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Muhammad Baqir al-Sadr

Erste Grundlage der sozialen Sicherung

Die erste Grundlage der sozialen Sicherung ist die allgemeine gegenseitige Verantwortlichkeit. Nach diesem Grundsatz verpflichtet der Islam die Muslime kollektiv füreinander einzustehen, und er macht diese Bürgschaft dem einzelnen Muslim im Rahmen seiner persönlichen Voraussetzungen und Möglichkeiten zu einer Pflicht, die er auf jeden Fall und genauso wie seine sonstigen religiösen Pflichten erfüllen muss.

Die soziale Sicherheit, welche der Staat auf der Grundlage des Prinzips der allgemeinen gegenseitigen Verantwortlichkeit der Muslime gewährleistet, ist in Wirklichkeit Ausdruck der Aufgabe des Staates, seine Bürger zur Befolgung dessen zu zwingen, was ihnen vom Gesetz vorgeschrieben ist, und darüber zu wachen, dass die Muslime sich nach den Vorschriften des Islam – über ihre Pflichten untereinander – richten. Der Staat ist also in seiner Eigenschaft als Bürge für die Anwendung der Bestimmungen des Islam, und als mit Macht zum Befehlen des Guten und Verbieten des Verwerflichen ausgestattete Institution, verantwortlich für eine Praxis in diesem Sinne, und autorisiert, jeden Einzelnen zur Erfüllung seiner gesetzlichen Pflichten und zum Gehorsam gegenüber den Vorschriften, die Allah ihm auferlegt hat, zu zwingen. Ebenso wie er das Recht hat, die Muslime zu zwingen, zur Anstrengung [dschihad] auszuziehen, wenn sie dazu verpflichtet sind, kann er sie zwingen, ihrer Verpflichtung, für die erwerbsunfähigen zu sorgen, nachzukommen, wenn sie dies versäumen, Kraft dieses Rechtes kann er den Lebensunterhalt der Erwerbsunfähigen garantieren, indem er stellvertretend für alle Muslime handelt, und sie im Rahmen seiner Kompetenzen dazu zwingt, dieses System der sozialen Sicherheit mit ausreichenden Mitteln zu finanzieren, womit er erreicht, dass sie ihre religiöse Pflicht erfüllen und dem Befehl Allahs des Erhabenen gehorchen.

Um den Umfang der sozialen Sicherheit, die der Staat aufgrund des Prinzips der gegenseitigen Verantwortlichkeit gewährleistet, und die Art der Bedürfnisse, deren Befriedigung garantiert wird, zu erkennen, müssen wir einige der gesetzgeberischen Textquellen anführen, welche auf den Grundsatz der gegenseitigen Verantwortlichkeit hinweisen, um in deren Licht den Umfang, in welchem die Muslime verpflichtet sind, füreinander zu bürgen, und mithin die Grenzen der Garantie, welche der Staat auf dieser Grundlage leistet, zu definieren. So heißt es in einer authentischen Überlieferung von Sama´a, er habe Imam Dschafar ibn Muhammad al-Sadiq (a.) gefragt: „Angenommen einige Leute besitzen mehr als genug zum Leben, während ihre Glaubensbrüder schweren Mangel leiden, und die Allmosenabgabe [zakat] nicht zu deren Versorgung ausreicht, haben sie dann das Recht, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, während ihre Brüder hungern? Dabei sei angenommen, es herrsche eine Notzeit.“ Darauf antwortete ihm der Imam (a.) folgendes: „Der Muslim ist der Bruder jedes anderen Muslim, er behandelt ihn nicht ungerecht, er lässt ihn nicht im Stich und er verweigert ihm keine Hilfe. Die Muslime sind also verpflichtet, sich füreinander einzusetzen, sich zu verbünden, sich gegenseitig zu helfen und die Bedürftigen aus ihrer Mitte zu unterstützen.“[1] In einer anderen Überlieferung heißt es, Imam Dschafar al-Sadiq (a.) habe gesagt:

Welcher Gläubige auch immer einen anderen Gläubigen etwas verweigert, was dieser benötigt, obwohl er in der Lage wäre, ihm von seinem Besitz oder von dem Besitz eines anderen etwas zu geben, den wird Allah am jüngsten Tage mit geschwärztem Gesicht, mit ausgestochenen Augen und mit an den Hals geketteten Händen auferstehen lassen, und zu ihm wird gesagt werden: 'Dies ist der Verräter, der Allah und Seinen Gesandten verraten hat!' Dann wird ihm befohlen werden, in das Höllenfeuer einzugehen.“[2]

Und selbstverständlich ist der Befehl an ihn, ins Höllenfeuer einzugehen, ein Beleg dafür, dass der Gläubige verpflichtet ist, die Bedürfnisse seines Glaubensbruders im Rahmen seiner Möglichkeiten zu befriedigen, denn eine Person wird nicht dafür in die Hölle verwiesen, dass sie eine Sache unterlassen hat, zu der sie nicht verpflichtet war. Wenn diese Überlieferung auch “Bedürftigkeit“ im absoluten Sinne anspricht, so ist damit dennoch speziell die “dringende“ Bedürftigkeit gemeint, von der in der ersten Überlieferung die Rede war, denn die Muslime insgesamt sind nur verpflichtet, für den dringenden Bedarf der Erwerbsunfähigen aufzukommen und dessen Befriedigung zu garantieren. Daraus folgt, dass die gegenseitige Verantwortlichkeit innerhalb der Grenzen der “dringenden Bedürftigkeit“ gilt. Wenn also die Muslime mehr besitzen, als zu ihrem Lebensunterhalt erforderlich ist, dann dürfen sie nicht – wie es der erste Überlieferungs-Text ausdrückt – ihre Glaubensbrüder schweren Mangel leiden lassen, sondern müssen deren Bedarf befriedigen und finanzieren. Der Islam verknüpft diese gegenseitige Verantwortlichkeit mit dem Grundsatz der allgemeinen Brüderlichkeit unter den Muslimen, um darauf hinzuweisen, dass es sich dabei nicht lediglich um eine Besteuerung höherer Einkommen handelt, sondern um eine konkrete Manifestation der allgemeinen Brüderlichkeit, wobei der Islam in üblicher Weise die Bestimmungen in einen ethischen Rahmen stellt, der mit seinen Begriffsinhalten und Werten übereinstimmt. Das Recht des einzelnen Menschen auf die Unterstützung durch den anderen im Notfall leitet sich nach islamischem Verständnis daraus ab, dass dieser sein Bruder ist, und wie er zur Familie der rechtschaffenen Menschen gehört, während der Staat im Rahmen seiner Zuständigkeit dieses Recht schützt und garantiert. Dieses Recht sichert die Befriedigung der “dringenden Bedürfnisse“ jedes Einzelnen, wobei die Dringlichkeit der Bedürfnisse deren Lebenswichtigkeit bedeutet, derart, dass das Leben ohne ihre Befriedigung schwer zu ertragen ist. Wir stellen also fest, dass die soziale Sicherung, welche sich auf die gegenseitige Verantwortlichkeit begründet, sich – dieser entsprechend – auf die vitalen Bedürfnisse der einzelnen Personen beschränkt, ohne deren Befriedigung ihr Leben schwer zu ertragen wäre.

[1] “Al-Wasa´il“ des al-Hurr al Amili, Band 11, Seite 597

[2] “Al-Wasa´il“ des al-Hurr al Amili, Band 11, Seite 599

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