Charakter. So hat
die marxistische Wirtschaftsideologie nach marxistischer
Ansicht Wissenschaftscharakter, weil sie nach der Überzeugung
ihrer Anhänger das zwangsläufige Endergebnis von Naturgesetzen
ist, die den Lauf der Geschichte bestimmen sollen. Im
Gegensatz dazu wird der kapitalistische Weg von seinen
Anhängern … nicht als notwendige Folge natürlicher
Gesetzmäßigkeiten der Geschichte angesehen, sondern als eine
Form der Gesellschaftsordnung, die mit den praktischen
Wertemaßstäben und Idealen übereinstimmt, welche sie sich zu
Eigen gemacht haben. Hingegen maßt sich der islamische Weg
kein wissenschaftliches Etikett an, wie die marxistische
Ideologie, und er ist auch nicht frei von einer bestimmten
Glaubensgrundlage und einer prinzipiellen Haltung gegenüber
dem Leben und der Schöpfung wie der Kapitalismus.
Wenn wir sagen, die islamische
Wirtschaftslehre sei keine Wissenschaft, dann meinen wir, der
Islam ist eine Religion, die eine bestimmte Ordnung des
wirtschaftlichen Lebens propagiert,
genauso wie sie sich um andere Bereiche des Lebens kümmert,
und umfasst keine Wirtschaftswissenschaft, vergleichbar der
europäischen “politischen Ökonomie“. Mit anderen Worten: Er
ist ein revolutionärer Weg zum Umsturz der schlechten Zustände
und deren Umwandlung in gesunde Zustände, und keine objektive
Interpretation der Realität. Wenn er etwa das Prinzip der
verschiedenen Formen des Eigentums festsetzt, so behauptet er
nicht, die historische Realität einer bestimmten Phase der
menschlichen Entwicklung zu erklären oder das Ergebnis der
natürlichen Gesetzmäßigkeiten der Geschichte widerzuspiegeln,
wie es der Marxismus behauptet, wenn er das Prinzip des
kollektiven Eigentums als zwangsläufigen Zustand einer
bestimmten historischen Phase und als deren einzig mögliche
Interpretation verkündet. Die islamische Wirtschaft ähnelt in
dieser Hinsicht der ideologisch geprägten kapitalistischen
Wirtschaft, da sie ein Mittel zur Änderung der Realität und
nicht zu deren Beschreibung ist. Die ideologische Aufgabe im
Hinblick auf die islamische Wirtschaft besteht also darin, das
vollständige Bild des Wirtschaftslebens gemäß der islamischen
Gesetzgebung herauszufinden und die allgemeinen Ideen und
Vorstellungen, die hinter diesem Bild durchscheinen, zu
untersuchen, wie etwa den Gedanken, die Form der Verteilung
von Gütern von der Produktionsweise zu trennen, und die damit
zusammenhängenden Überlegungen.
Die Aufgabe der Wissenschaft im Hinblick
auf die islamische Wirtschaft setzt erst danach ein, nämlich
den Ablauf des realen wirtschaftlichen Lebens und seine
Gesetzmäßigkeiten innerhalb einer islamischen Gesellschaft, in
der die islamische Ideologie vollständig praktiziert wird, zu
untersuchen. Der Wissenschaftler würde die ideologisch
geprägte Wirtschaftspraxis im Islam dann als feststehende
Grundregel der Gesellschaft ansehen und sich bemühen, sie zu
interpretieren und ihre Erscheinungsformen miteinander in
Beziehung zu setzen. Dies entspräche der Entwicklung der
“politischen Ökonomie“ seitens der kapitalistischen
Wirtschaftswissenschaftler, die erst die ideologischen
Grundlinien entwarfen, und dann die Realität innerhalb dieses
Rahmens interpretierten und die Art der Gesetzmäßigkeiten
untersuchten, die in einer Gesellschaft herrschen, in der
solche Prinzipien angewandt werden. Das Produkt solcher
Studien ist die Wissenschaft der “politischen Ökonomie“.
