Soziales Gleichgewicht
Wenn der Islam das Problem des sozialen
Gleichgewichts behandelt, um dessen Bewahrung zu einem
Grundsatz des Staates für seine Wirtschaftspolitik zu erheben,
dann geht er von zwei Tatsachen aus, von denen die eine
existentieller Natur und die andere ideologisch bedingt ist.
Die existentielle Tatsache ist die Unterschiedlichkeit der
einzelnen Menschen hinsichtlich ihrer psychologischen,
geistigen und körperlichen Besonderheiten und Eigenschaften.
Sie unterscheiden sich in ihrer Geduld und in ihrem Mut, in
ihrer Entschlusskraft und ihrer Zuversichtlichkeit, sie
unterscheiden sich in ihrer Verstandesschärfe, in ihrer
Auffassungsgabe und in ihrer Kreativität und Erfindungsgabe.
Weiterhin unterscheiden sie sich in ihrer Körperkraft und
Nervenstärke und in sonstigen Elementen, welche die
menschliche Persönlichkeit ausmachen, und die in
unterschiedlichen Graden auf die Individuen verteilt sind.
Diese Gegenstände sind nach der Auffassung des Islam nicht das
Ergebnis oberflächlicher Ereignisse der menschlichen
Geschichte, wie es die Verfechter des wirtschaftlichen Faktors
behaupten, die versuchen, in diesem die letztendliche
Erklärung aller Phänomene der menschlichen Geschichte zu
finden. Es ist also ein Fehler, jene Gegensätze und
Unterschiede zwischen den einzelnen Menschen durch bestimmte
gesellschaftliche Bedingungen oder bestimmte wirtschaftliche
Faktoren erklären zu wollen, denn selbst wenn diese Faktoren
und jene Umstände den Zustand der Gesellschaft als Ganzes
erklären könnten, so dass man sagen könnte, dass etwa die
Klassenstruktur des Feudalismus oder das System der
Sklavenhaltung das Ergebnis des besagten wirtschaftlichen
Faktors sei, wie es die Anhänger einer materialistischen
Interpretation der Geschichte machen ... so würden doch unter
keinen Umständen der wirtschaftliche Faktor oder irgendwelche
gesellschaftlichen Bedingungen eine ausreichende Erklärung für
das Auftreten jeder individuellen Unterschiede und Gegensätze
zwischen den einzelnen Menschen darstellen. Oder warum nimmt
diese Person die Rolle des Sklaven und jene Person die Rolle
des Herren und Eigentümers ein, und warum wird der eine
intelligent und erfindungsbegabt, während der andere sich
nicht hervortut und keine Meisterschaft erlangen kann? Und
warum vertauschen die beiden nicht ihre Rollen innerhalb des
Rahmens der allgemeinen Gesellschaftsordnung? Auf diese Frage
gibt es nur dann eine Antwort, wenn man davon ausgeht, dass
sich die Individuen hinsichtlich ihrer Begabungen und
persönlichen Möglichkeiten unterscheiden, noch bevor sie im
Klassengefüge der Gesellschaft unterschiedliche Positionen
einnehmen, so dass deren unterschiedliche Position im
Klassengefüge, innerhalb dessen jedem Einzelnen eine spezielle
Rolle zufällt, durch deren unterschiedliche Begabungen und
Möglichkeiten erklärt werden. Es ist also ein Fehler, zu
sagen, dass diese Person intelligent wurde, weil sie im
Klassengefüge die Rolle des Herrn einnahm, und dass jene
Person lethargisch wurde, weil ihr in diesem Gefüge die Rolle
des Sklaven zufiel, denn damit ursprünglich einmal der eine in
die Rolle des Sklaven und der andere in die Rolle des Herrn
versetzt wurde, muss es einen Unterschied zwischen beiden
gegeben haben, welcher es dem Herren ermöglichte, dem Sklaven
diese Verteilung der Rollen aufzuzwingen. So gelangen wir
unweigerlich zu einer letztendlichen Erklärung der sozialen
Gegensätze durch die natürlichen psychologischen Faktoren, aus
denen die individuell unterschiedlichen Merkmale und
Eigenschaften entstehen. Die Unterschiedlichkeit der einzelnen
Menschen ist eine absolute Wahrheit, und nicht das Ergebnis
eines bestimmten sozialen Rahmens. Daher kann keine
realistische Weltanschauung sie ignorieren, und keine
Gesellschaftsordnung kann sie durch gesetzgeberische Maßnahmen
oder durch eine aktive Veränderung der Art der sozialen
Beziehungen abschaffen. Dieses ist eine Tatsache.
