Unsere Wirtschaft

Unsere Wirtschaft / Iqtisaduna

Muhammad Baqir al-Sadr

Soziales Gleichgewicht

Wenn der Islam das Problem des sozialen Gleichgewichts behandelt, um dessen Bewahrung zu einem Grundsatz des Staates für seine Wirtschaftspolitik zu erheben, dann geht er von zwei Tatsachen aus, von denen die eine existentieller Natur und die andere ideologisch bedingt ist. Die existentielle Tatsache ist die Unterschiedlichkeit der einzelnen Menschen hinsichtlich ihrer psychologischen, geistigen und körperlichen Besonderheiten und Eigenschaften. Sie unterscheiden sich in ihrer Geduld und in ihrem Mut, in ihrer Entschlusskraft und ihrer Zuversichtlichkeit, sie unterscheiden sich in ihrer Verstandesschärfe, in ihrer Auffassungsgabe und in ihrer Kreativität und Erfindungsgabe. Weiterhin unterscheiden sie sich in ihrer Körperkraft und Nervenstärke und in sonstigen Elementen, welche die menschliche Persönlichkeit ausmachen, und die in unterschiedlichen Graden auf die Individuen verteilt sind. Diese Gegenstände sind nach der Auffassung des Islam nicht das Ergebnis oberflächlicher Ereignisse der menschlichen Geschichte, wie es die Verfechter des wirtschaftlichen Faktors behaupten, die versuchen, in diesem die letztendliche Erklärung aller Phänomene der menschlichen Geschichte zu finden. Es ist also ein Fehler, jene Gegensätze und Unterschiede zwischen den einzelnen Menschen durch bestimmte gesellschaftliche Bedingungen oder bestimmte wirtschaftliche Faktoren erklären zu wollen, denn selbst wenn diese Faktoren und jene Umstände den Zustand der Gesellschaft als Ganzes erklären könnten, so dass man sagen könnte, dass etwa die Klassenstruktur des Feudalismus oder das System der Sklavenhaltung das Ergebnis des besagten wirtschaftlichen Faktors sei, wie es die Anhänger einer materialistischen Interpretation der Geschichte machen ... so würden doch unter keinen Umständen der wirtschaftliche Faktor oder irgendwelche gesellschaftlichen Bedingungen eine ausreichende Erklärung für das Auftreten jeder individuellen Unterschiede und Gegensätze zwischen den einzelnen Menschen darstellen. Oder warum nimmt diese Person die Rolle des Sklaven und jene Person die Rolle des Herren und Eigentümers ein, und warum wird der eine intelligent und erfindungsbegabt, während der andere sich nicht hervortut und keine Meisterschaft erlangen kann? Und warum vertauschen die beiden nicht ihre Rollen innerhalb des Rahmens der allgemeinen Gesellschaftsordnung? Auf diese Frage gibt es nur dann eine Antwort, wenn man davon ausgeht, dass sich die Individuen hinsichtlich ihrer Begabungen und persönlichen Möglichkeiten unterscheiden, noch bevor sie im Klassengefüge der Gesellschaft unterschiedliche Positionen einnehmen, so dass deren unterschiedliche Position im Klassengefüge, innerhalb dessen jedem Einzelnen eine spezielle Rolle zufällt, durch deren unterschiedliche Begabungen und Möglichkeiten erklärt werden. Es ist also ein Fehler, zu sagen, dass diese Person intelligent wurde, weil sie im Klassengefüge die Rolle des Herrn einnahm, und dass jene Person lethargisch wurde, weil ihr in diesem Gefüge die Rolle des Sklaven zufiel, denn damit ursprünglich einmal der eine in die Rolle des Sklaven und der andere in die Rolle des Herrn versetzt wurde, muss es einen Unterschied zwischen beiden gegeben haben, welcher es dem Herren ermöglichte, dem Sklaven diese Verteilung der Rollen aufzuzwingen. So gelangen wir unweigerlich zu einer letztendlichen Erklärung der sozialen Gegensätze durch die natürlichen psychologischen Faktoren, aus denen die individuell unterschiedlichen Merkmale und Eigenschaften entstehen. Die Unterschiedlichkeit der einzelnen Menschen ist eine absolute Wahrheit, und nicht das Ergebnis eines bestimmten sozialen Rahmens. Daher kann keine realistische Weltanschauung sie ignorieren, und keine Gesellschaftsordnung kann sie durch gesetzgeberische Maßnahmen oder durch eine aktive Veränderung der Art der sozialen Beziehungen abschaffen. Dieses ist eine Tatsache.

