Kann die Wissenschaft das Problem lösen?
Es wird gelegentlich behauptet, dass die
Wissenschaft, die so gewaltige Fortschritte gemacht hat, auch
die Lösung der sozialen Frage ermöglichen wird; denn der
Mensch, dieser unbeugsame Gigant, der mit Riesenschritten das
Feld der Geistes- und Naturwissenschaften durchmisst, in die
Tiefen der Geheimnisse der Natur vorstößt und deren
faszinierendste Rätseln löst, so dass es ihm sogar möglich
wird, die Atomkerne zu spalten und deren gewaltige Energie
freizusetzen, die Himmelskörper zu erforschen und seine
Projektile dorthin zu entsenden, mit Düsenflugzeugen zu
reisen, und die Naturgesetze in den Dienst zu stellen, um
Ergebnisse über die Entfernungen von Tausenden von Meilen in
Form hörbarer Stimmen und sichtbarer Bilder zu übertragen,
dieser Mensch, der innerhalb einer kurzen Zeitspanne all diese
wissenschaftlichen Errungenschaften verbuchen konnte und in
all seinen Kämpfen mit der Natur siegreich blieb, sollte mit
seinem Wissen und seinem Scharfsinn doch in der Lage sein,
eine solidarische und glückliche Gemeinschaft aufzubauen und
eine Gesellschaftsordnung zu etablieren, die das Wohl der
gesamten Menschheit gewährleistet. Der Mensch benötigte also
keinen anderen Bezugspunkt als die Wissenschaft, die ihn in
allen Bereichen von einem Sieg zum anderen geführt hat, um
seine angemessene Haltung gegenüber der Gesellschaft zu
entwickeln. Diese Behauptung bedeutet in Wahrheit nur die
Verkennung der Aufgabe der Wissenschaft im Leben des Menschen,
denn wie sehr sich die Wissenschaft auch weiterentwickeln und
Fortschritte machen mag, sie bleibt stets nur ein Mittel, um
in verschiedenen Bereichen die objektiven Sachverhalte zu
untersuchen und die Realität unparteiisch und mit der
größtmöglichsten Sorgfalt und Tiefe zu erklären. Sie lehrt uns
z.B. im gesellschaftlichen Bereich, dass der Kapitalismus zur
Wirksamkeit des “ehernen Lohngesetzes“
und zur Reduzierung des Lohnes bis zum Existenzminimum führt,
genauso wie sie uns im Bereich der Natur lehrt, dass die
Einnahme einer bestimmten chemischen Substanz zu einem
lebensgefährlichen Krankheitszustand führt.
Wenn die Wissenschaft uns diesen oder
jenen Sachverhalt verdeutlicht, hat sie vielleicht ihr
Schuldigkeit getan und der Menschheit zu neuen Erkenntnissen
verholfen, aber das Gespenst dieser schweren Krankheit oder
dieses schrecklichen Gesetzes (das “eherne Lohngesetz“)
verschwindet nicht, nur indem die Wissenschaft den
Kausalzusammenhang zwischen jener bestimmten Substanz und der
Krankheit, bzw. zwischen dem Kapitalismus und dem “ehernen
Lohngesetz“ aufdeckt, sondern der Mensch bleibt von der
Krankheit verschont, wenn er die Einnahme der
krankheitserregenden Substanz vermeidet, und von dem “ehernen
Lohngesetz“, indem er den kapitalistischen Rahmen der
Gesellschaftsordnung abschafft. Und jetzt fragen wir uns: Was
ist es, das den Menschen vor dieser Krankheit bewahrt, und was
vor dieser Gesellschaftsordnung?
Was die Krankheit betrifft, so ist die
Antwort klar und eindeutig, denn allein die persönliche
Motivation jedes Menschen reicht aus, ihn von der Einnahme der
besagten Substanz abzuhalten, deren gefährliche Wirkung die
Wissenschaft entdeckt hat, weil es seinen persönlichen
Interessen widersprechen würde. Was aber das “eherne
Lohngesetz“ und die Abschaffung der kapitalistischen
Gesellschaftsordnung angeht, so ist der wissenschaftliche
Befund, der den Zusammenhang zwischen dieser
Gesellschaftsordnung und diesem Gesetz nachweist, keine
treibende Kraft zur Aktion und Veränderung dieser Ordnung.
Taten bedürfen einer Motivation, und die persönlichen Motive
der Einzelnen harmonieren nicht immer, sondern unterscheiden
sich entsprechend den jeweiligen persönlichen Interessen.
Deshalb müssen wir unterscheiden zwischen der
wissenschaftlichen Aufdeckung eines Sachverhaltes und Taten
zum Wohl der Gemeinschaft im Lichte dieser Erkenntnisse. Die
Wissenschaft kann lediglich einen Sachverhalt bis zu einem
gewissen Grad verdeutlichen, aber sie ist es nicht, die
Veränderungen schafft.