Der Offenbarer

Zivilisation und Modernismus

Ali Schariati

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Kann man die europäische Zivilisation exportieren und übertragen?

Ist die Zivilisation eine Ware, die man aus- und einführen kann?

Nein! Die Modernisierung ist aber die Summe der modernen Waren, die man innerhalb mehrerer Jahre in eine andere Gesellschaft einführen kann. So kann man eine Gesellschaft innerhalb von einigen Jahren vollständig modernisieren. Genau so gut kann man einen Menschen innerhalb kürzester Zeit vollkommen modernisieren – moderner als die Europäer. Ändert man seine Verbrauchsgewohnheiten, so wird er modern; mehr verlangt man auch nicht.

So einfach kann man eine Gesellschaft aber nicht zivilisieren. Zivilisation und Kultur sind keine in Europa hergestellten Waren, die jeder haben könnte, um zivilisiert zu sein. Man hat uns aber eingeredet, dass die Zivilisation diese Dinge mit sich brächte. Wir haben alles, was wir hatten, aufgegeben – sogar unsere soziale Identität, unsere Moral und unsere geistigen Werte. Wir wurden in durstende Geschöpfe verwandelt, die bereit waren, alles aufzusaugen, was die Europäer ihnen vorsetzten. Das war eben der Modernismus.

Ein Mensch wurde geschaffen bar jeglicher Vergangenheit, dem seine Geschichte, seine Religion und alles, was seine Rasse, seine Ahnen geschaffen hatten, fremd war. Ihm sind seine eigenen menschlichen Eigenschaften fremd. Ein Mensch, dessen Verbrauchsgewohnheiten zwar verändert worden sind, dessen Denkweise jedoch nicht nur keine Änderung erfahren hat, sondern der die alten Gedanken und die Ästhetik und geistigen Werte der Vergangenheit einbüßte. Nach den Worten von Jean-Paul Sartre ist aus diesen Gesellschaften der assimilierte Mensch, d.h. der Pseudo-Denker und –Gebildete entstanden, nicht aber der Denker und Intellektuelle.

Ein Intellektueller ist derjenige, der seine Gesellschaft und ihre Probleme kennt, imstande ist, sein eigenes Schicksal zu bestimmen, weiß welcher Vergangenheit er gehört, welche die geistigen Werte seiner Gesellschaft sind und der seine eigene Wahl trifft.

Die Leute hörten mit gespannter Aufmerksamkeit den Pseudointellektuellen zu. Wer waren diese Pseudointellektuellen in den nicht-europäischen Gesellschaften? Sie waren Vermittler zwischen jenen, die eine Ware anzubieten hatten und denjenigen, die zu Verbrauchern dieser Ware geworden waren. Vermittler, die die Sprache des Europäers und die des Volkes verstanden und dem Europäer den Weg wiesen – „Wegweiser von Kolonialismus und Ausbeutung“.

Daher bildete man einheimische Intellektuelle heran. Intellektuelle, die es nicht wagen würden, eigene Entscheidungen zu treffen, die keinen Mut zur Unterscheidung und Entscheidung hatten, Intellektuelle, die nicht einmal sich selbst kannten.

So wurden in diesen Gesellschaften Menschen herangebildet, die als Mensch so heruntergekommen sind, dass sie nicht den Mut haben zu sagen, ob ihnen ein Getränk schmeckt, ob die Musik, die sie hören, das Kleid, das sie tragen, ihnen gefällt oder nicht. Sie sind nicht einmal sie selbst, um eine eigene Wahl zu treffen. Damit ihnen ein Anzug gefällt, muss man ihnen sagen, dass ein solcher Anzug gerne getragen wird. Sie trinken ein scheußliches Zeug – das ihnen nicht schmeckt – um es dem Europäer nachzumachen, wagen aber nicht zu sagen, dass es ihnen nicht schmeckt.

Dagegen begegnen wir in Amerika und Europa Menschen, die keine Jazzmusik mögen und unbefangen protestieren, wenn sie irgendwo gespielt wird. Im Orient wagt kein einziger Moslem zu sagen, dass die Jazzmusik nicht gut ist und ihm nicht gefällt; denn sie haben ihm nicht einmal so viel Menschenwürde übriggelassen, dass er den Mut hätte, die Farbe seiner Kleidung zu wählen und den Geschmack seiner Getränke selber zu bestimmen. Fanon bemerkt dazu: Damit sie die Europäer nachahmen, müssten den Nicht-Europäern bewiesen werden, dass sie dem westlichen Menschen in der Persönlichkeit nicht ebenwürdig sind. Man müsste ihre Geschichte, ihre Literatur, ihre Religion, ihre Kunst herabwürdigen und sie ihnen entfremden. Und wie wir gesehen haben, haben sie es geschafft. Sie haben Menschen herangebildet, die zwar ihre eigene Kultur nicht kennen, sie aber herabwürdigen; die den Islam nicht kennen, aber abfällig über ihn reden; die ein gewöhnliches Gedicht nicht ablesen können, aber die Dichter beschimpfen; die ihre eigene Geschichte nicht verstehen, sie aber verurteilen. Sie begeistern sich bedingungslos für alles, was aus Europa kommt.

So wuchs ein Mensch heran, dem seine Religion, seine Kultur, seine Geschichte und seine Vergangenheit fremd waren und der sie alle hasste. Nachdem er das glaubte, bestand sein ganzes Bestreben darin, sich selbst zu verleugnen und mit allem zu brechen, was ihm zugeschrieben wird. Er wollte unter allen Umständen dem Menschen gleich sein, der nicht so gering geschätzt wird; dann könnte er sagen, dass er Gott sei Dank kein Orientale mehr sei; sondern sich auf europäischer Ebene modernisiert habe.

Während der Nicht-Europäer froh ist, dass er ein moderner Mensch geworden ist, lacht dem europäischen Kapitalisten und Bourgeois das Herz, dass er Verbraucher seiner Waren geworden ist.

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