Die zweite Gegebenheit, welche die
islamische Logik bei der Behandlung des Problems des sozialen
Gleichgewichtes berücksichtigt, ist das ideologische Prinzip
des Islam bei der Güterverteilung, wonach die Arbeit Grundlage
des Eigentums und der damit verbundenen Rechte ist. Wir haben
dieses Prinzip bereits in den Kapiteln über die
Güterverteilung dargelegt und seinen ideologischen Gehalt in
aller Ausführlichkeit untersucht. Wir wollen nun diese beiden
Tatsachen miteinander kombinieren, um zu erfahren, wie der
Islam davon ausgehend das Problem des sozialen Gleichgewichts
behandelt. Die Konsequenz der Anerkennung dieser beiden
Tatsachen ist es, das Auftreten von Unterschieden beim
Reichtum der Einzelpersonen zu erlauben.
Wenn wir uns etwa eine Gruppe von
Menschen vorstellen, die ein Stück Land besiedeln und
kultivieren und dort eine Gemeinschaft begründen, wobei sie
ihre Beziehungen untereinander nach dem Grundsatz regeln, dass
Eigentum nur durch Arbeit entsteht, und niemand von ihnen
einen anderen in irgendeiner Weise ausbeutet ..., dann werden
wir nach einer gewissen Zeit dennoch finden, dass jene
Menschen sich hinsichtlich ihres Reichtums unterscheiden, als
Folge ihrer unterschiedlichen geistigen, seelischen und
körperlichen Eigenschaften. Diese Unterschiede billigt der
Islam, weil sie sich aus den beiden Tatsachen ergeben, an die
er gleichermaßen glaubt, und er sieht darin keine Gefahr für
das soziale Gleichgewicht und keinen Widerspruch dazu. Auf
dieser Grundlage stellt der Islam fest, dass das soziale
Gleichgewicht im Rahmen der Anerkennung dieser beiden
Tatsachen verstanden werden muss. Damit gelangt der Islam zu
der Aussage, dass das soziale Gleichgewicht als
Ausgeglichenheit des Lebensstandards zu verstehen ist, und
nicht als Nivellierung der Höhe des Einkommens. Und
Ausgeglichenheit des Lebensstandards bedeutet, dass bei den
einzelnen Mitgliedern der Gesellschaft so viel Vermögen
vorhanden und verbreitet ist, dass jeder die Möglichkeit hat,
nach dem allgemeinen Standard zu leben, d.h. dass sämtliche
Individuen ihr Leben auf einem vergleichbaren Niveau führen
können, wobei innerhalb dieses einen Niveaus Abstufungen
gewahrt werden, Kraft derer sich der Lebensunterhalt
unterscheiden kann, aber dies ist ein gradueller Unterschied,
und kein totaler Gegensatz im Standard, wie etwa bei den
schreienden Gegensätzen im Lebensstandard der kapitalistischen
Gesellschaft. Das bedeutet auch nicht, dass der Islam die
sofortige Herbeiführung dieses Gleichgewichtszustandes
verlangen würde, sondern es bedeutet, dass die soziale
Ausgeglichenheit im Lebensstandard als ein Ziel gesetzt wird,
welches zu verwirklichen und zu erreichen der Staat mit
verschiedenen Mitteln und Wegen, die im Rahmen seiner
Kompetenzen liegen, anstreben soll.
