Unsere Wirtschaft

Unsere Wirtschaft / Iqtisaduna

Muhammad Baqir al-Sadr

Islamische Verteilungstheorie und deren Vergleich mit entsprechender kapitalistischer Theorie

Der Islam lehnt die grundsätzliche Sichtweise der kapitalistischen Ideologie ganz und gar ab und unterscheidet sich prinzipiell von ihr, denn er stellt die zahlreichen Faktoren der Produktion nicht auf eine Ebene, und betrachtet sie nicht als einander gleichwertig, so dass die Verteilung der produzierten Güter auf jene Faktoren in einem Verhältnis erfolgen müsste, welches die Gesetze von Angebot und Nachfrage bestimmen, wie es im Kapitalismus geschieht. Vielmehr betrachtet die allgemeine islamische Theorie über die Verteilung “dessen, was nach der Produktion existiert“, den Reichtum, der aus den “rohen“ Ressourcen der Natur gewonnen wird, als alleiniges Eigentum des produzierenden Menschen – des Arbeitenden – während die materiellen Produktionsmittel, deren sich der Mensch bei einer produktiven Tätigkeit bedient, wie Land, Kapital und verschiedene Hilfsmittel und Geräte, keinen Anteil an den produzierten Gütern selbst haben, sondern nur Mittel sind, die dem Menschen bei der Unterwerfung und Nutzbarmachung der Natur für seine produktiven Zwecke Dienste erweisen. Wenn also jene Hilfsmittel einer anderen Person als dem produzierenden Arbeiter gehören, dann muss letzterer dem Eigentümer den Nutzen, den er aus diesen Hilfsmitteln gezogen hat, vergüten. Die Bezahlung, welche dem Besitzer des Landes oder dem Eigentümer des Gerätes, bzw. der Maschine, die jeweils bei den Arbeiten der Produktion miteinbezogen sind, ausgehändigt wird, gilt nicht als Anteil des Landes, des Gerätes oder der Maschine selbst an dem produzierten Gut – in deren Eigenschaft als Faktoren seiner Produktion – sondern bedeutet eine Entschädigung der jeweiligen Eigentümer jener Produktionsmittel für die Dienste, welche sie leisten, indem sie dem produktiv tätigen Menschen gestatten, ihre Hilfsmittel zu benutzen. Wenn es aber keinen bestimmten Eigentümer dieser Produktionsmittel außer dem produzierenden Menschen selbst gibt, wird die Entschädigung gegenstandslos, denn dann sind die Mittel von der Natur und nicht von einem anderen Menschen zur Verfügung gestellt.

Der produzierende Mensch ist nach der islamischen Theorie über die Verteilung produzierter Güter der prinzipielle Eigentümer der aus den rohen Ressourcen der Natur geschaffenen Werte, und die materiellen Elemente der Produktion haben keinen Anteil an diesen Werten, sondern der produzierende Mensch gilt lediglich als den Besitzern der Hilfsmittel, welche er benutzt, gegenüber verpflichtet, und ist gehalten, seiner Verpflichtung nachzukommen und ihnen die Dienste zu vergüten, welche deren Hilfsmittel ihm geleistet haben. Der Anteil der materiellen Hilfsmittel, die am Produktionsprozess beteiligt sind, hat also den Charakter der Vergütung einer Dienstleistung und manifestiert sich in einer Verbindlichkeit zu Lasten des produzierenden Menschen, aber bedeutet nicht, dass die materiellen Produktionsmittel mit der menschlichen Arbeit gleichgesetzt, oder dass beide auf einheitlicher Grundlage an den produzierten Gütern beteiligt würden.

Im Verlauf unserer weiteren Untersuchung der allgemeinen Theorie über die Verteilung der produzierten Güter werden wir die theoretische Rechtfertigung jener Vergütung erfahren, welche die Besitzer der materiellen Produktionsmittel von dem produzierenden Menschen dafür erhalten, dass er die ihnen gehörenden Hilfsmittel bei der produktiven Tätigkeit verwendet. Der Unterschied zwischen der islamischen Theorie über die Verteilung der produzierten Güter und der entsprechenden kapitalistischen Theorie ist also groß. Dieser Gegensatz geht auf die unterschiedliche Definition der Stellung des Menschen und seiner Rolle beim Produktionsprozess in den beiden Theorien zurück. So ist nach der kapitalistischen Sichtweise die Rolle des Menschen die eines Mittels, welches der Produktion dient, und nicht die eines Zieles, dem die Produktion dient. Er wird auf eine Stufe mit den sonstigen Potentialen, die an der Produktion beteiligt sind, wie die natürlichen Ressourcen und das Kapital, gestellt, daher erhält der produzierende Mensch seinen Anteil an den produzierten Gütern in seiner Eigenschaft als Beteiligter an der Produktion und deren Diener, und die Verteilung an den arbeitenden Menschen wie auch an die materiellen Hilfsmittel, die mit ihm zusammen am Produktionsvorgang beteiligt sind, erfolgt auf einheitlicher theoretischer Grundlage. Dagegen ist der Stellenwert des Menschen in der islamischen Theorie der des Zieles und nicht des Mittels. Er befindet sich nicht auf einer Ebene mit den materiellen Produktionsmitteln, so dass der produzierte Reichtum nach einheitlichem Schema unter dem Menschen und sämtlichen jener Hilfsmittel aufgeteilt würde, sondern die materiellen Mittel gelten als Diener des Menschen bei der Durchführung der produktiven Tätigkeit, denn der Produktionsvorgang selbst geschieht nur für den Menschen. Daher werden der Anteil des produzierenden Menschen und der Anteil der materiellen Produktionsmittel unterschiedlich theoretisch begründet.

