Prinzip der wirtschaftlichen Freiheit in begrenztem Rahmen
Der zweite Grundpfeiler der islamischen
Wirtschaft ist eine begrenzte Freiheit auf wirtschaftlicher
Ebene – umrissen durch die ideellen und moralischen Werte, an
die der Islam glaubt – die den einzelnen Mitgliedern der
Gesellschaft zuerkannt wird. Bei diesem Grundprinzip finden
wir ebenfalls deutliche Unterschiede zwischen der islamischen
Wirtschaft und der kapitalistischen bzw. sozialistischen
Wirtschaft. Denn während unter der kapitalistischen
Wirtschaftsordnung der Einzelne über unbegrenzte Freiheiten
verfügt, und während die sozialistische Wirtschaft die
Freiheiten aller unterdrückt ... nimmt der Islam einen
Standpunkt ein, welcher der allgemeinen Natur des Menschen
gerecht wird, und erlaubt es den Einzelnen, von ihren
Freiheiten in einem Rahmen von verbindlichen Werten und
Idealen Gebrauch zu machen, der die Freiheit läutert und
verfeinert, und sie zu einem Instrument des Guten für die
ganze Menschheit macht. Der Islam begrenzt die
gesellschaftliche Freiheit im wirtschaftlichen Bereich auf
zweierlei Art:
·
Erstens: Durch die
Selbstkontrolle, die aus den Tiefen der Seele entspringt, und
ihre Kraft und Wirksamkeit aus der spirituellen und geistigen
Komposition der islamischen Persönlichkeit bezieht.
·
Zweitens: Durch die objektive
Kontrolle in Gestalt einer äußeren Kraft, die das soziale
Verhalten begrenzt und regelt.
Die Selbstkontrolle wird naturgemäß durch
die besondere Erziehung herangebildet, die der Islam jedem
Einzelnen in einer islamischen Gesellschaft, d.h. einer
Gesellschaft, in welcher der Islam alle Bereiche des Lebens
bestimmt, angedeihen lässt. Denn die ideellen und spirituellen
Leitlinien, nach denen der Islam die islamische Persönlichkeit
formt, wenn ihm die Gelegenheit gegeben wird, das
gesellschaftliche Leben ungehindert zu beeinflussen und die
Geschichte nach seinen Prinzipien zu gestalten ... entfalten
dann eine enorme ideelle Kraft und große Wirksamkeit, indem
sie die Freiheit, die jedem einzelnen Menschen der islamischen
Gesellschaft gegeben ist, auf natürliche und freiwillige Weise
beschränken und ihr eine verfeinerte, angemessene Zielrichtung
geben, ohne dass der Einzelne irgendwelche Beeinträchtigung
seiner Freiheit empfindet, denn die Beschränkungen stehen im
Einklang mit seiner eigenen seelisch-geistigen Natur und er
sieht sie nicht als einengend an. Darum ist die
Selbstkontrolle in Wahrheit gar keine Beschränkung der
Freiheit, sondern ein innerer Entwicklungsprozess des freien
Menschen, der seinen Charakter so formt, dass die Freiheit
ihren wahren Zweck erfüllen kann. Diese innerliche
Selbstkontrolle hat die Natur und den Charakter der
islamischen Gesellschaft mit eindrucksvollem Erfolg und großer
Wirksamkeit geprägt, und obwohl die Phase der vollkommenen
Praktizierung des Islam kurz war, hat sie Früchte getragen und
der Menschheit beispielhaft ihre idealen und erhabenen
Möglichkeiten vor Augen geführt, und ihr ein reiches
spirituelles Erbe von Gefühlen der Gerechtigkeit, der Güte und
der Wohltätigkeit geschenkt. Und wenn es diesem Modell
bestimmt gewesen wäre, anzudauern und über einen längeren
Zeitraum der menschlichen Geschichte weiterzubestehen als die
tatsächliche kurze historische Phase, dann hätte es die
Fähigkeit des Menschen zur Stellvertreterschaft Allahs auf
Erden beweisen können, hätte eine neue Welt, erfüllt von
Gefühlen der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, geschaffen, und
hätte aus der menschlichen Seele die Elemente des Bösen und
die Antriebe der Ungerechtigkeit und Verderbnis so weit wir