Die zweite Gegebenheit, welche die islamische Logik bei der Behandlung des Problems des sozialen Gleichgewichtes berücksichtigt, ist das ideologische Prinzip des Islam bei der Güterverteilung, wonach die Arbeit Grundlage des Eigentums und der damit verbundenen Rechte ist. Wir haben dieses Prinzip bereits in den Kapiteln über die Güterverteilung dargelegt und seinen ideologischen Gehalt in aller Ausführlichkeit untersucht. Wir wollen nun diese beiden Tatsachen miteinander kombinieren, um zu erfahren, wie der Islam davon ausgehend das Problem des sozialen Gleichgewichts behandelt. Die Konsequenz der Anerkennung dieser beiden Tatsachen ist es, das Auftreten von Unterschieden beim Reichtum der Einzelpersonen zu erlauben.

Wenn wir uns etwa eine Gruppe von Menschen vorstellen, die ein Stück Land besiedeln und kultivieren und dort eine Gemeinschaft begründen, wobei sie ihre Beziehungen untereinander nach dem Grundsatz regeln, dass Eigentum nur durch Arbeit entsteht, und niemand von ihnen einen anderen in irgendeiner Weise ausbeutet ..., dann werden wir nach einer gewissen Zeit dennoch finden, dass jene Menschen sich hinsichtlich ihres Reichtums unterscheiden, als Folge ihrer unterschiedlichen geistigen, seelischen und körperlichen Eigenschaften. Diese Unterschiede billigt der Islam, weil sie sich aus den beiden Tatsachen ergeben, an die er gleichermaßen glaubt, und er sieht darin keine Gefahr für das soziale Gleichgewicht und keinen Widerspruch dazu. Auf dieser Grundlage stellt der Islam fest, dass das soziale Gleichgewicht im Rahmen der Anerkennung dieser beiden Tatsachen verstanden werden muss. Damit gelangt der Islam zu der Aussage, dass das soziale Gleichgewicht als Ausgeglichenheit des Lebensstandards zu verstehen ist, und nicht als Nivellierung der Höhe des Einkommens. Und Ausgeglichenheit des Lebensstandards bedeutet, dass bei den einzelnen Mitgliedern der Gesellschaft so viel Vermögen vorhanden und verbreitet ist, dass jeder die Möglichkeit hat, nach dem allgemeinen Standard zu leben, d.h. dass sämtliche Individuen ihr Leben auf einem vergleichbaren Niveau führen können, wobei innerhalb dieses einen Niveaus Abstufungen gewahrt werden, Kraft derer sich der Lebensunterhalt unterscheiden kann, aber dies ist ein gradueller Unterschied, und kein totaler Gegensatz im Standard, wie etwa bei den schreienden Gegensätzen im Lebensstandard der kapitalistischen Gesellschaft. Das bedeutet auch nicht, dass der Islam die sofortige Herbeiführung dieses Gleichgewichtszustandes verlangen würde, sondern es bedeutet, dass die soziale Ausgeglichenheit im Lebensstandard als ein Ziel gesetzt wird, welches zu verwirklichen und zu erreichen der Staat mit verschiedenen Mitteln und Wegen, die im Rahmen seiner Kompetenzen liegen, anstreben soll.