Der Islam wirkt seinerseits auf die
Erreichung dieses Zieles hin, indem er durch das Verbot von
Verschwendung von oben Druck auf den Lebensstandard ausübt,
und indem er durch die Anhebung des Lebensstandards
derjenigen, die auf einem niedrigen Niveau leben, auf ein
höheres Niveau von unten Druck ausübt. Damit nähern sich die
Standards einander an, bis sie sich letztlich zu einem
gemeinsamen Niveau vereinigen, das vielleicht Abstufungen
enthält, aber nicht die schreienden Gegensätze des
Lebensstandards wie im Kapitalismus. Unser derartiges
Verständnis vom Prinzip des sozialen Gleichgewichtes im Islam
beruht auf einer gründlichen Untersuchung der islamischen
Textquellen, bei der ersichtlich wird, dass diese Texte an das
soziale Gleichgewicht als Ziel glauben, dass sie diesem Ziel
den gleichen Gehalt geben, den wir erläutert haben, und dass
sie den Auftrag an den Staat bekräftigen, den Lebensstandard
derjenigen anzuheben, die auf einem niedrigen Niveau leben,
und so eine Annäherung der verschiedenen Standards aneinander
zu bewirken, womit beabsichtigt wird, letztlich zu einem
Zustand der allgemeinen Ausgeglichenheit des Lebensstandards
zu gelangen. So heißt es in einer Überlieferung, dass Imam
Musa ibn Dschafar (a.) zur Definition der Verantwortlichkeit
des Statthalter [wali] hinsichtlich der als Almosen [zakat]
erhobenen Güter ausgeführt habe:
„Der
Befehlshaber zieht die Güter ein und verwendet sie im
Sinne Allahs in acht Teilen für die Armen und die Bedürftigen
und die anderen im Qur´an genannten Gruppen, denen er jeweils
soviel zuteilt, dass sie ohne Mangel und Verstellung ein Jahr
lang damit auskommen. Wenn dann noch etwas übrig bleibt, geht
es an den Befehlshaber
zurück. Wenn sie aber dazu nicht ausreichen, und die Empfänger
damit nicht auskommen, dann muss der
Befehlshaber sie aus der
Staatskasse soweit versorgen, wie sie benötigen, um keinen
Mangel zu leiden.“
Diese Überlieferungs-Text stellt klar,
dass das letztendliche Ziel, um dessen Verwirklichung sich der
Islam bemüht und wofür er die Verantwortung dem
verantwortlichen Befehlshaber
[wali-ul-amr] überträgt, darin besteht, jeden Einzelnen
in der islamischen Gesellschaft frei von Mangel zu machen.
Genau das finden wir in den Worten von al-Schaibani bestätigt,
welche Schams ud-Din al-Sarachsi in dem Buch “al-Mabsut“
zitiert: „Dem Imam obliegt es bei der Verwendung der Güter
für deren Empfänger gottesehrfürchtig zu handeln und jedem
Armen seinen rechtmäßigen Anteil von den
Spenden [sadaka]
zu geben, bis es für ihn und seine Angehörigen ausreicht. Wenn
aber einige Muslime bedürftig bleiben, während in der
Staatskasse nichts mehr von den Spenden [sadaka] übrig ist,
dann muss ihnen der Imam ihren Bedarf aus der
Grundbesitzersatzabgabe-Kasse aushändigen, wobei dies nicht
als Verbindlichkeit zu Lasten der Kasse für Spenden [sadaka]
gilt, denn wir haben erklärt, dass die Grundbesitzersatzabgabe
[charadsch] und vergleichbare Abgaben für den Bedarf der
Muslime verwendet werden sollen.“
Die Verbreitung von “Reichtum“ ist also
das Ziel, welches in diesen Texten dem Imam vorgegeben wird.
Um den islamischen Begriffsinhalt von
“Reichtum“ zu erfahren, müssen wir ihn ebenfalls im Lichte der
Textquellen definieren, und wenn wir uns diese vornehmen,
bemerken wir, dass sie den “Reichtum“ zur endgültigen Grenze
für den Empfang der
Almosen [zakat]
machen, d.h. sie erlauben die Aushändigung von Mitteln aus den
Almosen [zakat] an einen Armen, bis er “reich“ ist, und
verbieten sie danach, wie es in einer Überlieferung von Imam
Dschafar al-Sadiq (a.) heißt: „Er (der
Befehlshaber)
gibt ihm von den Almosen [zakat], bis er ihn 'reich' gemacht
hat.“
Der “Reichtum“, zu dem der Islam schließlich jeden Einzelnen
verhelfen will, ist also jener “Reichtum“, den er zu einer
Trennungslinie zwischen der Zuteilung von Almosen [zakat]
und der Unzulässigkeit von deren Empfang gemacht hat.
