Unsere Wirtschaft

Unsere Wirtschaft / Iqtisaduna

Muhammad Baqir al-Sadr

Kann die Wissenschaft das Problem lösen?

Es wird gelegentlich behauptet, dass die Wissenschaft, die so gewaltige Fortschritte gemacht hat, auch die Lösung der sozialen Frage ermöglichen wird; denn der Mensch, dieser unbeugsame Gigant, der mit Riesenschritten das Feld der Geistes- und Naturwissenschaften durchmisst, in die Tiefen der Geheimnisse der Natur vorstößt und deren faszinierendste Rätseln löst, so dass es ihm sogar möglich wird, die Atomkerne zu spalten und deren gewaltige Energie freizusetzen, die Himmelskörper zu erforschen und seine Projektile dorthin zu entsenden, mit Düsenflugzeugen zu reisen, und die Naturgesetze in den Dienst zu stellen, um Ergebnisse über die Entfernungen von Tausenden von Meilen in Form hörbarer Stimmen und sichtbarer Bilder zu übertragen, dieser Mensch, der innerhalb einer kurzen Zeitspanne all diese wissenschaftlichen Errungenschaften verbuchen konnte und in all seinen Kämpfen mit der Natur siegreich blieb, sollte mit seinem Wissen und seinem Scharfsinn doch in der Lage sein, eine solidarische und glückliche Gemeinschaft aufzubauen und eine Gesellschaftsordnung zu etablieren, die das Wohl der gesamten Menschheit gewährleistet. Der Mensch benötigte also keinen anderen Bezugspunkt als die Wissenschaft, die ihn in allen Bereichen von einem Sieg zum anderen geführt hat, um seine angemessene Haltung gegenüber der Gesellschaft zu entwickeln. Diese Behauptung bedeutet in Wahrheit nur die Verkennung der Aufgabe der Wissenschaft im Leben des Menschen, denn wie sehr sich die Wissenschaft auch weiterentwickeln und Fortschritte machen mag, sie bleibt stets nur ein Mittel, um in verschiedenen Bereichen die objektiven Sachverhalte zu untersuchen und die Realität unparteiisch und mit der größtmöglichsten Sorgfalt und Tiefe zu erklären. Sie lehrt uns z.B. im gesellschaftlichen Bereich, dass der Kapitalismus zur Wirksamkeit des “ehernen Lohngesetzes“[1] und zur Reduzierung des Lohnes bis zum Existenzminimum führt, genauso wie sie uns im Bereich der Natur lehrt, dass die Einnahme einer bestimmten chemischen Substanz zu einem lebensgefährlichen Krankheitszustand führt.

Wenn die Wissenschaft uns diesen oder jenen Sachverhalt verdeutlicht, hat sie vielleicht ihr Schuldigkeit getan und der Menschheit zu neuen Erkenntnissen verholfen, aber das Gespenst dieser schweren Krankheit oder dieses schrecklichen Gesetzes (das “eherne Lohngesetz“) verschwindet nicht, nur indem die Wissenschaft den Kausalzusammenhang zwischen jener bestimmten Substanz und der Krankheit, bzw. zwischen dem Kapitalismus und dem “ehernen Lohngesetz“ aufdeckt, sondern der Mensch bleibt von der Krankheit verschont, wenn er die Einnahme der krankheitserregenden Substanz vermeidet, und von dem “ehernen Lohngesetz“, indem er den kapitalistischen Rahmen der Gesellschaftsordnung abschafft. Und jetzt fragen wir uns: Was ist es, das den Menschen vor dieser Krankheit bewahrt, und was vor dieser Gesellschaftsordnung?

Was die Krankheit betrifft, so ist die Antwort klar und eindeutig, denn allein die persönliche Motivation jedes Menschen reicht aus, ihn von der Einnahme der besagten Substanz abzuhalten, deren gefährliche Wirkung die Wissenschaft entdeckt hat, weil es seinen persönlichen Interessen widersprechen würde. Was aber das “eherne Lohngesetz“ und die Abschaffung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung angeht, so ist der wissenschaftliche Befund, der den Zusammenhang zwischen dieser Gesellschaftsordnung und diesem Gesetz nachweist, keine treibende Kraft zur Aktion und Veränderung dieser Ordnung. Taten bedürfen einer Motivation, und die persönlichen Motive der Einzelnen harmonieren nicht immer, sondern unterscheiden sich entsprechend den jeweiligen persönlichen Interessen. Deshalb müssen wir unterscheiden zwischen der wissenschaftlichen Aufdeckung eines Sachverhaltes und Taten zum Wohl der Gemeinschaft im Lichte dieser Erkenntnisse. Die Wissenschaft kann lediglich einen Sachverhalt bis zu einem gewissen Grad verdeutlichen, aber sie ist es nicht, die Veränderungen schafft.

[1] Gemäß dem “ehernen Lohngesetz“ von Ferdinand Lassalle (1825-1864), sollte für eine bestimmte Arbeitsleistung der Gegenwert in Geld gesetzlich festgeschrieben werden.

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