Der Offenbarer

Zivilisation und Modernismus

Ali Schariati

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Charlie Chaplins Beispiel

Von allen Beispielen, die für die Erklärung dieses Problems erwähnt werden, ist das Beispiel, das Charlie Chaplin gebracht hat, am einleuchtendsten. Charlie zeigt in dem Film "Moderne Zeiten" einen Mann, der erst ein freier Mensch gewesen war, Gefühle besaß, seine Freundin liebte, seinen Vater respektierte, den alten Freunden, die ihn besuchten, Gefühle entgegenbrachte. Er fühlte die Not, konnte Kummer empfinden, er verspürte das Bedürfnis, jemanden sein Herz auszuschütten, er reagierte auf die Gegebenheiten und Nöte des Lebens auf verschiedene Weise, er hatte Fähigkeiten und Empfindungen unterschiedlicher Art.

Wenn dieser Mensch auf der Straße seine Mutter sah, empfand er Gefühle eines Sohnes, der nach langer Zeit seine Mutter wiedersah; wenn er einen Freund, den er lange nicht gesehen hatte, wiedersah, hatte er das Bedürfnis, mit ihm zusammenzukommen, sich nach seinem Befinden zu erkunden und ihm vom Leben und der Vergangenheit zu erzählen; wenn er seine Geliebte sah, empfand er Liebe und Zuneigung, wollte mit ihr zusammenkommen und über seine Gefühle und Empfindungen reden; wenn er den Feind sah, empfand er Hass: die abstoßenden und unheilvollen Erinnerungen der Feindschaft wurden wach. Er wollte kämpfen, ihn beleidigen und sich rächen. Er war schließlich ein Mensch und hatte mannigfaltige Bedürfnisse und Empfindungen; wenn er im Leben eine schöne Aussicht sah, bereitete sie seinem ästhetischen Empfinden Vergnügen. Das Hässliche erweckte in ihm das Gefühl des Abscheus und des Unheils. So reagiert ein natürlicher Mensch!

Dann geht er in einer Fabrik arbeiten. Eine Fabrik, von deren Größe und Kompliziertheit er sich kein rechtes Bild machen kann. Er weiß nicht, was dieser ungeheuer große Apparat von Menschen und Technik leistet und wie sie koordiniert werden. Er geht in ein Büro und legt einige Ausweispapiere und Lichtbilder vor, ihm wird gesagt, an wen und an welche Nummer er sich wenden soll. Er begibt sich in den Warteraum. In einem langen Flur wird er in ein Zimmer geführt, ein Herr zeigt ihm seine Arbeit. Was ist sie? Nichts besonderes. Ein großer Saal, in dem sich ein Metall-Fließband in regelmäßiger Geschwindigkeit fortbewegt. Das Band kommt von einer Seite des Raumes und führt in die anderen Räume, Anlagen und Abteilungen. Der Mann weiß nicht, woher das Band kommt, wohin es geht und warum er diese Arbeit leisten muss. 7-8 Leute stehen hier nebeneinander. Seine Arbeit besteht darin, dass er jede 3. Schraube auf dem Fließband einmal anzieht, die andere dritte Schraube auf dem Fließband einmal anzieht, die andere dritte Schraube zweimal anzieht, die andere dritte Schraube nur bis zur Hälfte usw. 8-9 Stunden setzt er diese Arbeit fort. Nach dem Gongschlag geht er nach Hause. Er macht sich keine Gedanken darüber, woher diese Schrauben kommen, warum er so arbeitet, woher das Band kam, wohin es ging, was er herstellt. Er kann sich keinen Reim auf die von ihm verrichtete Arbeit machen.

Die Leute, die neben ihm stehen, können überhaupt nicht miteinander reden, denn das Band bewegt sich mit solch einer Geschwindigkeit, dass keiner imstande ist, aufzublicken, sonst rast die Schraube vorbei, die Arbeit im Werk muss ruhen und der Betreffende wird bestraft und hinausgeworfen.

Der Mensch besteht aus 2 Augen, die auf Schrauben achten, seine menschliche Handlung besteht darin, die Schrauben einmal, zweimal oder bis zur Hälfte anzuziehen – sonst nichts.

Der Mensch ist aber ein Lebewesen, das u.a. die Eigenschaften hat, die von ihm verrichtete Arbeit abzuwägen. Bei der Wahl der Arbeit hat er eine Zielvorstellung, er wählt dieses Ziel nach seiner Vorstellung, und nachdem er die Wahl getroffen hat, bereitet er die Arbeit vor. Während seiner Tätigkeit hat er das Gefühl, dass er für dieses Ziel arbeitet. Abgesehen von diesem Gefühl, von diesem Bewusstsein seiner Arbeit gegenüber, hat er unterschiedliche Gefühle und Bedürfnisse.

Der Arbeiter, der in Chaplins Film dargestellt wird, hat sich noch nicht an die eintönige, eindimensionale mechanische Ordnung gewöhnt. Wenn seine Geliebte, seine Mutter, sein Sohn ihn während der Arbeit besuchen, verlässt er seine Schrauben, erkundigt sich nach ihrem Befinden, klagt über die Trennung, fordert sie zum Sitzen und Teetrinken auf.

Auf einmal sieht er Polizisten hineinströmen, die Warnlampen gehen an, die Inspekteure kommen herein.

Was ist passiert? Die Kontrollapparate haben festgestellt, dass eine Schraube ohne angezogen worden zu sein die Reihe passiert hat. Alles steht still – sie kommen und nehmen ihn fest: Was hast du angerichtet?

Bei einer einfachen, natürlichen, menschlichen Gefühlsregung von ihm stürzt die ganze Ordnung zusammen, d.h. unter den jetzigen Verhältnissen hat der Mensch nicht die geringsten Möglichkeiten zur Äußerung seiner Gefühle. Er passt da nicht hinein. Dieser gefühlsbetonte Mensch wird aber so an die Ordnung gewöhnt und so mechanisch erzogen, dass die Definition des Menschen, der Mensch sei ein sprechendes, liebendes, selbstbewusstes und schöpferisches Lebewesen, nach 20 Jahren Arbeit für ihn nicht mehr gilt.

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