Ebenso wäre es möglich, eine Wissenschaft der islamischen
Wirtschaft zu entwickeln – nachdem eine umfassende
ideologische Untersuchung vorausgegangen ist – anhand der
Beobachtung der Realität in ihrem Rahmen. Und es stellt sich
die Frage: Wann und wie kann man eine islamische
Wirtschaftswissenschaft entwickeln, wie die kapitalistischen
Wirtschaftstheoretiker die Wissenschaft der “politischen
Ökonomie“, oder mit anderen Worten, eine
Wirtschaftswissenschaft, welche die Phänomene der
kapitalistischen Gesellschaft interpretiert, einführten? Die
Antwort auf diese Frage ist, dass die wissenschaftliche
Darlegung von Erscheinungsformen des wirtschaftlichen Lebens
sich auf zwei Methoden konzentriert:
·
Ersten: Die Bestandsaufnahme der
wirtschaftlich bedeutsamen Phänomene aus der praktisch
erlebten Realität und deren wissenschaftliche Einordnung in
einer Weise, welche die Gesetzmäßigkeiten, von denen die
untersuchte reale Gesellschaft mit ihren besonderen
Bedingungen beherrscht wird, offenlegt.
·
Zweitens: Der theoretische
wissenschaftliche Ansatz, der von bestimmten allgemein
anerkannten Voraussetzungen ausgeht und in deren Licht die
wirtschaftliche Tendenz und den Verlauf des realen
wirtschaftlichen Lebens voraussagt.
Wissenschaftliche Abhandlung der ersteren
Art sind darauf angewiesen, dass die untersuchte Ideologie
bereits praktiziert wird und in einem realen
gesellschaftlichen Gebilde Gestalt angenommen hat, damit der
Wissenschaftler die Erscheinungsformen dieser Realität
dokumentieren und ihre allgemeinen Charakteristika und
Gesetzmäßigkeiten herausfinden kann. Diese Gelegenheit hatten
die Wirtschaftsexperten der kapitalistischen Länder, da sie in
einer Gesellschaft lebten, die an den Kapitalismus glaubt und
ihn praktiziert; so konnten sie ihre Theorien auf der
Grundlage von Erfahrungen mit der gesellschaftlichen Realität,
die sie selbst erlebten, aufstellen. Dagegen haben die
islamischen Wirtschaftsspezialisten keine vergleichbaren
Möglichkeiten, solange die islamische Wirtschaft noch weit von
ihrer Verwirklichung entfernt ist. Sie können in ihrem
heutigen Leben keine Erfahrungen mit der islamischen
Wirtschaft in der Praxis machen, in deren Licht sie die Art
der Gesetzmäßigkeiten, die sich in einem auf der Grundlage des
Islam auf gebaute Wirtschaftsleben heranbilden, verstehen
könnten.
