Kapitalistische Rechtfertigungen für Zinsen und deren
Kritik
Wir haben soeben erfahren, dass das
Risiko, dem gegenüber der Islam eine negative Haltung
einnimmt, eine der Rechtfertigungen darstellt, auf die sich
der Kapitalismus bei der Erklärung von Zinsen und dem Recht
des Kapitalgebers, diese von dem Schuldner zu verlangen,
beruft. Wir erfuhren weiterhin, dass es nach der Sichtweise
des Islam ein grundsätzlicher Fehler ist, die Zinsen mit dem
Element des Risikos zu rechtfertigen, denn der Islam hält das
Risiko nicht für eine legitime Grundlage von Einkünften,
sondern macht Einkünfte von direkter oder gespeicherter Arbeit
abhängig. Außerdem scheint der Kapitalismus bei seiner
Rechtfertigung der Zinsen die Rolle der Verpfändung als
Garantie für das Kapital des Gläubigers zu vergessen, womit
das Element des Risikos bei der Kreditvergabe hinfällig wird.
Denn wie steht er zu Krediten, die durch ausreichende
Hypotheken und Sicherheiten gedeckt sind? Aber die
kapitalistischen Denker begnügen sich nicht damit, die Zinsen
mit dem Element des Risikos in Zusammenhang zu bringen und sie
in diesem Sinne zu erklären, sondern bringen eine Anzahl
weiterer Interpretationen vor, um sie ideologisch zu
rechtfertigen. So behaupten einige kapitalistische Denker,
dass der Schuldner dem Kapitalgeber Zinsen als Entschädigung
dafür zahlt, dass letzterem die Nutzung des verliehenen
Kapitals vorenthalten wird, und als Belohnung dafür, dass er
während der ganzen vereinbarten Zeitspanne auf dessen
Rückerstattung wartet, oder als Gebühr, die der Kapitalgeber
dafür verlangt, dass der Schuldner das von ihm geliehene
Kapital benutzt, vergleichbar der Miete, die ein
Hauseigentümer von einem Mieter dafür erhält, dass letzterer
es bewohnt und nutzt.
Wir erkennen im Lichte der islamischen
Theorie – so wie wir sie definiert haben – den Widerspruch
zwischen diesem Rechtfertigungsversuch und dem islamischen
Konzept der Güterverteilung. Denn wir erfuhren, dass der Islam
als Gebühr oder Vergütung bezeichnete Einkünfte nur auf der
Grundlage von Aufwendung direkter oder gespeicherter Arbeit
anerkennt. Und es gibt keine direkte oder gespeicherte Arbeit
des Kapitalgebers, die er aufwendet und die der Schuldner
verbraucht, so dass er dafür eine Gebühr zahlen müsste, da das
verliehene Kapital zu dem Kapitalgeber zurückkehren wird, ohne
dass es sich verringert hat oder etwas davon verbraucht wurde.
Es gibt also nach islamischen Maßstäben keine Rechtfertigung,
das Nehmen von Zinsen anzuerkennen, denn Einkünfte ohne
aufgewendete Arbeit widersprechen den Vorstellungen des Islam
von Gerechtigkeit. Manche rechtfertigen die Zinsen als
Ausdruck des Anrechts des Kapitalgebers auf einen Anteil an
den Gewinnen, die der Schuldner unter Verwendung des ihm zur
Verfügung gestellten Kapitals erzielt. Diese Auffassung hat
keine Relevanz für solche Kredite, die der Schuldner für seine
persönlichen Bedürfnisse verwendet, sondern belegt nur, dass
es zulässig ist, wenn der Kapitalgeber etwas von den Gewinnen
erhält, falls er sein Kapital jemanden übergibt, der damit
Geschäfte macht und es gewinnbringend nutzt. In diesem Fall
bestätigt der Islam ein solches Anrecht des Kapitalgebers,
aber damit ist eine Aufteilung der Gewinne zwischen dem
Kapitalgeber und demjenigen, der die Geschäfte ausführt, und
die Verknüpfung vom Recht des Kapitalgebers mit den
Ergebnissen der geschäftlichen Aktivität gemeint. Eine solche
Bedeutung hat im Islam die
Kapitalbeteiligung [mudaraba], bei welcher der
Kapitalgeber etwaige Verluste allein trägt, während er an den
Gewinnen des Agenten beteiligt wird, indem er einen
Prozentanteil, auf den sich beide im Vertrag einigen, erhält.
