Gedichte im Islam
Das verlängte Frühgebet

von
Friedrich Rückert

Ali geht zum Frühgebete,
Eilend geht er auf der Straße,
Denn die Sonn’ ist noch am Aufgang,
Und er fürchtet’s zu versäumen.
Vor sich in der engen Gasse
Sieht er einen Greisen gehen,
Der gar langsam langsam schreitet;
Und aus scheu vorm Alter will er,
Wie er zum Gebet auch eilet,
Nicht voran dem Schwachen eilen.
Doch wie sie zum Bethaus kommen,
Geht der Alte dran vorüber;
Ein Ungläub’ger ists, um welchen
Er versäumt den Morgensegen.
Doch ins Bethaus eingetreten,
Sieht er auf den Knien andächtig
Noch die betende Gemeinde,
Den Profeten an der Spitze,
Der so lang ein Vaterunser
Dehnt als ob es zweie wären;
Volle Zeit hat Ali, ihnen
In der Andacht nachzukommen.
Ali selbst hat ausgebetet,
Als Mohammed sich, und seinem
Beispiel folgend, all’ erhoben.
Doch die Beter alle fragen
Den Vorbeter nun: Warum
Hast du’s heut so lang gemacht?
Und er sprach: Als ich vom Boden
Mich erheben wollte, kam
Gabriel, und legte seine
Flügel auf die Schultern mir,
Dass ich musst’ am Boden bleiben,
Und nicht ehr mich konnt’ erheben,
Bis er weg die Flügel hob.
Jene fragen: Ich fragt’ ihn nicht.
Aber ungefragt eröffnet’s
Gabriel: Es war für Ali,
Dass er nichts vor Gott versäumte
Durch die einem, zwar Ungläub’gen
Greis erwiesne Ehrerbietung.
Geht, die Sonn’ aus Morgenwolken
Säumte selbst hervorzugehen,
Bis nach Brauch vollendet wäre
Die verlängte Morgenandacht.

Aus: Sieben Bücher Morgenländischer Sagen und Geschichten

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