Wenn die materiellen Produktionsmittel einem anderen als dem Arbeitenden gehören, und der Besitzer sie für die Produktion zur Verfügung stellt, dann ist der produzierende Mensch ihm gegenüber verpflichtet, seinen Dienst zu vergüten; die Vergütung ist hier also eine Verbindlichkeit zu Lasten des produzierenden Arbeiters, die er als Gegenleistung für einen Dienst entrichtet, und hat nicht die theoretische Bedeutung einer Beteiligung der materiellen Produktionsmittel an den produzierten Gütern. Somit macht es die Stellung der materiellen Produktionsmittel –nach der islamischen Sichtweise – erforderlich, dass sie ihre Vergütung seitens des produktiv tätigen Menschen, in ihrer Eigenschaft als Mittel, die ihm dienen, erhalten, und nicht als Anteil von den produzierten Gütern, in ihrer Eigenschaft als an deren Produktion beteiligte Faktoren. Ebenso macht es die Stellung des Menschen beim Produktionsprozess, in seiner Eigenschaft als dessen Ziel, erforderlich, dass er allein Rechte an dem Reichtum der Natur besitzt, den Allah der Erhabene in seinen Dienst gestellt hat.

Zu den wichtigsten Phänomenen, der sich aus diesem grundsätzlichen Widerspruch der beiden Theorien – der islamischen und der kapitalistischen – ergeben, gehören die unterschiedlichen Standpunkte der beiden Ideologien zur kapitalistischen Produktionsweise im Bereich der Ausbeutung roher natürlicher Reichtümer. Denn der ideologische Kapitalismus erlaubt es dem Kapital, bei dieser Art von Produktion tätig zu werden, so dass das Kapital die Möglichkeit hat, Lohnarbeiter in den Dienst zu stellen, die z.B. von den Bäumen des Waldes Holz schlagen oder Erdöl aus seinen Quellen zutage fördern, und ihnen ihre Löhne auszuzahlen, welche aus der Sicht der kapitalistischen Verteilungstheorie den ganzen rechtmäßigen Anteil des Arbeiters ausmachen, womit das Kapital zum Eigentümer des gesamten von den Lohnarbeitern gewonnenen Holzes bzw. natürlichen Rohstoffes wird, und das Recht hat, diese Güter zu einem beliebigen Preis zu verkaufen. Dagegen gibt es in der islamischen Verteilungstheorie keinen Raum für diese Art der Produktion[1], denn nach ihren Prinzipien erwirbt das Kapital keinerlei Anspruch, indem es Lohnarbeiter, z.B. für das Schlagen von Holz oder das Fördern von Bodenschätzen, in den Dienst stellt und ihnen die nötigen Arbeitsgeräte zur Verfügung stellt, da die islamische Theorie die eigenhändige Ausführung der entsprechenden Arbeit zur Vorbedingung für die Aneignung natürlichen Reichtums macht, und allein dem Arbeitenden das Eigentumsrecht an dem Holz, das er fällt, und an dem Bodenschatz, den er zutage fördert, gewährt. Damit wird die Aneignung roher natürlicher Reichtümer auf dem Wege der Beschäftigung von Lohnarbeitern unterbunden, und die Macht des Kapitals über jene Güter, welche diesem im Einflussbereich der kapitalistischen Ideologie durch seine bloße Fähigkeit, den Arbeiter zu entlohnen und ihm die nötigen Geräte zur Verfügung zu stellen, zukommt, besteht nicht, sondern an deren Stelle tritt die Macht des Menschen über die natürlichen Reichtümer. Diese Ablehnung der kapitalistischen Produktionsweise im Bereich der Nutzbarmachung roher natürlicher Reichtümer ist kein oberflächliches oder vorübergehendes Phänomen, und kein nebensächlicher Unterschied zwischen der islamischen Verteilungstheorie und der kapitalistischen Ideologie, sondern zeigt in deutlicher Form und theoretisch begründet – wie wir zur Kenntnis genommen haben – den diametralen Gegensatz zwischen beiden, sowie die Originalität des theoretischen Gehaltes der islamischen Wirtschaftsideologie.

[1] Dies ergibt sich aus den im Überbau angeführten Informationen über das von Muhaqqiq al-Hilli in den “Schara´i“ ausgesprochene Verbot der Delegierung beim Schlagen von Holz und dergleichen Arbeiten der Inbesitznahme von für jedermann zugänglichen Naturschätzen [mubahat], über das in einigen Ausgaben des “Mabsut“ überlieferte Verbot der Delegierung der Urbarmachung von Land seitens des Scheich al-Tusi, und über die Versicherung des Muhaqqiq al-Isfahani im “Kapitel al-Idschara“, dass der Lohngeber durch den Lohnvertrag nicht zum Eigentümer der von seinem Lohnarbeiter gewonnenen natürlichen Reichtümer wird. (Fußnote des Autors)

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