Dieses Verfahren unterscheidet sich grundsätzlich von der
Zinsnahme in ihrem kapitalistischen Bedeutungsgehalt, die dem
Kapitalgeber eine feststehende Gebühr unabhängig von der
geschäftlichen Tätigkeit dessen, der Kapital zur Verfügung
gestellt bekommt, garantiert.
Und schließlich bringt der Kapitalismus
aus der Feder einiger seiner bedeutenden Verfechter seine
stärksten Argumente für die Zinsen vor, indem er sie als
Ausdruck des Unterschieds zwischen dem gegenwärtigen und dem
zukünftigen Wert der Waren interpretiert, wobei er glaubt,
dass die Zeit eine positive Rolle bei dem Zustandekommen des
Wertes spielt. So soll der Tauschwert eines Dinars heute
größer sein, als der Tauschwert eines Dinars in der Zukunft,
und wenn man einem anderen einen Dinar für ein Jahr verleiht,
habe man nach Ablauf des Jahres das Recht, mehr als einen
Dinar zu erhalten, um so das Äquivalent vom Tauschwert des
verliehenen Dinars erstattet zu bekommen. Auch sollen sich die
dem Kapitalgeber zustehenden Zinsen mit jedem
Fälligkeitstermin vermehren, entsprechend des Unterschieds
zwischen dem ehemaligen und dem derzeitigen Wert des Dinars,
der mit dem zeitlichen Abstand zwischen Verleihung und
Rückerstattung zunimmt.
Der Gedanke bei diesem kapitalistischen
Argument geht von einem falschen Ansatz aus, nämlich der
Verknüpfung der Verteilung produzierter Güter mit der
Wert-Theorie. Hingegen ist die Theorie der Verteilung
produzierter Güter im Islam von der Wert-Theorie losgelöst,
und daher sahen wir, dass nach der islamischen
Verteilungstheorie vielen der Elemente, die an der Schaffung
des Wertes einer produzierten Ware beteiligt sind, kein Anteil
an dieser Ware zusteht, sondern dass als Gegenleistung für
deren Dienste beim Produktionsvorgang eine Gebühr vom Besitzer
der Ware verlangt werden kann. Die Verteilung produzierter
Güter beruht also im Islam nicht auf dem Tauschwert,
dergestalt, dass jedem Element der Produktion ein Anteil an
dem Produkt zustünde, der seiner Rolle bei der Schaffung von
dessen Tauschwert entspricht, sondern die Verteilung der
produzierten Güter richtet sich im Islam nach dessen
speziellen ideologischen Konzepten und Vorstellungen von
Gerechtigkeit. Nach islamischer Auffassung braucht dem
Kapitalgeber auch dann kein Zins auf den Kredit bezahlt
werden, wenn es zutrifft, dass der gegenwärtige Wert der Ware
höher als der zukünftige Wert der Ware ist. Denn dies ist in
der ideologischer Hinsicht keine ausreichende Rechtfertigung
für die Zinsnahme, welche sich auf den Unterschied zwischen
den beiden Werten beruft, da die Zinsen nicht mit den
Vorstellungen von Gerechtigkeit zu vereinbaren sind, welche
sich die Ideologie zu eigen macht.
Wir haben an früherer Stelle erfahren,
dass der Islam in ideologischer Hinsicht keinem Einkommen
zustimmt, das nicht durch die Aufwendung von direkter oder
gespeicherter Arbeit gerechtfertigt wird. Dazu gehören die
Zinsen, denn diese ergeben sich gemäß der letztgenannten
kapitalistischen Interpretation allein aus dem Faktor Zeit,
ohne aufgewendete Arbeit, und die Ideologie hat das Recht, dem
Kapitaleigner die Ausnutzung der Zeit für Einkünfte durch
Zinsen zu verbieten, selbst wenn sie die positive Rolle des
Faktors Zeit bei der Schaffung des Wertes von Sachen
eingesteht. So erkennen wir, dass es ein Fehler ist, die
Gerechtigkeit bei der Güterverteilung von der Wert-Theorie
abhängig zu machen, und dieser Fehler besteht in einer
mangelnden Differenzierung zwischen einer ideologischen und
einer wissenschaftlichen Aussage.