Erste Grundlage der sozialen Sicherung
Die erste Grundlage der sozialen
Sicherung ist die allgemeine gegenseitige Verantwortlichkeit.
Nach diesem Grundsatz verpflichtet der Islam die Muslime
kollektiv füreinander einzustehen, und er macht diese
Bürgschaft dem einzelnen Muslim im Rahmen seiner persönlichen
Voraussetzungen und Möglichkeiten zu einer Pflicht, die er auf
jeden Fall und genauso wie seine sonstigen religiösen
Pflichten erfüllen muss.
Die soziale Sicherheit, welche der Staat
auf der Grundlage des Prinzips der allgemeinen gegenseitigen
Verantwortlichkeit der Muslime gewährleistet, ist in
Wirklichkeit Ausdruck der Aufgabe des Staates, seine Bürger
zur Befolgung dessen zu zwingen, was ihnen vom Gesetz
vorgeschrieben ist, und darüber zu wachen, dass die Muslime
sich nach den Vorschriften des Islam – über ihre Pflichten
untereinander – richten. Der Staat ist also in seiner
Eigenschaft als Bürge für die Anwendung der Bestimmungen des
Islam, und als mit Macht zum Befehlen des Guten und Verbieten
des Verwerflichen ausgestattete Institution, verantwortlich
für eine Praxis in diesem Sinne, und autorisiert, jeden
Einzelnen zur Erfüllung seiner gesetzlichen Pflichten und zum
Gehorsam gegenüber den Vorschriften, die Allah ihm auferlegt
hat, zu zwingen. Ebenso wie er das Recht hat, die Muslime zu
zwingen, zur Anstrengung [dschihad]
auszuziehen, wenn sie dazu verpflichtet sind, kann er sie
zwingen, ihrer Verpflichtung, für die erwerbsunfähigen zu
sorgen, nachzukommen, wenn sie dies versäumen, Kraft dieses
Rechtes kann er den Lebensunterhalt der Erwerbsunfähigen
garantieren, indem er stellvertretend für alle Muslime
handelt, und sie im Rahmen seiner Kompetenzen dazu zwingt,
dieses System der sozialen Sicherheit mit ausreichenden
Mitteln zu finanzieren, womit er erreicht, dass sie ihre
religiöse Pflicht erfüllen und dem Befehl Allahs des Erhabenen
gehorchen.
Um den Umfang der sozialen Sicherheit,
die der Staat aufgrund des Prinzips der gegenseitigen
Verantwortlichkeit gewährleistet, und die Art der Bedürfnisse,
deren Befriedigung garantiert wird, zu erkennen, müssen wir
einige der gesetzgeberischen Textquellen anführen, welche auf
den Grundsatz der gegenseitigen Verantwortlichkeit hinweisen,
um in deren Licht den Umfang, in welchem die Muslime
verpflichtet sind, füreinander zu bürgen, und mithin die
Grenzen der Garantie, welche der Staat auf dieser Grundlage
leistet, zu definieren. So heißt es in einer authentischen
Überlieferung von Sama´a, er habe Imam Dschafar ibn Muhammad
al-Sadiq (a.) gefragt: „Angenommen einige Leute besitzen
mehr als genug zum Leben, während ihre Glaubensbrüder schweren
Mangel leiden, und die
Allmosenabgabe [zakat] nicht zu deren Versorgung ausreicht,
haben sie dann das Recht, ihre Bedürfnisse zu befriedigen,
während ihre Brüder hungern? Dabei sei angenommen, es herrsche
eine Notzeit.“
Darauf antwortete ihm der Imam (a.) folgendes: „Der Muslim
ist der Bruder jedes anderen Muslim, er behandelt ihn nicht
ungerecht, er lässt ihn nicht im Stich und er verweigert ihm
keine Hilfe. Die Muslime sind also verpflichtet, sich
füreinander einzusetzen, sich zu verbünden, sich gegenseitig
zu helfen und die Bedürftigen aus ihrer Mitte zu unterstützen.“
In einer anderen Überlieferung heißt es, Imam Dschafar
al-Sadiq (a.) habe gesagt:
„Welcher
Gläubige auch immer einen anderen Gläubigen etwas verweigert,
was dieser benötigt, obwohl er in der Lage wäre, ihm von
seinem Besitz oder von dem Besitz eines anderen etwas zu
geben, den wird Allah am jüngsten Tage mit geschwärztem
Gesicht, mit ausgestochenen Augen und mit an den Hals
geketteten Händen auferstehen lassen, und zu ihm wird gesagt
werden: 'Dies ist der Verräter, der Allah und Seinen Gesandten
verraten hat!' Dann wird ihm befohlen werden, in das
Höllenfeuer einzugehen.“
Und
selbstverständlich ist der Befehl an ihn, ins Höllenfeuer
einzugehen, ein Beleg dafür, dass der Gläubige verpflichtet
ist, die Bedürfnisse seines Glaubensbruders im Rahmen seiner
Möglichkeiten zu befriedigen, denn eine Person wird nicht
dafür in die Hölle verwiesen, dass sie eine Sache unterlassen
hat, zu der sie nicht verpflichtet war. Wenn diese
Überlieferung auch “Bedürftigkeit“ im absoluten Sinne
anspricht, so ist damit dennoch speziell die “dringende“
Bedürftigkeit gemeint, von der in der ersten Überlieferung die
Rede war, denn die Muslime insgesamt sind nur verpflichtet,
für den dringenden Bedarf der Erwerbsunfähigen aufzukommen und
dessen Befriedigung zu garantieren. Daraus folgt, dass die
gegenseitige Verantwortlichkeit innerhalb der Grenzen der
“dringenden Bedürftigkeit“ gilt. Wenn also die Muslime mehr
besitzen, als zu ihrem Lebensunterhalt erforderlich ist, dann
dürfen sie nicht – wie es der erste Überlieferungs-Text
ausdrückt – ihre Glaubensbrüder schweren Mangel leiden lassen,
sondern müssen deren Bedarf befriedigen und finanzieren. Der
Islam verknüpft diese gegenseitige Verantwortlichkeit mit dem
Grundsatz der allgemeinen Brüderlichkeit unter den Muslimen,
um darauf hinzuweisen, dass es sich dabei nicht lediglich um
eine Besteuerung höherer Einkommen handelt, sondern um eine
konkrete Manifestation der allgemeinen Brüderlichkeit, wobei
der Islam in üblicher Weise die Bestimmungen in einen
ethischen Rahmen stellt, der mit seinen Begriffsinhalten und
Werten übereinstimmt. Das Recht des einzelnen Menschen auf die
Unterstützung durch den anderen im Notfall leitet sich nach
islamischem Verständnis daraus ab, dass dieser sein Bruder
ist, und wie er zur Familie der rechtschaffenen Menschen
gehört, während der Staat im Rahmen seiner Zuständigkeit
dieses Recht schützt und garantiert. Dieses Recht sichert die
Befriedigung der “dringenden Bedürfnisse“ jedes Einzelnen,
wobei die Dringlichkeit der Bedürfnisse deren
Lebenswichtigkeit bedeutet, derart, dass das Leben ohne ihre
Befriedigung schwer zu ertragen ist. Wir stellen also fest,
dass die soziale Sicherung, welche sich auf die gegenseitige
Verantwortlichkeit begründet, sich – dieser entsprechend – auf
die vitalen Bedürfnisse der einzelnen Personen beschränkt,
ohne deren Befriedigung ihr Leben schwer zu ertragen wäre.