irgend möglich beseitigt. Abgesehen von den erwähnten
Konsequenzen der Selbstkontrolle konnte sie allein
Rechtschaffenheit und moralisch gute Taten in der islamischen
Gesellschaft gewährleisten, nachdem der Islam seine lebendige
Praxis, seine politische Führungsrolle und seine Funktion als
soziales Leitbild verloren hatte. Und obwohl sich die Muslime
vom Geist dieses “Führungsmodells“ zeitlich viele Jahrhunderte
entfernt haben, und geistig in dem Maße, wie ihr geistig
seelisches Niveau gesunken ist, und sich an verschiedene
andere Spielarten des gesellschaftlichen und politischen
Lebens gewöhnt haben ... trotzt alledem spielt die moralische
Selbstkontrolle, deren Anlage auf die Zeit der vollkommenen
Praktizierung des Islam zurückgeht, eine positive und aktive
Rolle, indem sie rechtschaffenes und gutes Handeln
gewährleiste, wie etwa das Zahlen der Almosenabgabe [zakat]
und anderer religiöser Abgaben, und die aktive Mitwirkung an
der Verwirklichung der islamischen Vorstellung von sozialer
Gerechtigkeit. Wie bedeutend wären angesichts dieser Tatsache
erst die Erfolge gewesen, wenn jene Muslime unter einer
vollkommenen islamischen Ordnung gelebt hätten, und ihre
Gesellschaft eine vollkommene Verkörperung des Islam, seiner
Ideen, seiner Werte und seiner Politik, d.h. ein praktisches
Spiegelbild seiner Leitbilder und Ideale gewesen wäre!
Unter objektiver Kontrolle der Freiheit
verstehen wir die Grenzen, die den Individuen der islamischen
Gesellschaft von außen gesetzt werden, durch die Macht des
religiösen Gesetzes. Diese objektiven Einschränkungen der
Freiheit im Islam gründen sich auf das Prinzip, dass der
einzelne Mensch nicht die Freiheit zu Handlungen hat, welche
das heilige islamische Recht [scharia]
ausdrücklich verbietet, nämlich solche Aktivitäten, die den
Idealen und Zielen, an deren Verbindlichkeit der Islam glaubt,
widersprechen. Dieses Prinzip wird im Islam auf folgende Weise
durchgesetzt:
·
Erstens: Das
islamische Recht [scharia]
verbürgt in ihren allgemeinen Rechtsquellen das
ausdrückliche Verbot einer Anzahl von wirtschaftlichen
Aktivitäten, die – nach islamischer Ansicht – hinderlich bei
der Verwirklichung der Ideale und Werte des Islam sind, wie
Zinsgeschäfte [riba] und Monopolisierung [ihtikar]
und andere.
·
Zweitens: Das
islamische Recht [scharia]
setzt das Prinzip der Aufsicht des “verantwortlichen
Befehlshabers“ [wali-ul-amr]
über die allgemeinen gesellschaftlichen Aktivitäten und das
der Eingriffskompetenz des Staates zum Schutz und zur Wahrung
des Allgemeinwohls fest, was die Handlungsfreiheit der
einzelnen Bürger einschränkt.
Und der Islam machte dieses Prinzip
verbindlich, um die Verwirklichung seiner Ideale und
Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit für alle Zeiten zu
gewährleisten. Denn die Erfordernisse der sozialen
Gerechtigkeit, die der Islam vertritt, ändern sich
entsprechend den wirtschaftlichen Bedingungen der Gesellschaft
und der materiellen Lage, in der sie sich jeweils befindet. So
könnte eine gewisse Maßnahme zu bestimmten Zeiten schädlich
für die Gesellschaft und ihre Erfordernisse sein, eine
Angelegenheit, die sich nicht in festen konstitutionellen
Formeln vorherbestimmen lässt. Der einzige Weg ist der, dem
verantwortlichen Befehlshaber [wali-ul-amr] Vollmacht
zu geben, seine Aufgaben als beaufsichtigende und lenkende
Autorität wahrzunehmen und gemäß dem islamischen Ideal der
Gesellschaft zu entscheiden, inwieweit die Bürger die Freiheit
haben, die vom religiösen Gesetz als “indifferent“ [mubah]
bewerteten Dingen zu tun und zu lassen.