Der Islam wirkt seinerseits auf die Erreichung dieses Zieles hin, indem er durch das Verbot von Verschwendung von oben Druck auf den Lebensstandard ausübt, und indem er durch die Anhebung des Lebensstandards derjenigen, die auf einem niedrigen Niveau leben, auf ein höheres Niveau von unten Druck ausübt. Damit nähern sich die Standards einander an, bis sie sich letztlich zu einem gemeinsamen Niveau vereinigen, das vielleicht Abstufungen enthält, aber nicht die schreienden Gegensätze des Lebensstandards wie im Kapitalismus. Unser derartiges Verständnis vom Prinzip des sozialen Gleichgewichtes im Islam beruht auf einer gründlichen Untersuchung der islamischen Textquellen, bei der ersichtlich wird, dass diese Texte an das soziale Gleichgewicht als Ziel glauben, dass sie diesem Ziel den gleichen Gehalt geben, den wir erläutert haben, und dass sie den Auftrag an den Staat bekräftigen, den Lebensstandard derjenigen anzuheben, die auf einem niedrigen Niveau leben, und so eine Annäherung der verschiedenen Standards aneinander zu bewirken, womit beabsichtigt wird, letztlich zu einem Zustand der allgemeinen Ausgeglichenheit des Lebensstandards zu gelangen. So heißt es in einer Überlieferung, dass Imam Musa ibn Dschafar (a.) zur Definition der Verantwortlichkeit des Statthalter [wali] hinsichtlich der als Almosen [zakat] erhobenen Güter ausgeführt habe:

 „Der Befehlshaber zieht die Güter ein und verwendet sie im Sinne Allahs in acht Teilen für die Armen und die Bedürftigen und die anderen im Qur´an genannten Gruppen, denen er jeweils soviel zuteilt, dass sie ohne Mangel und Verstellung ein Jahr lang damit auskommen. Wenn dann noch etwas übrig bleibt, geht es an den Befehlshaber zurück. Wenn sie aber dazu nicht ausreichen, und die Empfänger damit nicht auskommen, dann muss der Befehlshaber sie aus der Staatskasse soweit versorgen, wie sie benötigen, um keinen Mangel zu leiden.“

Diese Überlieferungs-Text stellt klar, dass das letztendliche Ziel, um dessen Verwirklichung sich der Islam bemüht und wofür er die Verantwortung dem verantwortlichen Befehlshaber [wali-ul-amr] überträgt, darin besteht, jeden Einzelnen in der islamischen Gesellschaft frei von Mangel zu machen. Genau das finden wir in den Worten von al-Schaibani bestätigt, welche Schams ud-Din al-Sarachsi in dem Buch “al-Mabsut“ zitiert: „Dem Imam obliegt es bei der Verwendung der Güter für deren Empfänger gottesehrfürchtig zu handeln und jedem Armen seinen rechtmäßigen Anteil von den Spenden [sadaka] zu geben, bis es für ihn und seine Angehörigen ausreicht. Wenn aber einige Muslime bedürftig bleiben, während in der Staatskasse nichts mehr von den Spenden [sadaka] übrig ist, dann muss ihnen der Imam ihren Bedarf aus der Grundbesitzersatzabgabe-Kasse aushändigen, wobei dies nicht als Verbindlichkeit zu Lasten der Kasse für Spenden [sadaka] gilt, denn wir haben erklärt, dass die Grundbesitzersatzabgabe [charadsch] und vergleichbare Abgaben für den Bedarf der Muslime verwendet werden sollen.“

Die Verbreitung von “Reichtum“ ist also das Ziel, welches in diesen Texten dem Imam vorgegeben wird.

Um den islamischen Begriffsinhalt von “Reichtum“ zu erfahren, müssen wir ihn ebenfalls im Lichte der Textquellen definieren, und wenn wir uns diese vornehmen, bemerken wir, dass sie den “Reichtum“ zur endgültigen Grenze für den Empfang der Almosen [zakat] machen, d.h. sie erlauben die Aushändigung von Mitteln aus den Almosen [zakat] an einen Armen, bis er “reich“ ist, und verbieten sie danach, wie es in einer Überlieferung von Imam Dschafar al-Sadiq (a.) heißt: „Er (der Befehlshaber) gibt ihm von den Almosen [zakat], bis er ihn 'reich' gemacht hat.“ Der “Reichtum“, zu dem der Islam schließlich jeden Einzelnen verhelfen will, ist also jener “Reichtum“, den er zu einer Trennungslinie zwischen der Zuteilung von Almosen [zakat] und der Unzulässigkeit von deren Empfang gemacht hat.

