Von der wirtschaftlichen Gesetzgebung des Islam gelassener
Freiraum
Wenn wir auf die von der wirtschaftlichen
Gesetzgebung des Islam nicht abgedeckten Bereiche zu sprechen
kommen, müssen wir diesem Freiraum eine große Bedeutung für
den “Entdeckungsprozess“ der islamischen Wirtschaftsideologie
zumessen, denn er verkörpert einen Aspekt dieser Ideologie.
Die Wirtschaftsideologie im Islam umfasst zwei Seiten:
Einerseits den Bereich, den der Islam durch die Bestimmungen
des islamischen Rechts [scharia]
vollständig und in einer Form, die keinerlei Veränderung und
Umwandlung zulässt, geregelt hat; der andere Bereich bildet
einen Freiraum in der Ideologie, den auszufüllen der Islam dem
Staat bzw. dem verantwortlichen Befehlshaber [wali-ul-amr]
überlässt, und zwar mit Rücksicht auf die allgemeinen Ziele
der islamischen Wirtschaft und deren Erfordernisse zu jeder
historischen Zeit.
Wenn wir von einem “Freiraum“ sprechen,
so meinen wir das im Hinblick auf das
islamische Recht [scharia] und deren
gesetzgeberische Textquellen, und nicht mit Blick auf die
angewandte Praxis des Islam, wie sie die Umma zur Zeit des
Prophetentums Muhammad (s.) erlebte. Denn der größte Prophet
füllte diesen Freiraum mit Rücksicht auf die Bedingungen,
unter denen die islamische Gemeinschaft seinerzeit lebte, und
entsprechend den Erfordernissen der Ziele des
islamischen Rechts [scharia] für den Bereich der
Wirtschaft aus, auch wenn er diese Aufgabe nicht in seiner
Eigenschaft als Prophet und Übermittler des göttlichen
Gesetzes, das überall und zu jeder Zeit unverändert gültig
bleibt, ausführte, so dass mit der speziellen Art und Weise,
mit der gemäß Leben [sira] des Propheten diese
Freiräume ausgefüllt wurden, Formeln von unveränderlicher
gesetzlicher Verbindlichkeit geprägt worden wären, sondern er
füllte den Freiraum in seiner Eigenschaft als verantwortlicher
Befehlshaber [wali-ul-amr] aus, der seitens des
islamischen Rechts [scharia] damit betraut ist,
diese Aufgabe entsprechend den Umständen und Erfordernissen
seiner Zeit wahrzunehmen. Wir wollen aus dem bisher Gesagten
die folgenden Schlussfolgerungen ableiten:
·
Erstens: Eine Einschätzung der
Wirtschaftsideologie im Islam kann nicht darauf verzichten,
deren Freiraum in die Untersuchung miteinzubeziehen, und die
Möglichkeiten, die dieser Freiraum bietet, zu würdigen, und zu
überlegen, in welchem Maße das Ausfüllen dieses Freiraumes und
der Bereich, der von Anfang an vom
islamischen Recht [scharia] abgedeckt wurde, bei
der Verwirklichung der Ziele der islamischen
Wirtschaftsideologie zusammenwirken können. Wenn wir den
Freiraum und dessen gewichtige Rolle vernachlässigen, so
bedeutet das, die Möglichkeiten der islamischen Wirtschaft zu
beschneiden, und nur die statischen und nicht die dynamischen
Elemente in ihr zu sehen.
·
Zweitens: Die Verordnungen, mit
denen der Prophet Muhammad (s.) den Freiraum der Ideologie in
seiner Eigenschaft als verantwortlicher Befehlshaber [wali-ul-amr]
ausfüllte, sind ihrer Natur nach keine immer gültigen
Bestimmungen, denn der Prophet (s.) hat sie in diesem Fall
nicht als Übermittler allgemeinverbindlicher, unveränderlicher
Bestimmungen, sondern als Regent [hakim] und
Statthalter [wali] der Muslime erlassen. Sie können
also nicht als fester Bestandteil der Wirtschaftsideologie im
Islam angesehen werden, aber sie beleuchten in hohem Maße die
Art und Weise, in der der Freiraum zu jeder Zeit entsprechend
den jeweiligen Umständen ausgefüllt werden muss, und
erleichtern das Verständnis der grundsätzlichen Ziele, die der
Prophet mit seiner Wirtschaftspolitik verfolgte, was hilfreich
ist, um den Freiraum in einem zukünftigen Islamischen Staat
immer mit Blick auf diese Ziele auszufüllen.
·
Drittens: Aus dem selben Grund
ist die Praktizierung der im Islam enthaltenen
Wirtschaftsideologie vollständig anhängen vom richtigen
Herrschaftssystem, denn wenn kein Herrscher oder
Regierungsapparat zur Verfügung steht, der mit den gleichen
Qualitäten ausgestattet ist, wie es der größte aller Propheten
war, (in dessen Eigenschaft als Regent, nicht als Prophet),
kann der Freiraum der Wirtschaftsideologie nicht so ausgefüllt
werden, wie es die islamischen Ziele den jeweiligen Umständen
entsprechend erfordern würden, so dass es kaum möglich wird,
die Wirtschaftslehre vollständig in die Praxis umzusetzen, in
einer Weise, dass wir ihre Früchte ernten und ihre Ziele
erreichen könnten.
Es ist offenkundig, dass es nicht die
Aufgabe dieses Buches sein kann, das die islamische
Wirtschaftsideologie untersucht, sich mit dem Regierungssystem
im Islam zu befassen, bzw. mit den Eigenschaften der Personen
oder der Art des Regierungsapparates, die jeweils als
legitimer Nachfolger des Propheten (s.), mit dessen
Kompetenzen als Befehlshaber und Regenten, geeignet wären,
oder mit den Bedingungen, welche die jeweiligen Personen oder
diese Institution erfüllen müssen. All das übersteigt den
Rahmen dieses Buches. Deshalb werden wir in den detaillierten
Untersuchungen dieses Buches die Existenz eines legitimen
Regenten, dem der Islam die Ausübung der gleichen
Herrscherkompetenzen, wie sie seinerzeit dem Propheten (s.)
zukamen, gestattet, theoretisch voraussetzen, und diese
Annahme wird die Erörterung der Wirtschaftsideologie und des
Freiraumes in ihr, wie auch eine Vorstellung von den Zielen,
die sie erreichen und den Früchten, die sie bringen kann,
erleichtern.
Aber weshalb wurde in der islamischen
Wirtschaftsideologie ein Freiraum gelassen, der nicht von
Anfang an durch feststehende Bestimmungen seitens des
islamischen Rechts [scharia] abgedeckt wird? Und
welches Konzept rechtfertigt die Existenz dieses Freiraumes,
und dass es dem Befehlshaber
überlassen bleibt, ihn auszufüllen? Wo liegen im Übrigen, mit
Blick auf die Belege der Rechtswissenschaft [fiqh], die
Grenzen dieses Freiraumes? Wir werden alle diese Fragen in
späteren Kapiteln beantworten.