Unsere Wirtschaft

Unsere Wirtschaft / Iqtisaduna

Muhammad Baqir al-Sadr

Von der wirtschaftlichen Gesetzgebung des Islam gelassener Freiraum

Wenn wir auf die von der wirtschaftlichen Gesetzgebung des Islam nicht abgedeckten Bereiche zu sprechen kommen, müssen wir diesem Freiraum eine große Bedeutung für den “Entdeckungsprozess“ der islamischen Wirtschaftsideologie zumessen, denn er verkörpert einen Aspekt dieser Ideologie. Die Wirtschaftsideologie im Islam umfasst zwei Seiten: Einerseits den Bereich, den der Islam durch die Bestimmungen des islamischen Rechts [scharia] vollständig und in einer Form, die keinerlei Veränderung und Umwandlung zulässt, geregelt hat; der andere Bereich bildet einen Freiraum in der Ideologie, den auszufüllen der Islam dem Staat bzw. dem verantwortlichen Befehlshaber [wali-ul-amr] überlässt, und zwar mit Rücksicht auf die allgemeinen Ziele der islamischen Wirtschaft und deren Erfordernisse zu jeder historischen Zeit.

Wenn wir von einem “Freiraum“ sprechen, so meinen wir das im Hinblick auf das islamische Recht [scharia] und deren gesetzgeberische Textquellen, und nicht mit Blick auf die angewandte Praxis des Islam, wie sie die Umma zur Zeit des Prophetentums Muhammad (s.) erlebte. Denn der größte Prophet füllte diesen Freiraum mit Rücksicht auf die Bedingungen, unter denen die islamische Gemeinschaft seinerzeit lebte, und entsprechend den Erfordernissen der Ziele des islamischen Rechts [scharia] für den Bereich der Wirtschaft aus, auch wenn er diese Aufgabe nicht in seiner Eigenschaft als Prophet und Übermittler des göttlichen Gesetzes, das überall und zu jeder Zeit unverändert gültig bleibt, ausführte, so dass mit der speziellen Art und Weise, mit der gemäß Leben [sira] des Propheten diese Freiräume ausgefüllt wurden, Formeln von unveränderlicher gesetzlicher Verbindlichkeit geprägt worden wären, sondern er füllte den Freiraum in seiner Eigenschaft als verantwortlicher Befehlshaber [wali-ul-amr] aus, der seitens des islamischen Rechts [scharia] damit betraut ist, diese Aufgabe entsprechend den Umständen und Erfordernissen seiner Zeit wahrzunehmen. Wir wollen aus dem bisher Gesagten die folgenden Schlussfolgerungen ableiten:

·       Erstens: Eine Einschätzung der Wirtschaftsideologie im Islam kann nicht darauf verzichten, deren Freiraum in die Untersuchung miteinzubeziehen, und die Möglichkeiten, die dieser Freiraum bietet, zu würdigen, und zu überlegen, in welchem Maße das Ausfüllen dieses Freiraumes und der Bereich, der von Anfang an vom islamischen Recht [scharia] abgedeckt wurde, bei der Verwirklichung der Ziele der islamischen Wirtschaftsideologie zusammenwirken können. Wenn wir den Freiraum und dessen gewichtige Rolle vernachlässigen, so bedeutet das, die Möglichkeiten der islamischen Wirtschaft zu beschneiden, und nur die statischen und nicht die dynamischen Elemente in ihr zu sehen.

·       Zweitens: Die Verordnungen, mit denen der Prophet Muhammad (s.) den Freiraum der Ideologie in seiner Eigenschaft als verantwortlicher Befehlshaber [wali-ul-amr] ausfüllte, sind ihrer Natur nach keine immer gültigen Bestimmungen, denn der Prophet (s.) hat sie in diesem Fall nicht als Übermittler allgemeinverbindlicher, unveränderlicher Bestimmungen, sondern als Regent [hakim] und Statthalter [wali] der Muslime erlassen. Sie können also nicht als fester Bestandteil der Wirtschaftsideologie im Islam angesehen werden, aber sie beleuchten in hohem Maße die Art und Weise, in der der Freiraum zu jeder Zeit entsprechend den jeweiligen Umständen ausgefüllt werden muss, und erleichtern das Verständnis der grundsätzlichen Ziele, die der Prophet mit seiner Wirtschaftspolitik verfolgte, was hilfreich ist, um den Freiraum in einem zukünftigen Islamischen Staat immer mit Blick auf diese Ziele auszufüllen.

·       Drittens: Aus dem selben Grund ist die Praktizierung der im Islam enthaltenen Wirtschaftsideologie vollständig anhängen vom richtigen Herrschaftssystem, denn wenn kein Herrscher oder Regierungsapparat zur Verfügung steht, der mit den gleichen Qualitäten ausgestattet ist, wie es der größte aller Propheten war, (in dessen Eigenschaft als Regent, nicht als Prophet), kann der Freiraum der Wirtschaftsideologie nicht so ausgefüllt werden, wie es die islamischen Ziele den jeweiligen Umständen entsprechend erfordern würden, so dass es kaum möglich wird, die Wirtschaftslehre vollständig in die Praxis umzusetzen, in einer Weise, dass wir ihre Früchte ernten und ihre Ziele erreichen könnten.

Es ist offenkundig, dass es nicht die Aufgabe dieses Buches sein kann, das die islamische Wirtschaftsideologie untersucht, sich mit dem Regierungssystem im Islam zu befassen, bzw. mit den Eigenschaften der Personen oder der Art des Regierungsapparates, die jeweils als legitimer Nachfolger des Propheten (s.), mit dessen Kompetenzen als Befehlshaber und Regenten, geeignet wären, oder mit den Bedingungen, welche die jeweiligen Personen oder diese Institution erfüllen müssen. All das übersteigt den Rahmen dieses Buches. Deshalb werden wir in den detaillierten Untersuchungen dieses Buches die Existenz eines legitimen Regenten, dem der Islam die Ausübung der gleichen Herrscherkompetenzen, wie sie seinerzeit dem Propheten (s.) zukamen, gestattet, theoretisch voraussetzen, und diese Annahme wird die Erörterung der Wirtschaftsideologie und des Freiraumes in ihr, wie auch eine Vorstellung von den Zielen, die sie erreichen und den Früchten, die sie bringen kann, erleichtern.

Aber weshalb wurde in der islamischen Wirtschaftsideologie ein Freiraum gelassen, der nicht von Anfang an durch feststehende Bestimmungen seitens des islamischen Rechts [scharia] abgedeckt wird? Und welches Konzept rechtfertigt die Existenz dieses Freiraumes, und dass es dem Befehlshaber überlassen bleibt, ihn auszufüllen? Wo liegen im Übrigen, mit Blick auf die Belege der Rechtswissenschaft [fiqh], die Grenzen dieses Freiraumes? Wir werden alle diese Fragen in späteren Kapiteln beantworten.

© seit 2006 - m-haditec GmbH - info@eslam.de