Wir müssen ein weiteres Mal die Texte konsultieren, und die Natur jener Grenze untersuchen, welche zwischen der Zulässigkeit und der Unzulässigkeit des Empfangs von Almosen [zakat] gesetzt sind, um so den Begriffsinhalt von “Reichtum“ im Islam zu erkennen. Bei dieser Stufe der Abteilung der islamischen “Theorie“ aus den islamischen Bestimmungen können wir die Natur jener Grenzen im Lichte einer von Abu Baschir überlieferten Überlieferung erkennen, der Imam Dschafar al-Sadiq (a.) befragt hatte: „Angenommen ein Mann besitzt 800 Dirhams, und er ist ein Schuhmacher und hat viele Angehörige, ist er dann zum Empfang der Almosen [zakat] berechtigt?“ Daraufhin fragte der Imam (a.): „Oh Abu Muhammad, reichen seine Dirhams dazu aus, dass er davon seine Familie ernähren kann und noch einen Überschuss hat?“ Abu Baschir sagte: „Ja.“ Da sagte der Imam (a.): „Wenn nach seinen Aufwendungen für den Lebensunterhalt noch einmal die Hälfte dieser Summe übrig bleibt, dann erhält er keine Almosen [zakat], und wenn weniger als die Hälfte der für den Lebensunterhalt erforderlichen Summe übrig bleibt, dann bekommt er die Almosen [zakat]. Und was er als Almosen [zakat] bekommt, soll er an seine Angehörigen verteilen, so dass er ihnen Anschluss an den allgemeinen Lebensstandard verschafft.“ Angesichts dieser Textquelle erkennen wir, dass im Islam unter “Reichtum“ die Fähigkeit des Einzelnen verstanden wird, für sich selbst und seine Angehörigen aufzukommen, so dass er “Anschluss an die Allgemeinheit“ gewinnt und auf einen üblichen Standard ohne Mangel und Verstellung leben kann. So gelangen wir über eine Kette von Begriffsinhalten zu dem Verständnis des Islam von sozialen Gleichgewicht, und erkennen, dass der Islam, wenn er das soziale Gleichgewicht zu einem Ziel erhebt und den verantwortlichen Befehlshaber [wali-ul-amr] für dessen Verwirklichung mit den gesetzlichen vorgeschriebenen Methoden verantwortlich macht, gleichzeitig sein Konzept des sozialen Gleichgewichts konkret darlegt, und erklärt, dass es realisiert wird, indem jedem Einzelnen zu “Reichtum“ verholfen wird. Das islamisches Recht [scharia] verwendet diesen Begriff des “Reichtums“, indem es ihn zur Trennungslinie zwischen der Zulässigkeit und der Unzulässigkeit des Empfangs von Almosen [zakat] macht, und es erklärt diese Grenze in anderen Textquellen als den Grad von Erleichterung des Lebens eines Einzelnen, der ihm Anschluss an den allgemeinen Lebensstandard verschafft. So liefern uns diese Textquellen den islamischen Begriffsinhalt von “Reichtum“, von dem wir erfuhren, dass das Prinzip des sozialen Gleichgewichts zum Ziel hat, ihn der Allgemeinheit zu ermöglichen, und dass seine Verbreitung eine Voraussetzung für die Verwirklichung des sozialen Gleichgewichtes ist.

Damit vervollständigt sich in unserem Bewusstsein eine konkrete Vorstellung von dem islamischen Prinzip des sozialen Gleichgewichtes, und wir erkennen als das dem verantwortlichen Befehlshaber [wali-ul-amr] gesetzte Ziel, derart auf den Anschluss der zurückgebliebenen Personen an einen höheren Lebensstandard hinzuwirken, dass ein allgemeines Niveau des Lebens in Wohlstand erreicht wird. Ebenso wie der Islam das Prinzip des sozialen Gleichgewichtes propagiert und dessen Begriffsinhalt definiert, gewährleistet er auch, dass dem Staat die notwendigen Instrumente zur Verfügung stehen, um dieses Prinzip im Rahmen seiner Möglichkeiten in die Praxis umzusetzen. Diese Instrumente des Islam zur Schaffung des sozialen Gleichgewichtes lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Erstens: Die Auferlegung unveränderlicher Steuern, die kontinuierlich eingezogen und zugunsten des allgemeinen sozialen Ausgleichs verwendet werden.

Zweitens: Die Schaffung von Sektoren des staatlichen Eigentums, welche der Staat zu Zwecken des sozialen Ausgleichs nutzen soll.

Drittens: Die Natur der islamischen Gesetzgebung, welche das Wirtschaftsleben in verschiedenen Bereichen regelt.

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