Wir müssen ein
weiteres Mal die Texte konsultieren, und die Natur jener
Grenze untersuchen, welche zwischen der Zulässigkeit und der
Unzulässigkeit des Empfangs von Almosen [zakat] gesetzt
sind, um so den Begriffsinhalt von “Reichtum“ im Islam zu
erkennen. Bei dieser Stufe der Abteilung der islamischen
“Theorie“ aus den islamischen Bestimmungen können wir die
Natur jener Grenzen im Lichte einer von Abu Baschir
überlieferten Überlieferung erkennen, der Imam Dschafar
al-Sadiq (a.) befragt hatte: „Angenommen ein Mann besitzt
800 Dirhams, und er ist ein Schuhmacher und hat viele
Angehörige, ist er dann zum Empfang der Almosen [zakat]
berechtigt?“ Daraufhin fragte der Imam (a.): „Oh Abu
Muhammad, reichen seine Dirhams dazu aus, dass er davon seine
Familie ernähren kann und noch einen Überschuss hat?“ Abu
Baschir sagte: „Ja.“ Da sagte der Imam (a.): „Wenn
nach seinen Aufwendungen für den Lebensunterhalt noch einmal
die Hälfte dieser Summe übrig bleibt, dann erhält er keine
Almosen [zakat], und wenn weniger als die Hälfte der für den
Lebensunterhalt erforderlichen Summe übrig bleibt, dann
bekommt er die Almosen [zakat]. Und was er als Almosen [zakat]
bekommt, soll er an seine Angehörigen verteilen, so dass er
ihnen Anschluss an den allgemeinen Lebensstandard verschafft.“
Angesichts dieser Textquelle erkennen wir, dass im Islam unter
“Reichtum“ die Fähigkeit des Einzelnen verstanden wird, für
sich selbst und seine Angehörigen aufzukommen, so dass er
“Anschluss an die Allgemeinheit“ gewinnt und auf einen
üblichen Standard ohne Mangel und Verstellung leben
kann. So gelangen wir über eine Kette von Begriffsinhalten zu
dem Verständnis des Islam von sozialen Gleichgewicht, und
erkennen, dass der Islam, wenn er das soziale Gleichgewicht zu
einem Ziel erhebt und den verantwortlichen
Befehlshaber [wali-ul-amr]
für dessen Verwirklichung mit den gesetzlichen
vorgeschriebenen Methoden verantwortlich macht, gleichzeitig
sein Konzept des sozialen Gleichgewichts konkret darlegt, und
erklärt, dass es realisiert wird, indem jedem Einzelnen zu
“Reichtum“ verholfen wird. Das
islamisches Recht [scharia] verwendet diesen
Begriff des “Reichtums“, indem es ihn zur Trennungslinie
zwischen der Zulässigkeit und der Unzulässigkeit des Empfangs
von Almosen [zakat]
macht, und es erklärt diese Grenze in anderen Textquellen als
den Grad von Erleichterung des Lebens eines Einzelnen, der ihm
Anschluss an den allgemeinen Lebensstandard verschafft. So
liefern uns diese Textquellen den islamischen Begriffsinhalt
von “Reichtum“, von dem wir erfuhren, dass das Prinzip des
sozialen Gleichgewichts zum Ziel hat, ihn der Allgemeinheit zu
ermöglichen, und dass seine Verbreitung eine Voraussetzung für
die Verwirklichung des sozialen Gleichgewichtes ist.
Damit
vervollständigt sich in unserem Bewusstsein eine konkrete
Vorstellung von dem islamischen Prinzip des sozialen
Gleichgewichtes, und wir erkennen als das dem verantwortlichen
Befehlshaber
[wali-ul-amr] gesetzte Ziel, derart auf den Anschluss
der zurückgebliebenen Personen an einen höheren Lebensstandard
hinzuwirken, dass ein allgemeines Niveau des Lebens in
Wohlstand erreicht wird. Ebenso wie der Islam das Prinzip des
sozialen Gleichgewichtes propagiert und dessen Begriffsinhalt
definiert, gewährleistet er auch, dass dem Staat die
notwendigen Instrumente zur Verfügung stehen, um dieses
Prinzip im Rahmen seiner Möglichkeiten in die Praxis
umzusetzen. Diese Instrumente des Islam zur Schaffung des
sozialen Gleichgewichtes lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Erstens: Die
Auferlegung unveränderlicher Steuern, die kontinuierlich
eingezogen und zugunsten des allgemeinen sozialen Ausgleichs
verwendet werden.
Zweitens: Die
Schaffung von Sektoren des staatlichen Eigentums, welche der
Staat zu Zwecken des sozialen Ausgleichs nutzen soll.
Drittens: Die
Natur der islamischen Gesetzgebung, welche das
Wirtschaftsleben in verschiedenen Bereichen regelt.