Die gesetzgeberische Quelle für das
Prinzip der Aufsicht und der staatlichen Eingriffe ist der
Qur´an, mit Allahs Wort: „... gehorcht Allah und
gehorcht dem Gesandten und Vorderen des Gebots unter euch.“
Dieses Zitat weist deutlich auf die Notwendigkeit, dem
verantwortlichen Befehlshaber [wali-ul-amr] zu
gehorchen hin, und es besteht unter den Muslimen Einigkeit,
dass “den Vorderen des Gebots (bzw. des Befehls)“ die legitime
Herrschergewalt in der islamischen Gesellschaft zukommt, auch
wenn sie verschiedener Meinung über deren Definition und deren
geforderte Eigenschaften sind. Die oberste islamische
Autorität hat also das Recht, Gehorsam zu fordern und
einzugreifen, um die Gesellschaft vor Schaden zu bewahren und
das islamische Gleichgewicht zu verwirklichen, unter der
Voraussetzung, dass diese Eingriffe im Rahmen der Bestimmungen
des heiligen islamischen Rechts [scharia] geschehen. So
ist es dem Staat, bzw. dem verantwortlichen Befehlshaber [wali-ul-amr],
nicht möglich, den Zinsprofit zu erlauben, Täuschungen zu
legalisieren, die Bestimmungen des Erbrechtes außer Kraft zu
setzen oder Eigentum, das in der Gesellschaft nach islamischen
Prinzipien garantiert wird, abzuerkennen. Es ist dem
verantwortlichen Befehlshaber [wali-ul-amr] im Islam
lediglich gestattet, hinsichtlich der gemäß dem islamischen
Rechts [scharia] “indifferenten“ Handlungen und
Verhaltensweisen einzugreifen und sie mit Blick auf das
islamische Ideal jeweils ad hoc zu verbieten oder auch zu
befehlen.
Beispielsweise sind die Urbarmachung von
Land, die Ausbeutung von Bodenschätzen, das Anlegen von
Bewässerungskanälen und andere Unternehmungen vom islamischen
Recht [scharia] im allgemeinen erlaubt, und es
definiert für jede dieser Aktivitäten ihre jeweiligen legalen
Konsequenzen. Wenn dann der verantwortliche Befehlshaber [wali-ul-amr]
es im Rahmen seiner Kompetenzen für richtig hält, irgendwelche
Unternehmungen dieser Art zu verbieten oder anzuordnen, so
steht ihm das zu, entsprechend dem oben erwähnten Prinzip.
Auch der Prophet Muhammad (s.) pflegte entsprechend diesem
Prinzip zu handeln, wenn es notwendig war und die Situation
sein Eingreifen und seine Lenkung erforderte. Ein Beispiel
dafür geht aus authentischen Überlieferungen [hadith]
hervor, wonach der Prophet unter den Bürgern von Medina über
die Bewässerung der Dattelpalmen entschied, dass niemand an
der Nutzung der Quellen gehindert werden dürfe, und wonach er
unter den Beduinen entschied, dass niemand von der Nutzung
reichlich vorhandenen Wassers und damit von überzähligem
Weideland ausgeschlossen werden dürfe; und er sagte: „Kein
Schaden und keine Schädigung.“
Für die muslimischen Rechtsgelehrten ist
es nun klar, dass es nach dem heiligen islamischen Recht [scharia]
nicht grundsätzlich verboten ist, andere von der Nutzung einer
Sache oder überreichlichem Wasser auszuschließen. Und wir
wissen in diesem Zusammenhang, dass der Prophet (s.) den
Leuten von Medina die Ausschließung anderer von der Nutzung
des überschüssigen Wassers nicht in seiner Eigenschaft als
Gesandter Allahs und Übermittler der allgemeingültigen
Bestimmungen des islamischen Rechts [scharia] verboten
hat, sondern in seiner Eigenschaft als verantwortlicher
Befehlshaber [wali-ul-amr], der dafür verantwortlich
ist, das wirtschaftliche Leben der Gemeinschaft zu regeln und
es in eine Richtung zu lenken, die nicht zum Allgemeinwohl, so
wie er es einschätzt, in Widerspruch gerät. Dies ist
vielleicht der Grund, weshalb in der Überlieferung von dem
Schiedsspruch und nicht dem Verbot [nahy] des Propheten
(s.) die Rede ist, wenn man bedenkt, dass der Schiedsspruch
eine Art von Befehl [hukm] ist.
Wir werden dieses Prinzip – das Prinzip
der Aufsicht und der Eingriffe des verantwortlichen
Befehlshabers [wali-ul-amr]
– in einem anderen Kapitel
noch ausführlicher, deutlicher und genauer umrissen behandeln.