Die zweite Methode der wissenschaftlichen
Darstellung kann jedoch angewandt werden, um einige Merkmale,
durch die sich das Wirtschaftsleben in der islamischen
Gesellschaft auszeichnen wird, deutlich zu machen, indem man
von bestimmten Besonderheiten der islamischen Ideologie
ausgeht und deren Auswirkungen in der angenommenen Praxis
schlussfolgert, und mit Blick auf diese ideologischen
Besonderheiten allgemeine Theorien über den wirtschaftlichen
Aspekt der zukünftigen idealen islamischen Gesellschaft
aufzustellen. So kann der islamische Gelehrte voraussagen,
dass die Interessen des Handels in der islamischen
Gesellschaft mit denen der Geldgeber und Bankeigner
übereinstimmen werden, weil die Banken in der islamischen
Gesellschaft nach dem Prinzip des
Kapitalbeteiligungsvertrag [mudaraba] und nicht
auf der Grundlage von Zinsen arbeiten, d.h. sie betreiben
Geschäfte mit dem Geld ihrer Klienten und teilen die Gewinne
entsprechend dem jeweiligen Anteil der Geldgeber auf, so dass
schließlich deren finanzielle Lage von dem Gewinn der
Geschäfte, die sie finanzieren, abhängen wird, und nicht von
den Zinsen, die sie für Darlehen verlangen. Dieses
Charakteristikum – die Tatsache der Übereinstimmung von
Interessen der Kreditgeber und Geschäftsleute – ist seiner
Natur nach ein objektives Phänomen, das der Wissenschaftler
voraussagen kann, wenn er davon ausgeht, das in der
islamischen Gesellschaft das System der Zinsnahme abgeschafft
sein wird. Vom gleichen Ansatzpunkt ausgehend kann ein
weiteres Charakteristikum vorausgesagt werden, nämlich dass
die islamische Gesellschaft von einem Hauptfaktor für die
wirtschaftlichen Krisen, welche die kapitalistische
Gesellschaft befallen, verschont bleiben wird: In einer
Gesellschaft, die die Zinsnahme praktiziert, werden die
Kreisläufe von Produktion und Verbrauch dadurch behindert,
dass ein großer Teil des allgemeinen Vermögens gehortet wird,
um Zinsgewinne zu erzielen, und so den Bereichen der
Produktion und des Konsum entzogen wird; dies führt zur
Stagnation eines großen Teils der Produktion von Investitions-
und Konsumgütern in der Gesellschaft. Wird jedoch die
Gesellschaft auf der Grundlage der islamischen
Wirtschaftsordnung aufgebaut, in der jegliche Zinsgeschäfte
verboten sind, ebenso wie die Hortung von Bargeld entweder
ganz verboten ist oder mit Steuern belegt wird, werden alle
Menschen veranlasst, ihr Vermögen im Interesse der
Allgemeinheit auszugeben.
Bei dieser Art von wissenschaftlichen
Abhandlungen setzen wir also eine gesellschaftliche Realität
und eine Wirtschaftsordnung auf einer bestimmten Grundlage
voraus und versuchen, diese angenommene Realität und ihre
allgemeinen Merkmale herauszufinden und deutlich zu machen,
wobei wir uns an den vorgegebenen Prinzipien orientieren.
Jedoch errichten uns solche Abhandlungen kein genaues
wissenschaftliches und umfassendes Bild von dem
Wirtschaftsleben in der islamischen Gesellschaft, solange für
die wissenschaftliche Untersuchung noch keine Belege aus der
Erfahrung der konkreten Realität gesammelt werden können. Das
reale Leben unter einer bestimmten Gesellschaftsordnung weicht
oft von den Prognosen ab, die auf der Grundlage von
hypothetisch angenommenen Voraussetzungen aufgestellt wurden.
Diese Erfahrung machten die kapitalistischen
Wirtschaftstheoretiker, die viele ihrer analytischen Theorien
auf angenommenen Voraussetzungen aufbauten, und zu Ergebnissen
kamen, die zu der von ihnen selbst erlebten Realität im
Widerspruch standen, da sich im praktischen Leben eine Anzahl
von Faktoren bemerkbar machten, die nicht in die Annahmen
miteinbezogen worden waren. Hinzu kommt, dass das spirituelle
und geistige Element, oder mit anderen Worten, die allgemeine
psychologische Konstitution der islamischen Gesellschaft,
bedeutende Auswirkungen auf das Wirtschaftsleben haben wird,
und diese Mentalität hat keinen definierbaren Grad und keine
bestimmte Gestalt, die es möglich machen würde, sie im Voraus
einzukalkulieren und auf ihrer Basis die verschiedenen
Theorien aufzustellen. Eine islamische Wirtschaftswissenschaft
kann also erst dann reelle Ergebnisse hervorbringen, wenn die
islamische Wirtschaft, mit ihren Wurzeln, ihren
charakteristischen Merkmalen und ihren Details, in einem
gesellschaftlichen Gebilde konkrete Formen angenommen hat, und
wenn dessen wirtschaftliche Phänomene und Erfahrungen
systematisch untersucht werden können.